Alvine Hoheloh. Amalia Frey
Alvine wäre einige Male fast ertrunken.
Mit 22 Jahren ehelichte Eduard die gleichaltrige Marie, einziges Kind eines verarmten Winzers. Er zog zu ihrer Familie. Das Weingut befand sich am südwestlichen Ende des Reiches. Binnen kurzer Zeit lehrte man ihn den Weinanbau, seine unternehmerischen Qualitäten kamen der Vermarktung zugute, obgleich dieses Unternehmen nach wie vor nur läppische Gewinne abwarf. Der grüne Daumen verschliss offensichtlich von Generation zu Generation mehr. Somit konzentrierten sich die junge Winzerin und ihr angeheirateter Jungweinbauer darauf, aus der karg geschöpften Maische ein edles Tröpfchen zu kreieren.
Die wenigen Flaschen erfreuten sich bald respektierlicher Beliebtheit unter den Kenner*innen und sicherten dem Weingut ein achtbares Einkommen. Reich wurden sie davon folglich nicht und um das uralte Anwesen regelmäßig zu sanieren und die Rebstöcke anständig zu hätscheln, benötigte es mehr als einmal Finanzspritzen aus der großen Stadt. Doch die Eltern liebten ihren Sohn und auch die heitere Schwiegertochter, sodass sie es wie eine Kleinigkeit behandelten, ihnen unter die Arme zu greifen.
Maries Herz gehörte ihrer Heimat und den Weinbergen, wenngleich sie in all den Jahren nicht herausbekam, wie sie die Rebstöcke zu beschneiden hatte, um höhere Ernten zu erzielen. Und um einen Experten anzustellen, dazu war sie zu stolz. Lieber verzichtete sie auf Schmuck und glänzende Feste, als sich in ihre Arbeit hereinreden zu lassen. Eduard nannte sie liebevoll: mein süßes Trotzköpfchen oder kurz: Süßchen.
Seine Eltern erkannten wohl die charakterliche Ähnlichkeit, die zwischen Dorothea und Marie und vor allem der kleinen Alvine bestand, und sahen geflissentlich über solche Launen hinweg.
Letztlich plante Alfred seinerzeit, Eduard zum Haupterben zu küren. Bis es so weit war, würde sich Marie schon daran gewöhnen, ihren Weinberg eher als Steckenpferd denn als Lebensaufgabe zu betrachten. Und immerhin hatte sie ihren flatterhaften Erstgeborenen gezähmt und von seinen delikaten Geschichten abgebracht, ehe ein Bastard gezeugt oder er in eine Anstalt geschickt werden konnte. Marie und Eduard liebten sich sehr und stritten, ob ihrer hitzigen Gemüter ebenso gern.
Außerdem setzte das Paar erst Zwillinge weiblichen Geschlechts und dann noch einen Jungen in die Welt. Dorothea liebte Kinder und bestellte sie so oft wie möglich in die große Stadt oder fuhr den weiten Weg zu ihnen, um ihren Enkel*innen beim Wachsen zuzusehen.
Nach einer dieser Reisen sagte sie ihrem Gatten so ruhig wie bedeutsam: »Alfred, Marie wird ihren Weinberg niemals hinter sich lassen und Eduard wird bleiben, wo Marie ist. Wir müssen einen anderen Erben finden.«
»Zum Glück hast du mir noch zwei Weitere geschenkt«, entgegnete er. Heimlich hatte er Eduards Ausscheiden aus der Kandidatenliste längst vermutet, spätestens seitdem das dritte Enkelchen geboren war.
Karl hingegen verliebte sich schon als Kind in seine Brieffreundin Rebecca Grün, die eigentlich in derselben Stadt, doch in einer völlig anderen Welt lebte. Zufällig waren die beiden einander auf der Exposition universelle de Paris begegnet, waren eher schreibfaul, ab dann aber nicht füreinander. Nach jahrelangem regen Austausch schüchterner Verse und gegenseitiger Geschenke von den Reisen in der Weltgeschichte bat der achtzehnjährige Karl um ein Treffen.
Missmutig traf sich daher die ganze Sippe in einem Kaffeehaus und machte höfliche Konversation, obgleich die jungen Leute vor Aufregung keinen Ton herausbekamen. Die Eltern amüsierte das beidseitig, begleitete doch Karl andernorts immer ein aberwitziger Redeschwall und besaß die elegante Rebecca sonst ein nicht zu verachtendes dominantes Gemüt. Zum Abschied traute er sich jedoch nicht einmal, ihr die Hand zu küssen und sie fixierte ihre Schuhspitzen.
Danach quälte den armen Buben schmerzhafter Liebeskummer, sodass Dorothea sich gezwungen sah, ihm Feuer unterm Allerwertesten zu machen. Mit seinen Eltern im Rücken rollte Karl ein Großaufgebot auf und machte seiner Angebeteten eifrig den Hof. Sein Werben um Fräulein Grün wurde schließlich erhört. Ihre Eltern erlaubten die Hochzeit mit dem Nichtjuden, vor allem, da er ebenfalls einer Familie aus Seidenhändler*innen entstammte. Zwar lagen die ständigen Reisen in den Orient seit Alvines Geburt brach, denn Hohelohs konzentrierten sich nun auf ihre Schuhwerkstätten. Doch als Karl anbot, mit seiner künftigen Frau auch die alten Kund*innen seiner Eltern zu bereisen, ließen sich Alfred und Dorothea nicht schlagen. Das überzeugte die Familie Grün endgültig von dem Anwärter: die Tochter glücklich zu wissen, nicht mehr reisen müssen und nebenbei über doppelt so viele Kund*innenkontakte verfügen – die Ehe war und blieb ein Geschäft.
Mit Rebecca eröffnete sich für die Hohelohs ebenso der Weg zu vielen, sehr reichen jüdischen Geschäftsfreundschaften und Kund*innen. Schnell merkten Rebeccas Anverwandte auch, dass sie von Alfred und Dorothea gleichwertig behandelt wurden. Beide hatten noch nie ein Problem im Glauben gesehen und hatten auch nie verstanden, warum sie Grenzen im eigenen Land ziehen sollten. Das, da ihr Kreis doch ohnehin über Landesgrenzen hinaus reichte. Diesen Glaubenssatz hatten sie ihren Kindern mitgegeben und so freundete sich vor allem die kleine Alvine flink mit der Heerschar an Cousins und Cousinen ihrer künftigen Schwägerin an.
Um alle Gemeinden gütlich zu stimmen, ließen Rebecca und Karl sich dreimal trauen: standesamtlich, evangelisch und ein letztes Mal mit massigem Pomp in der Traditionssynagoge der Familie Grün.
Seither übernahmen Karl und Rebecca Hoheloh die Reisen in den Orient, um Seidenhandel zu betreiben. Ihre zwei kleinen Söhne verbrachten die meiste Zeit auf dem Weingut von Onkel Eduard und Tante Marie, wo sie zusammen mit dem restlichen hoheloh’schen Nachwuchs von zwei Kinderfrauen betreut wurden.
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Alvines Brüder kamen, seitdem sie in den heiligen Stand getreten waren, nur noch selten auf Friedgolds Hof. Auch Dorothea blieb dieses Jahr länger in der großen Stadt und wollte erst in zwei Wochen gemeinsam mit Alfred dazu stoßen. All das war Alvine sehr recht.
Nach dem Debakel auf dem Ball der Casparis hatte sie so gut wie nie eine ruhige Minute gehabt. Ihre Gesellschafterin Greta hatte sie natürlich begleitet und angenehmerweise davon abgesehen, sie wegen Theodor Fürstenberg zu befragen. Alvine wollte ihn schnell vergessen, dazu war ausreichend Abstand von seinem Umfeld hilfreich.
Die Tage des Sommers waren in dieser Gegend heiß, sodass es ihre morgendliche Angewohnheit wurde, nach dem Aufstehen eine Runde im kühlen See zu schwimmen. Auf diese Weise hielt sich die Erfrischung den ganzen Tag und sie konnte mit Strumpf getrost durch die Wälder jagen oder mit Greta spazieren gehen.
Im Umkleidehaus entledigte sie sich ihres Morgenmantels, mehr trug sie nicht am Leibe und sprang in alter Tradition ins Tiefe. Ihr von der Nacht und wilden Träumen mit Theodor Fürstenberg, dem Narren, erhitzter Körper erstarrte bei dem Temperaturunterschied und für einen Wimpernschlag stand ihr Herz still. Unter Wasser sah sie kaum etwas und blickte gen Oberfläche, die hell erleuchtet einen starken Kontrast zu ihren schwebenden Locken bildete. Dann tauchte sie auf, drehte ein paar Runden und tauchte wieder ab, um durch den unterirdischen Zufluss zu entschlüpfen. Es war ihre Art der Rebellion – eine davon – gegen die groben Ungerechtigkeiten, die für ihresgleichen galten. Wohl wissend, dass sie sich äußerst unschicklich benahm und mit wild pochendem Herzen schwamm sie weit hinaus auf den See und zurück.
Als sie im sichtgeschützten Becken auftauchte, erwartete sie Greta auf dem Steg mit einem Handtuch. Ihre Gesellschafterin und Kammerzofe diente ihr seit einigen Jahren und hatte es aufgegeben, sie wegen ihrer Flausen zu ermahnen.
Am frühen Nachmittag sattelte Alvine, wie immer behost und mit luftiger Bluse gekleidet, ihren Hengst. Strumpf begrüßte es einerseits, gefordert zu werden, aber anderseits war er es nicht gewohnt und daher schnell ermüdet. Dennoch ließen sie es sich nicht nehmen, sogleich am See entlang und schließlich in den Wald hinein zu galoppieren.
Inmitten der reichen Buchen- und Tannenwälder des Friedgolds Forsts lag eine Lichtung mit einem kleinen Gewässer. Fröhliche Frösche quakten, Grillen zirpten und etliche Schmetterlinge und Bienen labten sich an den reichlichen Blumen. Das Gras war von der Sonne ausgetrocknet und fast zwei Ellen hoch. Alvine saß ab und ließ Strumpf vom Wasser saufen. Eine fette Kröte sprang erschrocken mit einem dumpfen Plopp ins warme Nass. Schließlich graste der Hengst nahe einer einzelnen Eiche, die neben dem Weiher mittig der