Rufe aus Morgania. Brigitte H. Becker
dienten Windgeister, die ohnehin keinen festen Wohnsitz hatten und ständig unterwegs waren.
Frühmorgens zwischen Tag und Traum hatte Meridor ein außergewöhnliches Erlebnis gehabt.
Noch im Bademantel fühlte sich magisch zur ausgesuchten Stelle hingezogen, um im hohen Gras ausgestreckt ein Ohr an die Erde zu halten, die sie im Traum zu sprechen wünschte.
Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie sich der Boden auftat und eine wunderschöne Frau von der Größe eines Mammutbaums herauswuchs, die auf Menschengröße schrumpfte.
Sie trug ein grasgrünes bodenlanges Kleid und war von einem hellgoldenen Strahlenkranz umgeben, der Meridor, die ihr gerade bis zur Schulter reichte, derart blendete, dass sie den Blick abwenden musste.
Wieder aufschauend bemerkte sie, dass die Haut der überirdisch Schönen einen sanften Orangeschimmer aufwies und die Strähnchen im Goldhaar, das im Nacken zum Knoten gebunden war, in allen Regenbogenfarben schimmerten. Das alterslose Antlitz strahlte eine ungeheure Kraft und Ruhe aus. Ihr Blick war unverwandt auf sie gerichtet, die Stimme mutete wie Blätterrauschen in seichten Winden an, als sie zu ihr sprach, wurde aber voll und melodiös als sich ihre Ohren angepasst hatten.
Sie hatte sich den Wortlaut ihrer Rede gut eingeprägt.
„Grüß Dich, Meridor. Ich bin Erdania und die für dich zuständige Tochter der Erdmutter.“
Sie entgegnete ihrem erstaunten Blick. „Du musst wissen, dass sie viele Töchter zu ihrer Unterstützung hat, denn sie kann nicht überall präsent sein. Ich konnte mich leider noch nicht vorstellen, weil du noch nicht in der richtigen Verfassung dazu warst. Du siehst in mir deine Ansprechpartnerin, die dir die Wünsche unserer großen Mutter verständlich machen kann. Ruf mich hier, und ich bin da, wenn dir etwas unklar ist.“ Sie setzte Meridors zweifelndem Blick einen aufmunternden entgegen. „Ich möchte dir ein Lob aussprechen. Du machst Fortschritte bei der Kontaktaufnahme. Sonst könntest du mich jetzt weder sehen noch hören. Ich weiß um deine Zweifel, ob du den Rat der Kristallkugel befolgen sollst, doch wisse, dass sie das Sprachrohr meiner Mutter ist. Ungewöhnliche Zustände erfordern ungewöhnliche Mittel. Es wird dir weder als Schwäche ausgelegt, noch deine Autorität untergraben, wenn du dein Volk um Hilfe bittest. Ganz im Gegenteil, du wirst dafür umso mehr geliebt. Konzentriere dich vorerst auf das eine Menschenkind, das dich hören konnte. Alles Weitere wird sich zeigen, wenn der Kontakt sich ausweitet.“
Meridor fiel ein Stein vom Herzen, Zuspruch von höchster Ebene zu erhalten.
Das hätte sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet!
Nun brauchte sie sich nicht mehr an ihre Mutter wenden, die sie nach dem Desaster mit der Kristallkugel nicht mehr anzusprechen wagte.
Dass sie ihr nichts von Erdania gesagt hatte! Sie sprach nur immer nur von der Erdmutter.
Auf ihre Frage wurde Meridor die Vision von Kindern des Lichtes bestätigt.
Es sollten die Hochsensiblen unter den im neuen Jahrtausend Geborenen sein.
Auf sie würde ihre Mutter ihre letzte Hoffnung setzen, denn sie wären ansprechbar.
Meridor versprach Erdania gerne, ihre Botschaften in ihre Festrede einzuflechten.
Nun war sie frohen Mutes, und es wuchs in ihr eine Sicherheit, die sie noch nicht kannte
Aus ihrem erhobenen Zauberstab ließ sie Funkenregen wie aus einer Wunderkerze sprühen, um Irrlichtern jede Chance zu nehmen, wies sie den Ihren den Weg durch den dunklen Wald.
Halb fliegend, halb hüpfend über Stock und Stein folgten ihr die Elfen. Glühwürmchen, die sich auf Händen und Flügeln von manchen niederließen, erzeugten ein kerzengleiches Licht.
Am Rande stolzierten Wachtmänner, denen sich Walfred angeschlossen hatte, mit gezückten Säbeln, eine Art Elfenpolizei. Hier und dort schlossen sich junge Baumgeister der munteren Prozession an, die nur darauf gewartet hatten. Mit ihresgleichen bildeten sie eine schweigende Nachhut im krassen Gegensatz zu den Elfengruppen mit ihrem Geplapper und Gelächter.
Nellyfer ließ sich träumend am Nordufer des Weihers mit seinen Birkengruppen nieder und lauschte hingebungsvoll dem volltönenden Nixengesang, der sich erhoben hatte, als die Elfenprozession zum Wald aufbrach und auch nicht verebbte, als er sie verschluckte.
Von einer der Ihren wusste sie, dass viele Nixen gerne durch den Bach mitgeschwommen wären, es aber nicht wagten, sich dem Verbot des Wassermanns zu widersetzen.
War sie froh, allein zu sein! Nach dem Chaos in der Krippe und dem abenteuerlichen Flug auf Sylphon stand Nellyfer der Sinn weder nach Feierlichkeiten noch nach einer Festrede der Elfenkönigin, obwohl ihre erste mehr einer Trauerrede glich.
Behaglich streckte sie die überstrapazierten Glieder im hohen Gras aus, um mit unter dem Kopf verschränkten Händen zum nachtblauen Himmel aufschauend das glitzernde Schauspiel der Sterne zu betrachten. Das hatte sie jetzt gebraucht.
Sie brauchte Abstand, um sich innerlich auf die schlohweiße verdickte Knospe einzustellen, die ihr vom Seerosenteppich auf dem Weiher gleich in die Augen sprang.
Wahrscheinlich hatte Sylphon seinen Zuschauern einen gehörigen Schrecken eingejagt, als er wie ein Pfeil im wild flatternden Gewand auf die Weiherwiese zugeschossen kam.
Nellyfer bekam jetzt noch eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte wie er im Sturzflug zur Landung ansetzte. Der Ruck, der dabei durch ihren Körper ging, war immer noch zu spüren und in ihre Ohren dröhnten noch vom Zugwind.
Schade, dass Walfred, den sie viel zu selten sah, so schnell gehen musste, dass er ihr nicht mehr sagen konnte, wie es ihm ergangen war. Sobald er wieder Halt unter seinen Füßen fand, schloss er sich seinen Kollegen an, die ihn heranwinkten.
Aber Wachtmänner mussten gute Nerven haben, die bei Nellyfer angegriffen waren, seit sie als Amme an Feiertagen nächtliche Überfälle hautnah miterleben musste, und jetzt auch noch im Hellen! Mieden Schattenwesen nicht das Licht?
Sie wusste genau, dass ihre Schreckhaftigkeit ihnen Wind auf ihre Mühlen gab und auf die Kinder abfärbte.
Eine Elfe, insbesondere eine Erziehungsperson, sollte das innere Gleichgewicht bewahren, damit sie Harmonie vermitteln konnte. Aber unter diesen Umständen?
Durch vertiefte Atmung konnte Nellyfer zur Ruhe kommen sich in die tiefe Versenkung hineinversetzen, die das innere Hören und Sehen aktivierte.
Ein leises Klingeln war vom Wasser her zu hören.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sonst niemand da war, stellte sie sich innerlich auf die hochschwangere Seerose ein.
Tatsächlich, sie hatte den Ton von sich gegeben, der sich jetzt rhythmisch wiederholte.
Soeben lösten sich im Zeitlupentempo zwei Blütenblätter von der Knospe ab.
Aha, dachte Nellyfer, es tut sich was! Doch ist nicht zu sagen, ob es sich dabei um Vorwehen handelt oder der Geburtsvorgang eingeleitet wird, aber Letzteres glaube ich eher nicht.
Wie zur Bestätigung ließ das Klingeln nach, wurde immer schwächer und verstummte dann.
Weil es ihr im seichten Nachtwind in ihrem dünnen Chiffonkleid zusehends kühler wurde, zauberte sie sich schnell mit ihrem Zauberstab ein Blütenkissen und eine Blätterdecke herbei. Sie breitete das feuchtkraus gewordene Haar über das Kissen aus, kuschelte sich aufseufzend in die warme Decke und streckte sich im weichen Gras aus. Durchströmt vom wohligen Gefühl der Geborgenheit hing sie mit geschlossenen Augen ihren Gedanken nach.
Die kleinsten unter ihren Schützlingen waren mittlerweile den Windeln entwachsen. Sie hätte die geruhsame Zeit gern länger ausgekostet und sehnte die anstehende Geburt beileibe nicht wie andere herbei. Zudem war der Zeitpunkt ungewöhnlich. Elfen kamen normalerweise zwischen Juli und September zur Welt. Aber es war ja auch ein besonderes Kind.
Die Waldfee hatte mit ihrer Prophezeiung allen einen Floh ins Ohr gesetzt.