Doomscroll. Volker Fundovski
uns herrschte, so war er doch ein gezeichneter Mann, der nur knapp dem Tode entronnen, der Intensivmedizin sein Überleben zu verdanken und auf seinen Sohn, der sich schon zu seiner Zeit um ihn kümmern würde, zu hören hatte. Keine Frage - ein harter Schlag musste es für ihn gewesen sein. Er, der Häuptling, der doch nur, wenn es einmal so weit sein sollte, auf natürlichem und unverblümtem Wege abtreten wollte. Ohne den Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen und allerhand technischem Schnickschnack. Vorüberwehen und vergehen, hatte er in den letzten Jahren vermehrt in der ihm üblichen poetischen Manier gewitzelt. Was er da aus seinem Krankenbett heraus angesprochen hatte, bildete gleichzeitig seine ureigene Meinung ab, das Resultat einer wilden Lebenserfahrung, am nahenden Ende eines langen Korridors individuellen Empfindens. Sein Anliegen, schnellst möglich entlassen zu werden, war nur allzu gut zu verstehen, ein allzu menschliches Verlangen. Wer ihn kannte, wusste, dass das, was er von sich gab, nicht alles für bare Münze genommen werden durfte und folglich auch nicht zwingend als nostradamisch befunden werden sollte. Und doch hatte sein Vater trotz der Erkrankung eine seinem gesunden Verstand gerecht werdende Weissagung dargeboten, kodiert im eigensinnigen Schlüssel vom Alter gekennzeichneten Lettern.
Den Brenner hatten die Italiener bereits gesperrt. Oder war er mittlerweile wieder offen? Egal, es war nicht weiter von Belang. Weder wollte er in nächster Zeit verreisen, noch ritt ihn irgendeine Vorliebe für italienische Importware. Die große schwarze Wolke jedoch, sie kannte keine Grenzen. Ob die Grenzen zu Italien und Österreich nun geschlossen waren oder nicht - der Wolke war das egal. Weiterhin würde sie - satt, schwer und jederzeit bereit zur Entladung ihrer Anstauung - über unseren Köpfen schweben.
Alle hielten sich noch etwas geduckter als sonst. Die Lauten schrien etwas lauter und die Gläubigen wühlten sich einmal mehr durch die Apokalypse. Verborgen. Irgendwo. Zuhause. In den sozialen Medien. Menschen auf der Wartebank, abgestellt und endfunktionalisiert, Satan oder wem auch immer in die hässliche Fratze starrend. Auf Yogamatten und Hometrainern, in ihren Elfenbeintürmen und Türmchen, adeliges Bürgertum, neoliberaler Mittelstand, sportiv auf Überlebensmodus getrimmt, zwangsentschleunigt, beurlaubt, unbefristet oder befristet auf Halbmast hängender Wettbewerb. Menschen, ruhig gestellt, latent eingelullt, besprenkelt und berieselt mit phobokratischem Feinstaub und von propagierter Raffinesse einer allabendlichen Panikbebilderung gelähmt, chronisch Desinfektionsmittelbäder nehmend, online viral surfend, Gassi gehend, falls sie denn einen Hund als Alibi vorführten und ihn nicht gleich in den Keller machen ließen. Plastiktüten zum Eintüten hatten sich in unseren Haushältern zu genüge angereichert. Plastik war ja bekanntlich das Uran der kauflustigen Endverbraucher-Jetztzeit. Und das nicht erst seit gestern.
Alles lief bisweilen vorsichtiger, verhaltener und verunsicherter ab. Bei all der bescheidenen Sehnsucht nach Normalität sollte man nur nichts runter spielen, es ernst nehmen. Die Alten und Schwachen, also die Vorbelasteten schützen. Eindämmung der Ausbreitung, Unterbrechung der Ansteckungsketten undsoweiter. Kontakt sei Gefahr. Würde das so weiter gehen, konnte er sich den nächsten Besuch beim Häuptling abschminken. Und das herbstliche Fluten würde sein Vater bestenfalls vom Fenster aus beobachten können. Ein Mammutakt abgeforderter Volkssolidarität stand uns bevor. Der Schrei nach mehr Zentralismus und Autorität und auch das Jammern ob der ausgehebelten Menschenrechte wurde zunehmend lauter. Was den Empörten als Notstandsregime daherkam, bildete für die Mehrheit der Wähler zu diesem Zeitpunkt noch eine solide und zufriedenstellende Regierungs- sowie Koalitionsarbeit ab. Überall jedoch umgaben einen diese gefährlichen Menschen, lauerten einem förmlich auf, diese gefürchteten Grippesymptome, der schleichende Tod durch den unsichtbaren Feind, der Krieg gegen Terror, die eingeknickte Demokratie und die drohende Tröpfcheninfektion. Dazu die von oberen Regierungsorganen in eilig gebildeten Gremien abverlangte Solidarität - all das drohte nach Vergeltung. Aber Solidarität? Mit wem oder was? Etwa mit den Nachbarn, der Schwiegermutter, den Arbeitskollegen, der Gesellschaft, der Weltbevölkerung, der deutschen Bank? Dem Kegelverein, den amerikanischen Drohnenangriffen? War hierin der ein oder andere nicht bereits deutlich und wohlgemerkt aus der Übung?! Also ab ins Grüne. Immer auf Abstand, halte Abstand, bitte Abstand halten, sei sozial. Sozial asoziales Individualglück suchen inmitten von Schneisen maschineller Mordlust geschlagener Wälder voll aggressiv schreiender Motorsägen einer arbeitswütigen, vor den Hausdrachen und dem Virus sich auf der Flucht befindenden männlichen Landbevölkerung. Oh du deutscher Forst, gespalten wie das Volk, in Parzellen und Effizienz aufgesplittete Stangenware. Naherholungsgebiet. Selbst die unschuldig und unbeeindruckt daliegende Natur hatte ordentliche Seitenhiebe einstecken müssen. Die Invasion der coronös geschädigten Urlaubsrechtler hatte das Umland deutlich geschwächt, Mutter Natur ihrer heilsamen Kräfte, die auf das Wohl der menschlichen Psyche doch unmittelbar Einfluss nehmen sollten, beraubt und nahezu gänzlich entledigt. Da konnte sich sein Vater ja geradezu glücklich schätzen. Wo wenn nicht auf der Intensivstation konnte man sich in solch einer verrückten Zeit noch vom Drama des Untergangs des ehrwürdigen und altersschwachen Rechtsstaates erholen und soweit möglich sicher fühlen, wenn doch selbst seine heißgeliebten und abseitigen Rückzugsorte längst von einem Heer durchgeknallter Coroniäros vollgeschissen und somit weitgehend entweiht worden waren?
Herbstlicht?
Liberale sowie radikale Splittergruppen organisierten im Laufe des Sommers zunehmend sogenannte Hygienedemonstrationen, wurden jedoch durch divers bimmelnde Frühwarnsysteme als Covidioten, ja gar als rechtsradikale Antisemiten erkannt. Guerillia-Protestaktionen aus der ad acta gelegten Kunstszene verwiesen zu Anfangs noch demonstrativ auf die Harmlosigkeit des neuartigen Virus, beispielsweise durch das Abschlecken von Laternen, Ampeln sowie Türknäufen. In Wahrheit sei der Virus nur ein weiterer Vorwand zur Schwächung der EU durch imperiale Vormachtstellungskriege - mit allen Mitteln wurde aufgewartet und aus jeden Blickwinkel geschossen. Aber auch damit war es dann bald vorbei und die Kunst und Kulturszene verschwand hinter einem dichten Schleier kollektiven Schweigens. Kollateralschäden: Mittelstand und Prekariat. Inmitten platzender Blasen, fallende Kartenhäuser, rascher Dominoeffekt, gefolgt von Chaos. Rettungsangebot: Digitalisation im finalen Ausbau, gekoppelt an den finalen Rückbau der Grundrechte. Und das alles nur, da es zur Zeit noch keinen Impfstoff gab? Würde der Spuk mit dem Geschäftsmodell Impfstoff also ein für allemal vorbei sein und in durch Steuergelder gespendeter Sicherheit enden? Davon war der als entfesselt erachtete Pöbel nur ungern zu überzeugen. Eher ging das ganze in Richtung Radikalisierung und Volksbewaffnung, oder eben in Richtung bedingtes Grundeinkommen, zentralistische Zentralbankkapazitäten und schließlich in die freiheitliche Sackgasse. Zwar würde die vorgeschobene Staatsfürsorge in Milliardenhöhe temporär für Entspannung sorgen und doch wäre das Dilemma um die Freiheit mit einer nie dagewesenen Neuverschuldung nicht gelöst.
Ein ministraler Krisenstab wurde einberufen, Notfallpläne nochmals überarbeitet, mit den Grünen weiterhin widerwillig koaliert, präventive Hamsterkäufe weiterhin getätigt, ja selbst knüppelharte Exfrauen trugen den Vätern ihrer Kinder - desinformierten und desolaten Exmännern, Aussteigern und Ökoaktivisten im peripheren Abseits - geradezu aufnötigend Lidleinkäufe hinterher. Aus einstigem Beisammensein, aus einer Intuition heraus, quasi. Dann die ersten Fälle im Inneren. Schweigen am Rande, Aufruhr in den Zentren. Was gestern Abend noch Science-Fiction war, ist plötzlich Realität. Totalkollaps, unaufhaltsames Sterben, Niedergang. Ein quälendes Neuwerden steht uns bestenfalls bevor. Keine Rücksicht auf niemanden, Kinder, nahe Verwandte. Kahlschlag. Beginn einer Pandemie. Rote Zonen. Alarmismus und gewollte Panikmache. Das alles mochte sein Vater soweit schon richtig sehen. Also folgten als erster Angst-Impuls Hamsterkäufe, wohl als eine Art intuitiv angelegte Vermeidung von drohender Massenhysterie. An den Toren der Marken-Discounter, hin zur Grundversorgung, würde sich die neue Normalität abbilden.
Steckte da etwa der Chinese, Trump persönlich oder doch zuletzt wieder der Russe dahinter? Die gute alte Wilhelm Tell Nummer, der Akt mit dem platzenden Apfel. Die gute alte grauer Vorhang - Kalter Krieg Story. War das Ding wieder einmal mehr politisch motiviert, wie bei SARS verfälscht und gedeckelt? War da nicht schon einmal was mit Romsfeld, Antrax und vernichteten Impfstoffen? Wie auch immer, die Infektionsketten waren ebenfalls wie Informationsketten gerissen und nicht weiter nachvollziehbar, die Notfallpläne über Nacht überarbeitet und obendrein hatte es auch noch seinen Vater erwischt. Die Gefahr, sie war zumindest real, was jedoch keine Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung all der drakonischen Maßnahmen sein sollte. Doch die Schotten konnten sie jederzeit und