NY Phönix. U. Kirsten
kann. Mit einem riesigen Satz ist er oben angelangt. Die Spinne hat ebenso ihre Geschwindigkeit beibehalten und macht einen gewaltigen Sprung. Im Gegensatz zu Lenny weiß sie jedoch nicht, was sie hier oben erwartet. Mit der vollen Energie des Sprungs kracht sie gegen die Basaltsteine des gewaltigen Brunnens, der ihnen hier den Weg versperrt. Lenny muss grinsen. „Sorry Monster. Das war ein eindeutiger Heimvorteil. Die Tarantel hängt vom Beckenrand des mannshohen Brunnenbeckens. Die Schlangenarme zucken im Wasser des Bassins. Eines der Spinnenbeine hängt schlaff über dem erregten Gesicht eines steinernen Wasserspeiers. Lenny sieht, dass der Chitin-Panzer aufgeplatzt ist. Blut und Schleim rinnen aus dem verformten Hinterteil der Vogelspinne und laufen in kleinen Rinnsalen in das Brunnenbecken. Das Wasser verfärbt sich langsam rot. „Lenny seufzt und entringt sich ein: „Danke Josephine!“ Josephine ihrerseits bleibt diesem emotionalen Gefühlsausbruch kühl, reserviert und versteinert gegenüber. Das Rosa des Granits steht ihr gut. Dankbar betrachtet Lenny den 100 Jahre alten Brunnen, der ihm das Leben gerettet hat. Er war nach Josephine Shaw Lowell benannt. Und Josephine hatte bereits zu ihren Lebzeiten den Menschen beigestanden, die in Not waren. Sie war eine engagierte Sozialarbeiterin und New York hat ihr als erste Frau mit diesem Brunnen ein Denkmal gesetzt. Lenny entspannt sich ein wenig und lässt seinen Blick über den Bryant Park schweifen. Der Park ist zwar im Verhältnis zum Central Park verhältnismäßig klein aber dafür sehr zentral gelegen, im Herzen von Manhattan. Er ist beliebt bei den New Yorkern und wird für unzählige öffentliche Veranstaltungen genutzt. Im Winter gibt es eine große Eisfläche auf dem Rasen, auf der Einheimische, wie Touristen beim Eislaufen ausgelassen ihren Spaß haben. Im Hochsommer werden im Park jeden Montag auf einer riesigen öffentlichen Leinwand Filme gezeigt. Die New Yorker machen auch aus dieser Gelegenheit ein Happening. Lenny war an einem dieser Filmabende mit seinen Eltern und seiner Schwester Mati. Sie saßen auf einer, auf dem Rasen ausgebreiteten Decke und genossen den warmen Sommerabend. Die Skyline, der den Bryant Park umschließenden Wolkenkratzer, war einzigartig. Wenn Lenny sich auf den Rücken legte, konnte er einen wunderbaren Sternenhimmel genießen. Lenny erinnert sich, dass sie an diesem Abend den Film „König der Fischer“ gesehen hatten. Zwei großartige Schauspieler brillierten in dieser Geschichte, die natürlich in seiner wunderbaren Heimatstadt New York handelte. Jeff Bridges spielte den überheblichen Radiomoderator auf seinem Weg der Selbstfindung und Robin Williams den verrückt gewordenen, gefallenen Engel, der als Bettler auf der Suche nach dem heiligen Gral den Central Park durchstreift. Lenny hatte sich den Film immer und immer wieder mit seinem Vater angeschaut. Sie waren beide Film-Freaks und zelebrierten gemeinsam die häuslichen Filmabende. Während sich seine Mutter und Mati das „Supermodel“ reinzogen, lagen er und sein Vater im Schlafzimmer auf dem Bett und schauten stundenlang die Starwars-Reihe oder Quentin Tarantino Kultfilme. Aktuell hatten sie sich zum Ziel gesetzt, alle 23 James Bond Filme der Reihe nach zu konsumieren. Sie machten es sich zum Spaß, die Geheimagenten Sean Connery, Roger Moore, Timothy Dalton, Pierce Brosman und jetzt Daniel Craig an der Anzahl ihrer Gespielinnen und der Vielzahl ihrer beseitigten Kontrahenten zu messen.
Lenny ruft sich ins Gedächtnis, dass er noch immer in Gefahr ist. Eventuell war ihm die restliche Sippe der Vogelspinnen auf den Fersen und diese würden bald hier eintreffen. Ihnen würde sicher nicht gefallen, was er mit ihrem Artgenossen angestellt hatte. Am Ende des Bryant Parks grenzt die New Yorker Öffentliche Bibliothek. „Ich werde mich dort erst einmal in Sicherheit bringen, bis sich wieder Menschen auf der Straße zeigen“, denkt er bei sich. Mit einem Satz ist er wieder auf seinem metallicblauen Mountainbike und folgt dem Kiesweg, der um den großen, rechteckig angelegten, grünen Rasen herumführt. Er muss mehreren Klappstühlen ausweichen, die hier und da zum Platz nehmen einladen, nun aber auf dem Kiesweg kreuz und quer den Weg versperren. Er kommt an einem der vielen Denkmäler vorbei, die hier im Park eine Heimstatt gefunden haben. Lenny nickt dem Freiherrn von Goethe aufmunternd zu. „Die Leiden des jungen Lenny werden ein positives Ende finden, darauf kannst Du wetten.“ Johann Wolfgang zuckt mit keiner Wimper, als er an ihm vorbeifährt. An Lennys Ohr dringt Musik. Es ist eine französische Kabarett Melodie. Er folgt den verführerischen Klängen. Ein wunderschönes, altmodisches Kinderkarussell steht am rechten Rand des Parks unter grünen Platanen. Lennys Blick bleibt an den farbigen, hölzerner Pferdchen, Katzen und Hasen die sich ausgelassen im Kreise drehen, hängen. Blaue Schmetterlinge und Engelsgesichter sind am barocken Dach des Karussells angebracht. Kein Mensch ist zu sehen und trotzdem ist es hell erleuchtet und die Musik spielt ausgelassen. Die Szenerie ist traumhaft schön und doch bizarr. Lenny umrundet diesen Traum seiner Kindheit. Er erinnert sich, dass seine Eltern ihn früher nur unter Geschrei und vielen Tränen von den hölzernen Pferdchen herunterholen konnten. Lächelnd radelt er weiter. Er kommt zu einer Treppe, die zur Straße hinunterführt. Unten angelangt, hält er sich nach links. Er passiert das Bryant Park Hotel zu seiner rechten Seite. Viele New Yorker meinen, dass dieses, teils im gotischen, teils im Art-Deco- Stil erbaute Gebäude, eines der schönsten der Stadt sei. Als es jedoch 1924 erbaut wurde, waren viele Anwohner von dem schwarzen Monolith geschockt. Für diese muss es zu dieser Zeit wie ein unbekanntes, schwarzes Wesen aus dem All angemutet haben. Stanley Kubrick hatte 2001 in seinem Kult-Film „A Space Odyssey“ ebenso einen schwarzen überdimensionalen Monolith seinen Film-Urmenschen zur geistigen Verdauung vorgesetzt. Der Architekt Raymond Hood, der an der Beaux-Arts Schule in Paris studiert hatte, besänftigte jedoch das verwöhnte Auge der New Yorker mit goldenen Ornamenten und Verzierungen. Das Resultat war eine moderne gotische Kathedrale, die sich selbst hinter dem Empire State Building, in dessen raumnahen Schatten es steht, nicht verstecken musste.
Ein schrilles, metallisches Kreischen reißt Lenny aus seinen Gedanken. Er blickt über seine Schulter und was er sieht, lässt sein Herz fast stocken. Etwa 200 Meter hinter ihm, auf dem Americas Boulevard, registriert er eine Herde von Vogelspinnen. Sie haben ihn anscheinend ebenso entdeckt und heften sich nun an seine Fersen. „Gott, lass es nur ein Alptraum sein!“ entfährt es Lenny. Er steigt in die Pedalen seines Bikes und gibt seine letzten Kraftreserven.
Schon ist er an der Kreuzung zur 5th Avenue. Er springt nach links auf den Bürgersteig und radelt an der Vorderfront der NY Public Library entlang. Vor dem Haupteingang des imposanten, antiken, aus weißem Marmor erbauten Gebäudes thronen zwei überdimensionale, majestätische Löwen, bereit zum Sprung, um jeden unerwünschten Gast mit ihren Klauen zu zerreißen. Lenny kennt ihre Spitznamen. Die Namen „Geduld“ und „Tapferkeit“ hatten sie von einem der vielen New Yorker Bürgermeister bekommen. „Ja davon kann ich jetzt eine Menge gebrauchen“. Lenny schmeißt sein Mountainbike auf den Bürgersteig. Im Gebäude würde ihm das Rad nichts mehr bringen. Zu Fuß war er flinker und konnte sich schneller verstecken. Zwei Stufen auf einmal nehmend, springt er die breite Treppe empor. „Irgendwo in diesem riesigen neoklassizistischen Tempel wird sich für mich ein Unterschlupf finden.“ denkt sich Lenny. Die monumentale Eingangsfassade erinnert ihn an einen grandiosen Triumphbogen. Drei Rundbögen geben Raum für ebenso viele, große, schwere Eingangspforten. Ein prachtvoller Dachfries wird von korinthischen Säulen gestützt. Lenny erkennt dort oben die 6 Statuen, die Philosophie, Romantik, Religion, Poesie, Drama und Geschichte präsentieren sollen. Lenny erinnert sich, dass dieses riesige Marmorgebäude bereits anderen Hilfsbedürftigen Schutz geboten hat. Im Hollywoodstreifen „The Day After Tomorrow“ verstecken sich die Haupthelden des Streifen vor einem gewaltigen Schneesturm und überleben dort die Naturkatastrophe. „Bitte lass es noch einmal geschehen und beschütze mich vor diesen Monstern“ flüstert er leise.
Oben angekommen reißt er an einer der schweren, eichenen Pforten. Die Tür gibt nach und Lenny schiebt sich durch den engen Spalt, der sich ihm aufgetan hat. Er steht in einer riesigen Vorhalle. Romanische Rundbögen stützen die Treppen, die in die oberen Etagen führen. Vor sich sieht er ein Schild: Großer Lesesaal. „Egal wohin. Hauptsache weg.“ Lenny folgt dem Wegweiser. Die Tür zum Saal steht offen. Lenny übertritt die Schwelle und ihm bleibt der Mund offen stehen. Was er sieht, verschlägt ihm die Sprache. Wenn er einmal in New York studieren würde, dann wäre dieser prächtige Saal einer der Gründe dafür. „Welcher Student, welcher Forschende, welcher Schriftsteller würde nicht gern in dieser Kathedrale des Wissens die Zeit vergessen, um seiner Leidenschaft, seinem Wissendrang zu frönen.“ Das was er hier sieht, lässt Lenny beinahe poetisch werden. Der Saal zieht sich bis zu 100 Meter in die Tiefe. Lange Holztische mit messing-farbenen Leselampen erstrecken sich über den gesamten