Doomscroll. Volker Fundovski
Konsistenz sowie nach Eindeutigkeit entschieden ab. Jeder verfüge über die Freiheit, sich jederzeit von Bestehendem wieder zu lösen, um alsdann nomadisch weiterziehend sich Neuem anzuschließen. Durch den fortschreitenden Prozess dieser steten Umwälzung eröffnet sich ihm die Erkenntnis, dass die Wiederkehr des ewig Gleichen, im neuen Licht erscheinend, aus ihm bestenfalls eine enorme Selbstermächtigung herausschält und lebensbejahende Kräfte entfaltet. Durch diese Freiheit des steten Wandels sowie der beständigen Wiederkehr des Gleichen ergibt sich, dass der Willentliche, der dem lebensbejahend-dionysischen Rausch folge, alte Machtstrukturen überwinde. Die eingeleitete Verschmelzung des einstmals isolierten Individuums zu einem Kollektiv korrespondierender Elemente strebt somit ein freies gemeinschaftliches Gefüge an, das allein einer universell geltenden Konstellation konfusieller Ordnung untersteht.
Organisieren würde sich der postmoderne Nomade dann intuitiv, orientiert an der Dunbar-Zahl, welche besagt, dass der Mensch zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen im näheren sozialen Umgang, sich in überschaubaren Gruppen bis zu 150 Personen einfindet - was in etwa der Anzahl an Mitgliedern neotribaler Zusammenschlüsse entspricht. Dabei müssten die Mitglieder eines Tribes, der durch die Arbeitsteilung vom Arbeitsprozess entstehenden Entfremdung ihre ganze Flexibilität entgegensetzen, um die Akkumulation ökonomischen Potentials zu vereiteln, welches unweigerlich zu unzumutbaren Machtstrukturen führe.
Maffesolis Theorie wurzelt zudem nahe am Prinzip des urkommunistischen Gedankens, wie er bereits bei indigenen Völkern des mittleren Westens vorzufinden ist: Der Gedanke des Gemeineigentums von Land, Wasser sowie Wild. Alles weitere sei dem Privateigentum zuzuordnen.
Ein solches Grundgerüst der fairen Aufteilung bestehender Ressourcen setzt ein Mindestmaß an gelebten Primitivismus voraus. Sogenannten Minderprivilegierten fällt in der Umsetzung des primitivistischen Gedankens ohnehin und unmittelbar ein Zugewinn an Lebensqualität zu. Den sogenannten gehobenen und folglich privilegierteren Bevölkerungsschichten wird erst zeitverzögert der heilsam vitale Nutzen eines aktiv gelebten Primitivismus sowie durch diesen in die Welt hinein strömenden Neotribalismus bewusst werden. Etwa durch den eintretenden Reinigungsprozess des entlasteten Gewissens durch transparente Arbeitsabläufe und Produktionsschritte sowie der folglich aufkommenden Solidarität, die langfristig in der gesamten Gemeinschaft diverser Stammesstrukturen für geistiges Wachstum sorge. Doch wie findet der Mensch aus der Trennung und Spaltung, aus der Uneinigkeit in die Zusammenkunft, vom Expansionismus zurück zum Minimalismus oder zumindest zum Reduktionismus? Sieht er nicht in jeglichem Verzicht hungerkünstlerische Askese, also eine entartete und gleichsam rückschrittliche Verneinung hedonistischer Freizügigkeiten? Folglich muss sich in der Gesellschaft erst einmal das Bewusstsein für den notwendigen Wandel ausbilden. Dem Versuch, diesen notwendigen ersten Schritt einzuleiten, widmet Maffesoli sein gesamtes ideelles Schaffens-Motiv und somit letztlich auch sein großes Lebenswerk, dem er sich mit Leidenschaft aus seinem innigsten Herzensbedürfnis, bis in die imaginären Wachträume des kollektiv Unbewussten hinein, verpflichtet sieht.
Es ist zu hinterfragen, ob nicht nahezu jede relevante politische Entscheidung stets gegen die Interessen der Mehrheit des Volkes durchgesetzt wird. Die Mittelschicht würde - über kurz oder lang - den Gürtel enger schnallen müssen, wollte sie nicht jäh wie ein erodierender Steilhang abschmieren. Was ja im satten Futter des heutigen Wohlstands nicht zwangsläufig existentielle Dringlichkeit in sich birgt. Der Verkauf des SUV, ein Umzug in kuscheligere Räumlichkeiten, ein zwei Reisen pro Jahr weniger, etwas weniger erkaufte, ein wenig mehr tatsächlich gelebte Nachhaltigkeit - kurz: gesunde Reduktion statt entbehrungsreicher Hungertuch-Enthaltsamkeit. Doch durfte man das dem Bürger abverlangen? So etwas Mühseliges kam bei den Wählern nicht gut an. Noch war der Primitivismus alles andere als salonfähig. Behaftet vom reinsten Irrglaube und dem Ressentiment, er sei nichts weiter als eine den Zeitgeist bestimmende Laune anarchistischer Barbarei rückwärtsgewandter Chaoten, deckelten weiterhin mannigfaltige Konsumgüter sowie zahllose Informationsangebote das Unabwendbare. Noch klammerten sich die Leute in ihrer von klein auf eintrainierten Duldungsstarre an das untergegangene Gestern wie Kleinkinder an Mutters Rockzipfel. Das Gestern jedoch war alles andere als eine mütterliche Plattform infantiler Gefühlsduselei. Das Gestern gilt bekanntlich als ein düsterer Schlund, aus dessen Tiefen der Dampf sich zersetzender organischer Masse herauf quillt, während das Klingen und Dröhnen roher Gewalt in unser Ohr dringt. Vielleicht aber handelte es sich hierbei auch wieder nur um eine Täuschung, eine unbedeutende Begleiterscheinung verworfener Psychogramme, die sich störrisch vor die paradiesische Kulisse eines zauberhaften Liebesgartens wirft.
Kooperative Offenheit als Grundsatz und egalitäre Werte anstrebend, sowie intern ausgehandelte Regeln organisierend, würden die neotribalen und postmodernen Nomaden autark verwaltet, aus der naturnahen Lebensweise von Gestern das Nötige in ein lebenswertes Morgen überführen. Die rituell anmutenden Übereinkünfte, die noch heute als Überbleibsel einstiger Stammeskulturen in Vereins- und in Clubklauseln, unter Fans und Fetischisten, Subkulturen, ja auch in kommerziellen Unternehmen und schließlich in diversen Sektenstrukturen vorzufinden sei, folge laut Maffesoli allein dem archaisch-tribalen Muster in uns angelegter sozialisierter Tendenzen, bilde jedoch im Kern keine ganzheitliche sowie eindeutig organisierte, wirtschaftliche sowie soziale Ausrichtung, die als basisdemokratisch oder gar als sozialistisch zu bezeichnen wäre.
Wirre Weisheiten des gefallenen Häuptlings
„Erst wenn die große schwarze Wolke über die Berge kommt..., also über den Grünten oder wie aktuell über den Brenner, wie einst Malariamücken über den San Bernardino oder Flüchtlinge durch den Karawankentunnel - wenn diese schwarze Wolke also über unseren Köpfen hängen bleibt, dann, wenn es quasi zu spät ist, ja dann werden sie hoffen, dass einer kommt, um alles wieder zu reparieren. Kaputtes zu heilen und wieder zu einen. Doch zuvor möchte ich noch einmal den Herbst erleben. Sein Licht atmen. Mit den fallenden Blättern möchte ich gehen. Fallen und zu Erde werden. Nur dieses wundersam flutende Herbstlicht, das wie eine göttliche Verheißung über dem weiten Tal schwebt, möchte ich noch ein letztes Mal in mich einsaugen.“
Sein Atem rasselte. Er schnappte nach Luft als wäre sie Mangelware.
„Ruh dich aus. Das bringt doch nichts.“
„Hab ich dir nicht gesagt, dass die Alten dem Virus als erstes zum Opfer fallen werden? Dass ich mir das für die Zukunft der Kinder so gewünscht habe, fairerweise, als unlängst die Idee der Pandemie in unsere Köpfe gegossen wurde. Sicher, was ich sage, mag für dich nichts weiter als das Stammeln eines wirren alten Infizierten sein. Obgleich auch ein plausibler letzter Geistesfunken eines unbedeutenden Deutschen, der gar im Sterben liegt. Ich nenne es Ein nicht allzu bedeutendes Pseudo-Massensterben, das scheinbar dem Wohle der Menschheit dienen soll. Ein sich selbst genesendes Paradoxon...,“ Ein Hustenanfall zerschneidet seine Gedanken. „...dabei nehmen sie vor allem der Jugend die Zukunft, in dem sie ihr eine neue präsentieren. Mit ihren Helden-Werbekampanien-Videos glauben sie die jungen Leute bei der Stange zu halten. Ich sage dir - ich kann in diesem duckmäuserischen Selbstwegsperren nichts Heroisches erkennen.“
„Lass gut sein. Du hast ja recht. Du solltest dich aber ausruhen.“
Dass es ausgerechnet ihn erwischen würde, damit hatte der Häuptling nicht gerechnet. Ein Mann wie er, ein Leben lang fit, rüstig, kerngesund. Stets hatte er über ausreichend körpereigene Abwehrkräfte verfügt. Und jetzt repräsentierte sein schlaffer Leib plötzlich das Leid der Kranken und Schwachen, gehörte auch er zur sogenannten Risikogruppe, war auch er unversehens zum Opfer, zum sogenannten Patient mit schwerem Verlauf mutiert. Genau genommen war er genau das, was die Brüder vom RKI jetzt brauchten: ein weiterer Fall mit schwerem Verlauf.
„Tja, irgendwann wird jeder einmal alt. Älter als er wahrhaben mag. Alles trübt sich ein, der Wachtraum legt seinen Schleier über all das Vergängliche, das dem Gehenden wenngleich unter fernem Abglanz um so haltloser erscheint.“
„Bitte, sie sagen, du seist über den Berg. Aber hab noch etwas Geduld. Überanstrenge dich nicht.“
Schwarze Wolke über dem Grünten?! Erst wenn sie da hängen bliebe, würde der Messias nahen, um Kaputtes zu reparieren? Einer der das managt und wieder deichselt? Da hatte er recht. Sündenerlass. Das war ihre Hoffnung.