Raban und Röiven Rückkehr dunkler Zauberer. Norbert Wibben
hast Recht, Morgana, wir sollten nicht streiten sondern uns auf den Zweck unseres Treffens konzentrieren.«
»Es freut mich, Oskar, dass du jetzt offenbar wieder mithelfen willst.«
Der Mann mit dem krausen, rötlichen Haar, das kurz geschnitten ist, ist etwa gleich alt wie die Frau und ebenso von schlanker Statur. Er ist nur einen halben Kopf größer als sie, was ihn komischerweise freut. So muss er nicht zu ihr hinaufschauen, wenn sie sich gegenüberstehen. Es reicht, dass sie ganz offensichtlich intelligenter ist als er, was er aber nie zugeben würde.
»Wir haben folgende Fakten«, beginnt Oskar. »Es sind:
1. Baran, der so wie wir ein Nachfahre der Zauberer des Mondes ist, die von anderen oft als »Dubharan« bezeichnet werden, verschwand im Sommer letzten Jahres spurlos.
2. Wir scheinen ihm bekannt gewesen zu sein, obwohl wir ihn nie gesehen oder getroffen haben.
3. Baran hat bei einem Rechtsanwalt ein Vermächtnis hinterlassen, das dieser uns, so wie Baran es bestimmt hatte, ein halbes Jahr nach dessen Verschwinden übergeben hat.
4. Baran vermachte uns zu gleichen Teilen seine Wohnung und Besitztümer, die er zum Großteil in einer separaten Liste aufgeführt hat.«
Hierbei deutet der Mann auf einen Bogen Papier, der dem Vermächtnis beigefügt war und fährt dann fort:
»Außerdem ist uns noch bekannt:
5. Baran hat behauptet, dass er Zauberkräfte erlangte, indem er einen Kolkraben überlistete. Den Raben hat er in Stein verwandelt. – Das ist vermutlich die Steinfigur, die wir in einem seiner Kellerräume gesehen haben.
6. Aus einem Museum der Hauptstadt wurde im letzten Jahr eine Skulptur, das Haupt der Medusa, gestohlen. Nach einigen Wochen stand dann plötzlich die Steinfigur eines Mannes vor dem Eingang zum Museum, die mit einer Hand das Medusenhaupt an den Schlangenhaaren hielt. Wir hatten das Foto in der Zeitung gesehen.
7. Der Anwalt hatte uns ein Foto von Baran gezeigt, auf dem eine große Burg im Hintergrund zu sehen war. Er erklärte uns, die Burg soll Barans Vorfahren gehört haben. Vor Gericht hatten diese vergeblich versucht, sie wieder in ihren Besitz zu bringen. Das Seltsame ist, Barans Gesicht auf diesem Foto ähnelt dem der Steinfigur zum Verwechseln.
8. In seinem Vermächtnis fordert Baran uns auf, sein Vorhaben, die Elfen zu vernichten und danach die Herrschaft in diesem Land zu übernehmen, fortzuführen.«
Jetzt schweigt Oskar und blickt Morgana auffordernd an. Diese wartet einen Moment und beginnt:
»Das ist soweit richtig. Und was können wir daraus folgern?« Der Mann hebt beide Schultern. Er kann sich entweder keinen Reim aus den Aufzählungen machen, oder er will der Frau den Vortritt lassen. Morgana kräuselt verwundert ihre Stirn, um dann zu beginnen.
»Da du schweigst, werde ich meine Überlegungen darlegen:
1. Es gibt Kolkraben, die über Zauberkräfte verfügen und die diese an Menschen weitergeben können.
2. Wir haben in Barans Büchern über magische Sprüche und Artefakte einen Hinweis gefunden, wie das Haupt der Medusa zum Leben zu erwecken ist. Also wird er die Skulptur aus dem Museum gestohlen haben, um sie zu verwenden.
3. Barans Versuch, die Elfen zu vernichten, ist offenbar nach hinten losgegangen. Er wurde dabei versteinert und wird jetzt im Museum ausgestellt.
4. Wir könnten Zauberkräfte erlangen, wenn wir uns an die Raben wenden. Elfen werden uns dagegen vermutlich nicht helfen.
5. Wir wissen nicht, welche Raben über Zauberkräfte verfügen und wie wir das erkennen können. Wenn es möglicherweise nicht alle Rabenarten, sondern nur Kolkraben betrifft, haben wir ein Problem.
6. Im letzten Jahr sind massenweise Kolkraben gestorben. Es wird schwierig werden, geeignete Exemplare zu finden. Wir sollten recherchieren, wo diese Vögel noch leben.
7. Baran hat sein Wissen, dass Raben zaubern und diese Kräfte übertragen können, irgendwoher bezogen. Wir müssen diese Quelle finden.
8. Wichtig ist außerdem, wie Raben veranlasst werden können, Zauberkräfte zu übertragen. Freiwillig werden sie es möglicherweise nicht tun. Vielleicht hat Baran den Raben in Stein verwandelt, damit dieser sich nicht rächen kann.
9. Wir sollten Barans Hinterlassenschaft erneut durchsuchen. Vielleicht hat er entsprechende Aufzeichnungen hinterlassen. Die müssen aber gut versteckt sein, da sie uns bei einer ersten Sichtung nicht aufgefallen sind.
10. Der letzte Punkt: Wir sollten uns gut überlegen, ob wir Barans Vermächtnis erfüllen sollen. Die Herrschaft im Land übernehmen, ist ja in Ordnung, aber die Elfen vernichten? Warum sollten wir das tun, solange sie uns nicht behelligen? Aber dafür müssten wir wissen, wie stark unsere Magie sein wird. Ich möchte nicht wie Baran enden. Darum entscheiden wir das besser erst später.«
»Ich stimme allen deinen Schlussfolgerungen zu, obwohl ich nicht glaube, dass wir etwas in Barans Sachen übersehen haben.«
»Es trifft sich gut, dass wir noch in seiner Wohnung sind. Unsere erste Untersuchung war eher oberflächlich, da wir uns einen Überblick verschaffen wollten. Jetzt wissen wir, wonach wir suchen: Aufzeichnungen, vielleicht ein Tagebuch oder einfach Bücher. Auf jeden Fall etwas mit einem Bezug zu Raben. Darum sollten wir nochmal damit anfangen. Jetzt!«
Erschrocken springt Oskar hoch. Das letzte Wort hat Morgana derart scharf hervorgestoßen, dass es fast wie ein Peitschenknall klang.
»Sie mag atemberaubend schön und übermenschlich klug sein«, denkt der Nachfahre der Dubharan. »Ich möchte ihren Reizen aber lieber nicht erliegen. Und zur Feindin haben sollte ich sie schon gar nicht. Es ist besser, ich tue was sie sagt. Jedenfalls so lange, wie es in meine Pläne passt.«
Laut entgegnet er nur:
»Ist ja schon gut. Ich beginne im Keller. Kommst du mit?«
»Was meinst du wohl? – Natürlich! Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei.« In Gedanken fügt sie hinzu: »Ob ich dir trauen kann, weiß ich nicht. Ich bleibe lieber in deiner Nähe, damit du nichts vor mir verheimlichen kannst!«
Beide verlassen den Raum, um mit der Suche zu beginnen.
Verschwunden
Am frühen Morgen, es dämmert noch nicht einmal, kehren der Junge und der Kolkrabe von Serengard wieder heim. Raban stellt seinen Haselstab, den er diesmal ungenutzt mitgenommen hatte, in eine Zimmerecke. Bevor er nach unten gehen will, verlieren sich seine Gedanken in den Ereignissen vom letzten Sommer.
Vor seinem geistigen Auge sieht er, wie er sich vergeblich bemühte, den Stab abzubrechen, bevor es ihm gelang, nachdem er sein Messer zu Hilfe genommen hatte. Raban fühlt, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichten, genau wie damals, als er dort auf dem Gelände zwischen den Ruinen des Klosters eine lauernde Gefahr spürte. Er meint sogar, erneut das Kribbeln im Nacken zu fühlen, während er gedanklich erneut auf den eingefallenen Turm steigt. Sein suchender Blick findet nochmals den Raben, der bewusstlos auf dem Boden liegt, während ein Wolf auf dem Weg dorthin ist. Raban stürmt in seinen Gedanken wieder laut rufend auf den Wolf zu.
Er ist derart in Erinnerungen versunken, dass er zuerst nicht registriert, wie eine geistige Verbindung zu ihm hergestellt werden soll:
»… was ist denn los? Ich brauche dich. RABAN, antworte!«
Im ersten Moment grübelt er darüber nach, was das jetzt in seiner Erinnerung zu suchen hat. Dann ist er hellwach.
»Entschuldige, Röiven. Was ist los?«
»Du musst sofort zu mir kommen. Ich bin vermutlich verrückt, aber hilf mir!«
»Bleib ruhig, mein Freund.