Das Halbmondamulett.. Jens Petersen
Auch waren da eine Fülle von Eindrücken und Worten, die ich bemüht war in das, was ich für so etwas wie das Wachbewusstsein hielt, hinüberzuretten. Und gerade diese irritierten mich umso mehr, wusste ich doch kaum etwas damit anzufangen.
„Du scheinst ja mal wieder ziemlich zäh verhandelt zu haben“,
witzelten sie. Ach ja, die Höhlen fiel es mir jetzt wieder ein, die müssten denken, ich hätte nur versucht den Mönch wegen der Erlaubnis so lange zu überreden.
„Damit wird wohl nichts“,
entglitt es mir, immer noch geistesabwesend. Erst der Schreck holte mich wieder in die Gegenwart, als sie irgendetwas von beinahe zweieinhalb Stunden erwähnten. Aber darauf versagte ich mir etwas zu entgegnen, war ich doch selber um eine Antwort verlegen, denn ich meinte, ich wäre nur einige Minuten bei dem Mönch gewesen. An seltsamen Kuben aus aufgeschichteten Steinen kamen wir vorbei. Für ein Bauwerk waren sie entschieden zu klein und obendrein ohne Türen und Fenster. Dennoch wohnten Mönche darin, die sich hatten einmauern lassen. Durch eine winzige Öffnung schoben Novizen ihnen einmal täglich Nahrung hinein und nahmen das leere Geschirr zurück. Sie waren angewiesen, sich dabei jeglicher Rede zu enthalten.
Wohin man auch ging, immer wieder stand man bald am Abgrund, eine abrupte Grenze ohne Mauer oder Geländer. Übergangslos endete diese Welt der Zurückgezogenheit. Wie eine Insel schwebte sie hoch in den Lüften, in einem Ozean von bizarren Bergen, dessen Ende in keiner Richtung abzusehen war.
Bei Sonnenuntergang saßen wir an der Westseite des Abgrundes und blickten schweigend in die Ferne. Uns wurde auf einmal bewusst, wie wenig wir geredet hatten seit wir hier waren. Es bestand auch kein Bedürfnis. Jeder schaute in die Weite und horchte in die Stille. Meilenweit segelte der Blick durch leeren Raum bis er auf das erste Objekt traf, den gegenüber liegenden Berghang. Danach schob sich eine Kulisse von Bergen hinter die andere. Zu dieser Abendstunde wurden wir gewahr, dass es noch andere Wesen auf diesem Eiland gab. Meerkatzen näherten sich, uns neugierig betrachtend, gefolgt von Murmeltieren. Ihre Unbefangenheit sagte vieles über die eineinhalb Jahrtausende des Zusammenlebens mit Menschen auf engstem Raum. Und das, obwohl Murmeltiere des Teufels waren, wie uns die Novizen aufklärten.
Wegelagerer, Magier, Lustschlösser und die Lust der Sprachlosigkeit
Vor der Weiterfahrt nach Süden stiegen zwei mit Karabinern bewaffnete und Patronengurten umhangene Polizisten zu, zum Schutz gegen die Schiftas.
„Die Aussicht auf einen Schusswechsel an irgendeinem einsamen Hinterhalt finde ich ungemein beruhigend“,
kommentierte O-Chang. Noch jemand wachte über unser Heil, mit Argusaugen war Amhar dahinter, dass wir keinen Cent zuviel zahlen mussten, auf dass sich jeder korrekt verhielt, sei er nun Busfahrer, Kellner, Hotelier oder wer auch immer. Für unsere Verhältnisse ließ es sich äußerst preiswert hier leben. Gerade das aber wollten wir nicht zur Schau stellen, nicht zuletzt weil einfältige Ausländerfreunde Amhars Stolz ebensolche Pein verursacht hätten wie neppende Landsleute. In schier nicht enden wollenden Kehren ging es hinunter in das Tal des Terkazeflusses bis auf nur 500 Meter über dem Meeresspiegel. Auf der anderen Seite begann die Provinz Begemder mit einem noch längeren Aufstieg über Serpentinen bis zum 2800 m. hohen Wokefitpass. Die Berglandschaft wurde immer wilder und grandioser.
Hinter einer der zahllosen Kurven, von denen die dreiundfünfzigste ebenso aussah wie die erste, und die stets den gleichen Ausblick boten auf schroffen, erhitzten Stein mit ein wenig verdorrtem Gras und Gestrüpp dazwischen, welcher an der Felskante der nächsten Kurve unweigerlich endete, stoppte der Bus ruckartig und stellte sein Schnaufen ein. Alle sprangen auf und rannten nach vorn. Außer dem Summen von Fliegen war plötzlich nichts zu hören. Auf dem Schotter der Piste stand ein vom Rauch geschwärzter Bus. Eine Garbe Einschusslöcher im Blech oberhalb der Fensterreihe war als deutliche Perforationslinie zu erkennen. Am Straßenrand daneben hockten zwischen ihren Gepäckstücken einige Passagiere. Die ohne Gepäck oder mit nur wenigem, tragbaren hatten es vorgezogen zu Fuß weiter zu ziehen. Auch die Schiftas waren längst, wenn nicht über alle Berge, so doch über den nächsten, von wo ab es bereits ziemlich aussichtslos war, sie zu verfolgen. Sie waren diesmal politische, zum Glück der Passagiere. Niemand wurde beraubt, die Herren Wegelagerer gaben sich sogar zuvorkommend höflich. Jeder wurde über die hohen Ziele ihrer Bewegung aufgeklärt und Ortsfremde ermahnt, nicht mehr die Provinz Erithrea zu besuchen - jedenfalls solange sie noch nicht befreit wäre - durch die Vortragenden, versteht sich. Zum Abschluss durften alle dem Anzünden des Busses und dem Absingen einiger Befreiungslieder beiwohnen.
Die Passhöhe bot eine endlos anmutende Aussicht über die Semienberge bis auf den 4555 m. hohen Ras Dedschan. Wieder hinab ging es in eine weiträumige, liebliche Landschaft, eingefasst von den verschiedensten manchmal recht bizarren Bergformen wie Kegeln, Kuppeln, steil herausragenden Stiften und Zuckerhut ähnlichen Gebilden.
Wir waren seit dem Mittagessen in einem dieser kleinen Speiserestaurants noch nicht weit gekommen, als in einem kleinen Ort erneut ein längerer Aufenthalt angesagt wurde. Wegelagerer schieden als Ursache aus, diesmal war es einer der Passagiere, der, wie er überzeugt war, mit dem Recht an seiner Seite, sich weigerte zu zahlen. Aufs Ausgiebigste dargelegte Argumente standen in Aussicht, und man schickte nach einer Amtsperson. Die Wartezeit schien nicht in Betracht zu fallen, und ein Ende war bei weitem noch nicht abzusehen.
Vor einigen Häusern fiel uns ein Stab auf, gut sichtbar in die Erde gesteckt mit einem umgestülpten Becher darüber. Eher wissensdurstig näherten wir uns einer hinter Stab und Becher offenstehenden Tür. Eine Frau kam uns entgegen, Amhar brauchte nicht zu übersetzen, ihre Gesten waren unmissverständlich. Als wir den schlichten, weißgekalkten Raum betraten, sahen wir schon vier Männer an dem einzigen, langen Holztisch sitzen. Sie deuteten freundlich an, doch neben ihnen Platz zu nehmen. Der Becher auf dem Stab, übersetzte jetzt Amhar, bedeutete nichts anderes, als dass frischgebrautes Tedsch zum Ausschank bereit stünde. Der erzwungene Aufenthalt schien, wie so oft gerade das Unvorhergesehene, noch etwas bereit zu halten. Höchst verheissungsvoll funkelte das hereinfallende Sonnenlicht in der goldgelben Flüssigkeit der bauchigen, kleinen Flaschen mit dem engen Hals.
Tedsch sollte ein Honigwein sein, und seine Beschreibung erinnerte an die des alten, germanischen Mets. Neben den Flaschen standen kleine Emaillebecher. Ein Löwe war darauf abgebildet, der ein Kreuz schulterte und den unteren Balken mit der rechten Tatze umfasst hielt. Ein in den letzten Tagen häufig gesehenes Symbol, der "Löwe von Juda", Wappen des Landes und Titel seiner Kaiser.
Beim Anstoßen mit den vier Männern stellte sich heraus, dass einer Englisch sprach. Was als arglos gemütliche Plauderei angefangen hatte, sollte sich unerwartet zu einem immer fesselnderen Gespräch entwickeln. Anfänglich hatten wir sie, der sehr einfachen auf dem Lande üblichen Kleidung wegen, für schlichte Dörfler gehalten. Nun erschienen uns die Vier erstaunlich gewandt und von einer ungewöhnlichen Selbstsicherheit. So nahm das Unerwartete seinen Lauf, als wir beiläufig vermuteten, sie wären wahrscheinlich Kaufleute auf der Durchreise. Sie sahen sich kurz an mit sparsamen Lächeln, aber einem merkwürdigen Glitzern in den Augen. Anschließend musterten sie uns eine Weile nachdenklich, als gäbe es da irgendetwas zu überlegen.
„Nein“,
sagte gedehnt schließlich der Eine, immer noch mit diesem unerklärlichem Lächeln.
„Ich muss euch enttäuschen, ihr liegt mit eurer Vermutung weit daneben. Wir sind alle Vier Silberschmiede.“
Aller Augen richteten sich in diesem Moment auf Amhar, der von einem plötzlichen Unbehagen befallen, nervös auf der Bank hin und her rutschte. Die hereinbrechende Stille war ihm dabei alles andere als hilfreich. Bevor wir noch etwas zu seiner Beruhigung sagen konnten, setzte unser Gegenüber das argloseste Gesicht auf, um sich die Frage zu gönnen:
„Habt ihr eine Ahnung, warum euer Freund auf einmal so nervös wird?“
„0h ja“,
nahmen wir das Spiel auf,
„und wir wissen sogar noch mehr.“
„So, was denn?“
„Dass