Rette uns, Elaine!. Inga Kozuruba

Rette uns, Elaine! - Inga Kozuruba


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Stadt einfach so, und sie konnte es beim letzten Mal einfach nur gut unterdrücken, weil sie darauf geachtet hatte und außerdem das Wohlwollen des Prinzen genoss? Das klang nach einer plausiblen Lösung.

      Elaine konzentrierte sich auf jeden Schritt, den sie tat. Sie sah nicht mehr nach Nummern. Sie wusste, es waren acht Stockwerke zu überwinden, bis sie unten im Erdgeschoss vor der Eingangstür ankommen würde. Es lagen zwei Mal dreizehn Treppenstufen zwischen jedem Stockwerk. So viel sie inzwischen gelaufen war, das wusste sie. Das waren 208 Stufen. Also begann sie zu zählen. Jedes Mal, wenn sie einen Fuß auf den unbehandelten Zement setzte, wurde die Zahl um eins kleiner. Sie machte sich jede Stufe bewusst.

      Unglaublich wie lang ein Abstieg dauern konnte, wenn auf solche Dinge geachtet werden musste. Elaine hatte das Gefühl, dass sie niemals fertig werden würde. Dieses Gefühl verbannte sie schnell aus ihrem Bewusstsein. Die Zahl wurde immer kleiner, also würde sie unten ankommen. Sie hangelte sich an der immer kleineren Zahlenfolge wie an Ariadnes Faden nach unten. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, dass sie nicht bemerkte, dass das gesamte Treppenhaus ebenso beschmiert war, wie der Gang der Wohnung. Die Treppen selbst jedoch waren so sauber, wie sie im Herbst sein konnten, und sie achtete auf nichts anderes. Vermutlich hätte die Welt um sie herum untergehen können, und sie würde weiterhin Treppenstufen zählen und das Ende der Welt so übersehen.

      Drei, zwei, eins, null. Sie war unten angekommen. In ihrem Kopf konnte sie förmlich das Ping hören, das ein Aufzug von sich gab, wenn er das Ziel erreichte. Sie lächelte, und ging auf die Ausgangstür zu. Sie klemmte, aber nicht lange. Elaine war froh darum. Sie hatte nicht vor, eine Tür wie Corry bedrohen zu müssen, damit sie den Weg freigab. Vermutlich hätte sie das gar nicht gekonnt. Alice, ja, aber sie war nicht Alice.

      Sie trat wieder auf die Straße hinaus. Sofort spürte sie den Nieselregen, aber er war eine Wohltat nach dem Blut. Er war angenehm, beruhigend, sogar tröstend. Sie verstand langsam, warum Corry den Regen so mochte. Wohin nun? Sie wollte sich noch nicht sofort mit dem Adjutanten oder der Agentin anlegen. Vor allem wusste sie immer noch nicht, wie sie die beiden voneinander trennen sollte. Sie schienen einander zwar nicht gemocht zu haben, als sie von Corry und Irony Beisitz ergriffen hatten, aber im Moment mussten sie zumindest so tun, als ob sie einander lieben. Und wer weiß warum sie damals so spät von Sir Basons Verhör zurückgekommen waren. Ein Mann, eine Frau, ein leerstehendes Haus und keine Skrupel vor irgendetwas. Da hätte alles passiert sein können.

      Elaine schüttelte den Kopf. Das half ihr im Augenblick überhaupt nicht weiter. Und was sollte sie tun, bis ihr eine Idee kam? Sie lächelte. Natürlich. Sie sollte zu Siren gehen und ihr sagen, dass der Familientyrann, der die Stelle ihres Mannes eingenommen hatte, zumindest vorläufig stillgelegt war. Außerdem mussten sie sich überlegen, was zu tun war, wenn Bill doch noch entkommen sollte.

      Elaine machte sich also auf den Weg ins Humpty Dumpty. Zuerst war ihr danach, eine Abkürzung zu nehmen, aber dann erinnerte sie sich an ihre Probleme mit dem Treppenhaus und ließ den Gedanken schnell fallen. Wenn ein paar Stufen ihr solche Probleme bereitet hatten, was würden erst Straßen und Kreuzungen tun können? Sie konnte sich sehr gut Irony vorstellen, während er sie darüber belehrte, welche Macht Straßen und vor allem ihre Kreuzungen hatten. Kein Wunder, dass sie damals die Straße markieren mussten, um zur Gräfin zu kommen. Wenn der Weg sie mitten durch die Hauptstadt geführt hatte, und sie sich so launisch und bockig wie immer gab, war es nötig gewesen. Ein Glück, dass sie sich damals nicht verlaufen hatten und noch rechtzeitig zur Gräfin gekommen waren.

      Gräfin Pepper war als Klatschbase bekannt. „Hm, vielleicht sollte ich ihr einen Besuch abstatten“, dachte sich Elaine. Womöglich konnte sie ihr hilfreich sein. Aber dazu später. Zuerst zu Siren. Elaine sah nach oben und seufzte. Natürlich war die Sonne nicht zu sehen. Natürlich wusste sie damit auch nicht, wie spät es war. Und diesmal hatte sie nicht einmal eine Armbanduhr um, aber vermutlich wäre sie sowieso stehen geblieben. Immerhin war es sicherlich nicht Teezeit. Auf verrückte Teegesellschaften hatte sie keine Lust, sie hatte schon genug Tee in dieser Stadt getrunken. Es war bei Kryss zumindest etwas besonderes gewesen, auch wenn ihr damals eine Vision einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Sie schmunzelte, während sie dem bekannten Straßenverlauf folgte.

      Sie spürte, wie etwas sich dagegen sträubte, sie den richtigen Weg folgen zu lassen. Sie war zwar nie auf einem Pferd gesessen, aber die störrischen Brücken waren sicherlich ein guter Vergleich. Jede Kreuzung, die sie überquerte, jede Seitengasse, an der sie vorbeikam, jedes größere Haus mussten auf ihren Platz gezwungen werden. Elaine hatte zwar diese Besonderheit der Hauptstadt inzwischen akzeptiert, aber noch lange nicht lieb gewonnen. Dann wiederum, selbst den Einheimischen ging es in dieser Hinsicht oft nicht anders, also musste sie keine Schuldgefühle diesbezüglich haben. Wieso hatte sie überhaupt welche? Toleranz gegenüber Leuten war eine Sache, aber Stände waren nun wirklich etwas anderes!

      Also hatte nicht nur der Tornado, sondern die Hauptstadt selbst eine Art Bewusstsein? Elaine würde sich nicht wundern, wenn dem so wäre. So wie es im Moment aussah, stimmte diese Annahme auch.

      Elaine knurrte leise: „Stell dich nicht so an, Mädchen. Ich will nur ein paar Freunde besuchen, weiter nichts. Ist ja nicht so, dass ich dich damit einreißen würde.“

      Ob es nun die Stadt selbst oder etwas anderes war, sie schien dennoch der Meinung zu sein, dass dem genauso kommen würde. Zumindest gab sie nicht ein wenig nach. Also musste Elaine weiterhin zähneknirschend aufpassen, wohin sie ging und ob alles seine Richtigkeit hatte.

      Sie hatte zwar vorher nie so genau auf Häuser geachtet, aber es schien ihr, als ob sie Hilfe dabei hatte. Wie auch immer es geschah, zu jedem Haus, zu jeder Kreuzung und Seitengasse fielen ihr plötzlich Dinge ein, die sie auf ihrem Platz festhalten konnten. Es war fast so, als ob ihre Freunde ihr von Dingen erzählten, die sie in dieser Stadt, in diesen Straßen erlebt oder gesehen hatten. Manchmal waren es Kleinigkeiten. Da oben, im dreizehnten Stock, war eine Wohnung, in der es angeblich spukte. Sie war nicht bewohnt, aber dennoch hörten die Nachbarn darunter nachts Geräusche, als ob jemand aus einem Bett oder Sessel aufsprang und mit lauten Schritten in der Wohnung herumlief. Manchmal hieß es, es klang, als ob jemand heftig über ein Problem nachdenken musste. Manchmal so, als wäre er gefangen. Vielleicht traf auch beides oder gar nichts zu.

      An einer anderen Stelle lag eine Eisdiele, in der Leo sich damals gerne mit Malvina abgesetzt hatte, solange Corry und Irony worüber auch immer miteinander stritten. Sie hatte um diese Jahreszeit leider keinen freien Eisverkauf mehr, aber im Cafe selbst bekam man es das ganze Jahr über. Für sie war Leo zu dem Zeitpunkt schon lange zum neuen Vater geworden, auch wenn er sich ihr gegenüber stets als Kumpel gab. Selbstverständlich bevorzugte sie blaue Eissorten – Blaubeeren, Pflaumen und exotischere Namen, von denen Elaine nie etwas gehört hatte. Wobei Gelb gleich an zweiter Stelle kam – Vanille, Banane, Zitrone, Ananas und noch viele mehr. Zu dumm nur, dass Elaine wieder einmal keine Zeit und kein passendes Geld bei sich hatte. Sie hätte gern einen Becher probiert.

      So ging es weiter, Stück für Stück. Langsam kam sie der Kneipe immer näher. Sie konnte sie schon sehen. Elaine fixierte das Gebäude mit den Augen und marschierte weiter. Jetzt würde es ihr nicht mehr entwischen. Augenblicklich stellte sich bei ihr das Gefühl ein, als ob sie angeln würde. Ihr Blick war der Haken und die Schnur, das Haus war der Fisch, und ihre Konzentration zog die Beute immer näher, während sich ein Fuß nach dem anderen bewegte und ihren Körper ans Ziel brachte.

      Sie atmete erst dann erleichtert auf, als sich ihre Hand auf den Türknauf gelegt hatte. Jetzt nur noch daran denken, dass du auch ins richtige Innenleben kommst, und dann ist alles bestens. Langsam drückte sie die Tür nach innen. Ja, das war die Kneipe wie Elaine sie verlassen hatte. Schnell sprang sie rein und schloss die Tür hinter sich zu.

      „Was ist los? Du wirkst so gehetzt. Es ist doch nicht etwas passiert?“, hörte sie Sirens besorgte Stimme. Sie saß immer noch oder schon wieder genau dort, wo Elaine und Bill sie verlassen hatten.

      Elaine lächelte: „Nein, er ist nicht hinter mir her. Das heißt, eigentlich schon, aber nicht jetzt.“

      Siren wirkte nicht beruhigt, also erläuterte Elaine genauer: „Er liegt im Moment gut verschnürt und hinter Schloss und Riegel. Ich hatte etwas Hilfe.“

      Siren


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