Rette uns, Elaine!. Inga Kozuruba
Boos Körper in Besitz hatte, dann vielleicht. Jetzt mir Sicherheit nicht mehr. Er war kein Ausländer, so viel stand fest.
Ihr kam eine Idee. „Du sagst, ich treffe Leo und Siren im Humptys?“
Er nickte: „Ja. Von mir aus können wir da gleich hin.“
„Okay. Mir ist noch etwas eingefallen. Ich brauche was aus Corrys Zimmer.“
Er zog eine Augenbraue hoch: „Okay. Ich hab’ ihren Schlüssel.“
Er öffnete ihr das Zimmer, das so verwaist aussah wie Elaine es erwartet hätte. „Ich weiß nicht mehr so genau, wo ich das Teil gesehen hab’. Hilfst du mir suchen?“
Er kam ins Zimmer: „Klar. Wie sieht es aus?“
Elaine warf einen Blick in den Spiegel, in dem sie schon einmal die Tiefe gesehen hatte. Ihr Spiegelbild grinste sie so hinterhältig und zugleich unschuldig an, wie sie es von ihrem letzten Besuch in der Hauptstadt in Erinnerung hatte, und nickte ihr zu. Sie konnte darauf zählen.
Elaine sah zum falschen Boo: „Machst du bitte die Tür zu, Süßer?“
Er blinzelte erstaunt, tat aber was sie wollte: „Was... was wird das?“
Sie schmunzelte: „Weißt du... ich hab’ hier was gelernt. Chancen sollte man sich nicht entgehen lassen.“
Er sah sie immer noch fragend an.
Sie kicherte: „Ach komm schon Boo, glaubst du, ich habe vergessen, was du alles gelernt hast? Wenn das Massieren der Schultern schon so gut war, wie sieht es dann mit allem anderen aus?“
Jetzt verstand er. Ein Grinsen kam über sein Gesicht: „Sag doch gleich, was du willst. Und wieso hier?“
Elaine schmunzelte: „Wegen der Schwingungen. Das Zimmer ist sexy, findest du nicht?“
Er sah sich um: „Wenn du meinst. Das Bett hat was.“
Elaine grinste: „Ich meinte vor allem den Spiegel.“
Sein Grinsen wurde breiter: „So eine bist du also. Was alles hinter der braven Fassade steckt. Oder hat dich der Graf auf den Geschmack gebracht?“
Sie stellte sich nur vor den Spiegel und lockte ihn mit dem Finger an. Er kam auf sie zu. Sie zog ihn an sich und bemerkte eindeutig, dass es nicht Boo war. Selbst in der Zeit, in der er um den Schein zu wahren alles darum gab, sie zu kriegen, fühlte er sich anders an. Es war nicht Boo. Eindeutig nicht. Und Elaine tat das, was sie als nächstes tat, überhaupt nicht leid.
Sie wand sich aus seiner Umarmung, gerade als er ihr einen Kuss aufdrücken wollte, und stieß ihn gegen den Spiegel. Er sah sie mit einer Mischung aus Überraschung und Wut auf seinem Gesicht an, als ein weiteres Paar Arme sich um seinen Körper legte und ihn in den Spiegel zog. Er klammerte sich an den massiven, im Jugendstil gearbeiteten Metallrahmen, aber der Zug an ihm war stärker. Es ging nur um Willenskraft.
„Du Schlampe! Ich bringe dich um! Ich bringe dich um!“, hörte sie ihn noch schreien, bevor auch sein Gesicht hinter dem Glas verschwand.
Fasziniert und entsetzt zugleich sah Elaine, wie ihr spiegelbildlicher Zwilling ihren falschen Freund auf das Bett stieß. Er war gefangen in ihrem Blick, wie das Kaninchen vor der Schlange. Woher auch immer sie es wusste, plötzlich hatte das Spiegelbild Seile in den Händen. Sie verschnürte Boo so professionell, dass Elaine Gänsehaut beim Zusehen bekam. War das auch etwas, das in ihr selbst schlummerte, oder lag das alles nur daran, dass dies der Spiegel von Corry war?
Elaine kam der Gedanke in den Kopf, dass sie diesem Zwilling einen Namen geben sollte. Vielleicht könnte sie nun ein Spielchen mit ihrem Nachnamen machen. Aus Ellis wird Alice. Alice hinter dem Spiegel. Elaine schmunzelte. Alice warf ihr eine Kusshand zu. Anscheinend gefiel ihr der Name.
Elaine schmunzelte. „Wirst du auf diesen Mistkerl aufpassen, solange ich weg bin?“, fragte sie mit ihren Lippen. „Mach dir keine Sorgen, Schatz. Er ist gut verschnürt“, antwortete sie ebenso.
„Schau mal, ob er irgendwo die Schlüssel zu der Wohnung bei sich hat.“
Alice nickte und durchsuchte den Gefesselten unsanft. Dann flog ein Schlüsselbund durch das Glas in Elaines Hände.
„Sperr bitte ab, wenn du gehst, Ellie. Nicht, dass jemand hier rein kommt, der nicht sollte. Du musst das Schloss versiegeln, damit niemand falsches hier Eintritt bekommt.“
Elaine nickte. Sie wollte nicht wissen, was Ivanas oder ihr Spiegelbild anstellen könnten. Corry würde sie vermutlich nicht abhalten können, aber Corry war nicht da. Sie nickte Alice noch einmal zu und verließ das Zimmer, ohne auf die stummen Schreie des Narren zu achten. Der Schlüssel drehte sich bis zum Anschlag im Schloss zum Zimmer, dann im Schloss zur Eingangstür. Jede Drehung wurde von Elaine mit einem Gedanken versehen. Kein ungebetener Gast würde sich zu diesen Räumen Zutritt mehr verschaffen. Und schon gar nicht jemand, der das Leben anderer stahl.
Sie machte sich auf den Weg nach unten, diesmal ganz normal über die Treppe. Sie musste niemandem mehr beweisen, was sie konnte. Laufen machte ihr Spaß. Sie wünschte nur, sie könnte jetzt wie an ihrem ersten Abend in der Hauptstadt mit Boo und Leo zusammen in die Kneipe losziehen. Doch dazu würde es erst einmal nicht kommen. Sie musste nach Leo sehen. Sie musste sicherstellen, dass wenigstens er in Ordnung war. Selbst wenn er wusste, dass mit seinen Freunden etwas nicht stimmte, er hätte nichts riskiert. Er hatte eine Familie für die er sorgte und um die er sich sorgte. Er würde vorsichtiger vorgehen – und vielleicht war er noch er selbst.
Auf dem Weg nach unten ging sie noch einmal den Inhalt der Taschen durch. Schlüssel in der Jeans. Füller von Irony, Leos Köder und die Murmel von Boo in der Innentasche der Lederjacke. Nur das Fotoalbum hatte sie nicht bei sich, aber das brauchte sie hier nicht. Sie erinnerte sich an jedes Detail als wäre alles erst gestern passiert. Und außerdem hatte sie eine der Rabenfedern in einer Tasche gefunden. Eine der Federn, die sie sich auf der Jagd nach Corry eingesteckt hatte.
Sie stand auf der Straße und sah sich um. Es regnete wieder – oder immer noch, das wusste sie nicht – aber nicht mehr so stark wie bei ihrer Ankunft. Nieselregen war nicht schlimm, und der Wind hatte auch nachgelassen. Sie fragte sich, wie das Waldviertel inzwischen aussah. Oder was aus dem Dschungel geworden war. Man schien beim Aufbau wenig verändert zu haben, obwohl sie den Prinzen sehr progressiv erlebt hatte.
Immerhin hatte die Sache auch etwas Gutes. Sie würde keine Karte brauchen, um zum Humpty Dumpty zu kommen, darin war sie sich sicher. Sie war schon oft genug dort gewesen. Sie fragte sich, wie der Laden sich unter Leos Führung machte. Oder war das alles ein Riesenschwindel? Dann wiederum, sie hatte bisher keinen Hinweis darauf bekommen, dass Leo in der Tiefe war wie die anderen. Zumindest bei der Maskerade letztes Mal hatte er sich gut raushalten können. Vielleicht hörte er auch diesmal auf seinen Instinkt.
Ihre Füße trugen sie wie selbstverständlich zur Kneipe. Hätte sie nicht gegrübelt während sie ging, dann hätte sie gemerkt, dass sie gelaufen war und mit ihrer Geschwindigkeit problemlos mit der Straßenbahn mithalten konnte. Ihr wäre auch aufgefallen, dass sich auch ansonsten wenig auf den Straßen verändert hatte. Sie waren noch immer von grauen Anzugträgern beherrscht, von Behördendrohnen, nicht von Menschen. Als ob es gar keine normalen Leute gab. Oder nahmen sie alle andere Wege?
Elaine erwartete nicht, dass um diese Zeit im Humpty Dumpty viel los sein würde. Sie rechnete vielmehr damit, dass nur ein paar wenige Stammgäste da sein würden, vielleicht um zu frühstücken, oder einfach nur um mit Leo oder Siren zu reden. Sie war jedoch überrascht, die gähnende Leere vorzufinden, die ihr still entgegenschlug, als sie die Tür öffnete. Die Kneipe wirkte wie ausgestorben. Elaine ging leise rein und schloss hinter sich die Tür.
Die Kneipe sah so aus wie früher. Nur war sie wesentlich sauberer als zuvor. Immerhin ein Fortschritt. Auch wenn es die Leute früher nie gestört hatte, wenn dem nicht so war. Dann wiederum, wenn Leo das Gästezimmer so penibel sauber gehalten hatte, wie hätte es anders sein sollen? Sie ging leise zwischen den Tischen durch zum privaten Bereich. Je näher sie der Tür kam, umso klarer wurde ihr, dass dahinter jemand war. Ein Mann und eine Frau. Sie stritten sich.