Alvine Hoheloh. Amalia Frey
dem Sessel saß.
Während sie tobte, stampfte und mit Gegenständen warf, hatte ihr Vater sein Leben an sich vorbeiziehen gesehen, so sehr brach es ihm das Herz. Er sah nun sein Winchen bei ihren ersten Schritten, ihr erstes Wort lautete Papa. Er erinnerte sich an die erste Gouvernante, die sie zur Weißglut getrieben und schließlich in die Flucht geschlagen hatte.
Das erste Mal, als er sie mit in die Schuhfabrik genommen und sie sich, ganz wie ihre Mutter, sofort mit allen verstanden hatte, mit den Arbeiter*innen, mit den Buchhalter*innen und den Lieferant*innen. Zudem interessierte sie von Anfang an die Bedienung der Maschinen, sodass sie den Männern in der Schichtleitung Löcher in den Bauch fragte.
Alfred fiel ein, wie Alvines erster Hauslehrer sie unterforderte und sie es vorzog, nur noch alleine zu lernen, sobald sie des Lesens und Schreibens mächtig war. Und wie sie ihm verkündete, dass sie seine komplette Bibliothek leergelesen hatte und neue Bücher verlangte.
Erinnerungen an ihre Reitstunden kamen hoch, die im Fiasko endeten, da sie dem Pony aus Versehen die Sporen gegeben hatte. Hinterher erklärte sie ihm, sie brauchte ein größeres Reittier, schließlich fühle sie sich nur angespornt, sich im Sattel zu halten, wenn sie auch tief fallen könne.
Ihr erster Schultag auf der höheren Töchterschule, wo sie sich sofort mit dem Direktor anlegte und ihn als engstirnigen Kuhtreiber beschimpfte. Dann brachte sie das Zeugnis nach Hause, auf dem man ihr zerknirscht in allen Fächern glatte Einser geben musste, nur im Betragen mit völliger Genugtuung das schlechteste Prädikat reinwürgte. Theaterstücke auf dem Lyzeum, bei denen sie ritterlich den Romeo gab und galant zu fechten verstand. Preise von Reitwettbewerben. Der wilde, junge Hengst Strumpf, der sich anfangs lediglich von ihr zügeln ließ.
Er dachte an den Simplex, den er sich voll Stolz vor drei Jahren angeschafft hatte. Alvine klemmte sich sogleich hinter das Lenkrad und wusste den Sechszylinder binnen Minuten so gut zu bedienen, um darin Unter den Linden entlangzubrausen.
Schließlich entsann er sich an ihre Empfehlung, als eine der wenigen Frauen des Reiches an der städtischen Universität zu studieren: von ihrer Gönnerin, auf die er eifersüchtig war, da Alvine zu ihr aufblickte. Sicher hatte diese Eifersucht ihn krank werden lassen.
Und wieder sah er sein fünfjähriges Winchen vor sich, das völlig routinehaft seine Unterschrift fälschte und dann die fast zwanzigjährige Elfe, die auf ihre Aufnahmeprüfung verzichtete, um postalisch wichtige Verträge für ihn auszuhandeln.
Schließlich ihr smaragdgrünes 'A. Hoheloh' unter einem Auftrag vom Heeresführer, um mehrere Korps auf fünf Jahre mit Stiefeln zu versorgen.
Endlich schien sein wütendes Winchen sich heiser gebrüllt zu haben. »Kind, ich will doch nicht, dass du ihn sofort heiratest …«, begann er erneut.
»Warum um Gottes Namen, sollte ich mich ihm andernfalls vorstellen? Weshalb betonst du diese Begegnung schon im Vorhinein so? Kaum dass ich auf die 20 zugehe, dreht sich alles nur noch um Heiratskandidaten!«, krächzte Alvine zurück.
»Er scheint mir ein prächtiger Bursche zu sein und du sollst ihn dir nur einmal ansehen. Wenn er dir nicht zusagt, vergessen wir all das gleich wieder.« Er schlich auf sie zu und versuchte, ihren Arm zu tätscheln.
Sie wich zurück und mit letzter Kraft entwich ihr: »Eines Tages, Papa, werden Frauen völlig selbstverständlich eigene Konten, Häuser und sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht besitzen! Wir werden keine Absicherung mehr durch das Mannsvolk benötigen und stattdessen Gerichtshöfe, Banken und Länder leiten!«
»Gewiss, Winchen-Kind, sicher doch«, er erwischte sie und drückte sie herzlich an sich. Und sie ließ es sich gefallen, »und bis dahin«, sagte er, »wirst du verzeihen, dass dein armer alter Vater dazu verpflichtet ist, dir die beste Zukunft zu arrangieren. Ich will dich versorgt wissen, ehe ich abtrete.«
»Papa, du Narr«, heulte sie verzweifelt auf seine Schulter, »lass die Schuldtour, ich gehe ja hin. Aber ich garantiere nicht, dass ich mich benehme, wie ein Mann es von einer Dame erwartet!«
»Nie würde ich das von dir verlangen. Einen Kerl, der nicht weiß, wie er dich zu behandeln hat, und dabei nicht glücklich, wie ein Sonnenkönig ist, werde ich niemals akzeptieren.«
»So einen gibt es sowieso nicht. Männer sind so eindimensional. Denken, sie könnten mich mit großen Worten, Titeln und Anträgen blenden, nur weil ich jung und verwöhnt bin.«
»Anträge, Kind?« Alfred umschloss sie fester.
»Na was glaubst du denn? Kaum dass sie fünf Tänze mit mir hatten und dein Vermögen visualisieren. Eine Halunkenbande, vor allem der Landadel.«
»So was. Halten es nicht einmal für nötig, mich zuvor zu fragen«, murrte er benommen und ließ sie los, woraufhin Alvine wild mit den freien Armen fuchtelte.
»Papa! Ich bin nicht dein Eigentum. Und Nein sagen, kann ich ihnen auch sehr gut allein.«
Alfred tätschelte ihre Wange und zog sie erneut an sich. Sie biss ihm aus alter Gewohnheit fest in die Schulter, sodass er aufheulte wie ein geschlagener Hund.
Völlig erschöpft stolperte Alfred in das gemeinsame Elternschlafzimmer. Wie die meisten Räume des Hauses bedeckte ein reich verzierter Teppich den Boden. Die Verkleidung des außergewöhnlich breiten Himmelbettes war farblich auf die hell und kupferfarbene Tapete abgestimmt und das Fußende zeigte auf die hohen Fenster, deren schwere königsblaue Vorhänge jedoch bereits geschlossen waren.
Dorothea saß, wie sooft, wenn sie zusammen schliefen, in ein schmeichelhaftes Negligé gekleidet, darüber trug sie einen ihrer seidenen Morgenmäntel, an ihrer Frisierkommode und sie richtete sich einen bequemen Seitenzopf für die Nacht. Allein dieser Anblick erregte Alfred, aber nach der Fehde mit seiner Tochter war er zu aufgebracht, um ihr den gebührenden ehelichen Tribut zu zollen. Schwer ließ er sich auf die Tagesdecke fallen.
»Sie hat nicht die ganze Zeit gezetert«, sagte Dorothea, ihren Hals mit duftenden Ölen salbend den Blick in den Spiegel gerichtet, »warst du erfolgreich oder wurde sie heiser?«
»Beides«, schnaufte Alfred.
»Worauf habt ihr euch geeinigt?«
»Sie darf sich daneben benehmen, dafür kommt sie mit.«
Seine Frau unterdrückte ein Prusten.
Konrad Fürstenberg imponierte ihr natürlich, aber sie war sich mittlerweile sicher, dass er ein Wesen wie Alvine nicht ertragen könne. Obwohl Dorothea schon ihrer Zeit vorauseilte, schien ihr Spross ein wahres Konzentrat idealistischer Ideen zu sein. Dieses Mädchen war hundert Jahre zu früh geboren worden und gerade solche Menschen brauchte der Fortschritt. Doch nie hatte eine Weltverbesserin die Welt ganz allein verbessert. Was würde nur aus ihrem Freigeist, wenn sie und Alfred nicht mehr da waren?
Könnten ihre Brüder ihr den Schutz gewähren und gleichzeitig ihren Rücken weit genug stärken? Und ließ sie sich im Zweifelsfalle von Eduard und Karl etwas sagen? Selbst sie, als ihre Eltern, hatten ihrer Prinzessin stetig weniger entgegenzusetzen. Wie lange würde diese von alten Männern gesteuerte Welt eine Libertin wie Fräulein Hoheloh tolerieren? Oder würde sie im Angesicht dieser Übermacht zerbrechen?
Dorothea seufzte. Andere Mütter hatten auch schöne Töchter und mussten sich Gedanken machen, wie sie deren Haar frisierten, was für eine Farbe ihr nächstes Ballkleid hätte und welchen Verehrer sie schließlich bei der Angebeteten vorsprechen ließen. Familie Hoheloh überlegte sich normalerweise, wie sie ihren Augenstern jene Geduld lehren konnte, in kleinen Schritten vorzugehen, um sie vor dem Zuchthaus zu bewahren.
Schwer ließ auch sie sich neben ihren Mann fallen. »Ihre Gönnerin hatte es nicht vermocht, ihr die Kunst der gemäßigten Revolution beizubringen, wie sollen wir es dann schaffen? Wir, auf die sie wohl noch nie richtig gehört hat«, flüsterte sie nach einer Pause.
»Das, was sie an uns bindet, ist Liebe und Vertrautheit, im weitesten Sinne wahrscheinlich ebenso Respekt. Aber fürchten tut sie uns nicht. Was fürchtet dieses Kind überhaupt?«
»Die