Rufe aus Morgania. Brigitte H. Becker
Verbeugung ging er vor den Elfen in die Knie, um sie anzuweisen, je eine Schulter zu besteigen. „Haltet euch gut am Ärmel fest.“
Nachdem er sich versichert hatte, dass sie seine Anweisung befolgten, erhob er sich zum stürmischen Flug im atemberaubenden Tempo. Los ging es, auf und ab in Schlangenlinien, was seinen beiden Fluggästen Hören und Sehen bald vergehen ließ.
Zu allem Überfluss klatschten Nellyfer immer wieder Stoffteile und Haarsträhnen ins Gesicht.
Sie hätte sich am liebsten beide Ohren zugehalten, musste sich aber immer fester anklammern, um nicht von seiner Schulter herunterzufallen, egal, wie breit sie war.
Sie kniff die Augen fest zusammen und konnte nur noch beten, rechtzeitig und heil am Weiher anzukommen.
3. Offenbarungen und Geburtswehen
Seerosen
Im Lenze
dumpf wässriger Tiefe
in Eiform entstiegen
auf Herzblatt Tellern serviert.
Spitz ausgeweitet
schwelgt Blüte in Blüte
hoch züngelnder Pracht
die Sonne entfacht
verhüllt Abendröte
ein schlängelt die Nacht
bis sie Herbstanhauch
versenkt.
Während sie mit ihren Schlosselfen den Weiher überflog, vergegenwärtigte sich Meridor noch einmal ihren letzten Besuch bei der Waldfee. Trotz des Malheurs mit der Kristallkugel war sie hinterher erleichtert. Ihr war vieles klar geworden, und das Erlebnis mit Erdania zerstreute ihre letzten Zweifel. Nun wusste sie endlich weiter.
Als der Seerosenteppich in Sichtweite kam, hielt sie Ausschau nach der weißen Knospe, die mit ihrem Kind hochschwanger war.
Größer, praller und von reinerem Weiß als die anderen war sie auch von oben unübersehbar, doch ob sie im Begriff war, sich zu öffnen, war nicht zu erkennen.
Die Amme würde ihr etwas dazu sagen können, denn sie wollte vorher nachschauen.
Als sie am Treffpunkt anlangten, waren alle eingetroffen soweit sie es überblicken konnte, außer Nellyfer. Wenn die Amme dagewesen wäre, würde sie auf ihre Königin warten.
Dass ihre Landung im allgemeinen Trubel unterging, war Meridor gerade recht.
Während ihre Schlosselfen sich zu den anderen gesellten, suchte sie am Bachufer eine Weide auf, um das Treiben auf der Weiherwiese zu beobachten.
Sie war übersät mit Elfen in allen erdenklichen Größen und Staturen.
Kleinere tippelten oder flatterten aufgeregt umher während in ihrer Mitte große, damenhafte auf und ab stolzierten und mittelgroße sich vergeblich abmühten, die Unruhestifter zur Raison zu bringen. Die Wachtmänner am Rande würden erst bei einer Prügelei einschreiten, doch es kam bei den Männern nur zu Rempeleien beim hektischen Herumlaufen.
Während sie auf die ausgeschickten Späher wartete, die ihre liebe Mühe hatten, sich im Gewühle durchzuschlagen, schaute sich Meridor in der Natur um.
An der Bachmündung reckten einige windschiefe, uralte Weiden zartgrüne, biegsame Zweige aus knorrigen Ästen dem Weiher und dem Bach entgegen, während Gruppen gertenschlanker, junger Birken am Nordufer identische zum leicht gekräuselten Weiheroberfläche hinunter pendeln ließen, wo sich in seichten Brisen Schilfhalme leise säuselnd wiegten.
Ein heftiger Windzug fegte durch die Bäume und peitschte die Wellen auf, dass die Zweige und das Schilf irritiert aneinander klatschten.
Der anrauschende Windgeselle, der dafür verantwortlich war, zog alle Blicke auf sich.
Im buchstäblich letzten Moment setzte er die Elfenamme und den jüngsten Wachtmann an der Weide neben der von Meridor ab.
Im Gegenlicht war der Windgeist nicht zu erkennen, doch kam er ihr allein von der Statur her eigenartig vertraut vor. War es etwa? …
Sie schob den Gedanken beiseite, als sie sehen musste, dass er schnell das Weite suchte.
Seine beiden Fluggäste torkelten desorientiert wie Betrunkene auf der Uferwiese herum.
Das musste ja ein rasanter Flug gewesen sein! Doch blieb keine Zeit für Fragen.
Schon kamen ihre Hofdamen mit Wachtmännern an, die ihre Königin, teils mit sanfter Gewalt, in die Mitte der Versammlung lotsten.
Alle Blicke waren auf Meridor gerichtet, und es wurde augenblicklich still, als sie, flankiert von ihren Hofdamen, das Glöckchen anschlug, um mit weit ausgebreiteten Armen die Vereinigung der Welten anzukündigen.
Alljährlich spielte sich das grandiose Schauspiel auf der Erde und am Himmel ab, hatte aber nichts von seiner Faszination eingebüßt.
Alle Anwesenden, einschließlich der Nixen auf den Wassern, hielten den Atem an.
Die Atmosphäre verdichtete sich spürbar, und die Stille wurde beinahe greifbar, als sich im Zeitlupentempo die Nebelbank auflöste, die Elfen- und Menschenwelt voneinander trennte, während im Hintergrund der glühende Feuerball im Horizont versank.
Frösche quakten, Grillen zirpten, und auf den Bäumen gaben Vögel, in der Mehrzahl Stare, der Sonne ein Abschiedskonzert. Der Himmel wurde zum Flammenmeer mit Wolkenwellen und tauchte die Erde in magischen Schein.
Weiterziehende Schleierwolken enthüllten die Mond Frau im schemenhaften Profil, und die extra herausgeputzte Venus schien sich an ihrer Seite im Funkeln zu verausgaben.
Als die bewundernden Ausrufe über den prächtigen Sonnenuntergang sich legten, suchte Meridor die Amme auf, die sich etwas abseits hielt, und nahm sie beiseite.
Ihre Verstörtheit und Durchsichtigkeit führte sie auf die ungewöhnliche Anreise zurück.
Nellyfer stammelte eine Entschuldigung, dass es ihr nicht möglich war, früh genug aufzubrechen, um ihr Versprechen einzulösen. Meridor gebot ihr Einhalt, als sie sich näher erklären wollte. „Heb dir das für später auf. Jetzt ist nicht die Zeit. Sieh lieber nach der Knospe und sage mir Bescheid, sobald sich etwas tut.“
Nellyfer nickte dienstbeflissen, um sich sichtlich erleichtert aufzuschwingen.
Während sie beschwingt der Elfenprozession voranschritt, überkam Meridor das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden, das schlagartig verschwand, als sie den Wald erreichten.
War es Menschenkind, das ihren Ruf vernahm?
Gerade am heutigen Tage wäre es ein günstiges Omen.
Am Waldrand blieb sie stehen, um sich noch einmal den Himmel anzusehen.
Das Violett der Schleier, von der einbrechenden Dämmerung über die Erde ausgebreitet, ging in Grautöne über, rötliche Wolkentupfer zerfaserten sich, um sich aufzulösen.
Das Lied des breiten Baches wies ihnen den Weg durch den dunklen Wald, wie zuvor munter plätschernd, gurgelnd sich um Steine windend, in kleinen Wasserfällen rauschend.
Seit etwa einem Jahr war Meridor Königin von Morgania im Herzen des Landes Fatana.
Wegen der Größe des Landes wurde die Waldfee von ihrer Mutter zur Mitregentin über die Waldbewohner erkoren, während seit eh und jeweils ein Wassermann als absoluter Herrscher das Zepter unter Wasser schwang.
Das Elfenreich war in zahlreiche Länder unterteilt und diese wiederum in etliche Königreiche. Die Grenzen waren fließend; überhaupt gab es nichts Festgefügtes. Alles war im Fluss und miteinander verknüpft, und zwischen den einzelnen Reichen herrschte