Doomscroll. Volker Fundovski
Händen sowie Papieren. Der bayrische Minister, der deutsche Gesundheitsminister und das RKI würden nicht lange fackeln.
Wenigstens würden wir mal wieder was Neues erleben. Adrenalin würde uns durch die Adern jagen wie einst in prähistorischen Gefilden der Jugend. Die Menschheit würde sich verjüngen, zumindest der Rest einer solchen. Theoretisch - also rein ideologisch - war das ja auch zu begrüßen. Praktisch jedoch Zumutung für Haus und Hof, Familie und Status Quo. Solange man nicht zur sogenannte Risikogruppe zählte, sollte ja nichts... wobei? Was war mit den Meldungen von den am Virus verstorbenen jungen Frauen und Kindern und kerngesunden Männern in ihren besten Jahren? Es war nicht auszuschließen - den neuesten Kenntnissen nach konnte ein jeder jederzeit der grassierenden Seuche zum Opfer fallen. Nur in einer Gesellschaft, wo das Allgemeinwohl überall und vielerorts für den eigenen Lifestyle gelyncht und gemeuchelt wird, steht es um die Disziplin und solidarische Voraussetzung, das Überleben in Zeiten des drohenden Elends gemeinsam zu schützen, nicht gerade rosig. Da konnte man hamstern wie man wollte, sich die Atemschutzmaske obsessiv überstreifen, ja gar in einem blumigen Anfall aus in Lebensratgebern empfohlener Kreativität selber nähen oder zumindest ein den eigenen Lifestyle repräsentierendes Obligat erstehen, direkten Kontakt mit Mensch und Türklinke meiden, bestenfalls Handschuhe tragen, in die Armbeuge oder gleich in die Achselhöhle niesen, sich selbst in die Verbannung katapultieren um sodann ausschließlich in den social-medias zu brillieren, zu transformieren und um neue Lebensreformmodelle buhlen oder eben wieder einmal mehr sich gänzlich im Datenwulst neu zu materialisieren, ja sinnbildlich zu verkörperlichen.
Und wenn der Wind erst über das Land zieht und den Samen mit sich trägt, ja - und die große schwarze Wolke über dem Grünten steht - dann, ja dann ist Achtsamkeit, Innehalten und bedachte Überlegung für ein jedes Individuum erforderlich. Letztlich, wenigstens im gesunden Sinne des eigenen Überlebens, sollte es doch zumindest in Zeiten der Krise dazu fähig sein, eine Einheit mit allen weiteren freien Individuuen zu bilden. Einen verbindlichen Zustand zu erreichen, der sich intakte Gesellschaft nennen ließe. Das Sandkorn bildet die Wüste, der Wassertropfen das Meer. Mein Vater bildete ebenso Wüste und Meer zugleich. Jeder war Wassertropfen, war Sandkorn. Sollte er nun etwa abdanken, da ihm die Idee oder der Fakt des Transhumansimus zu fremd, fern, ja zu einfordernd erschien? Die Infektion mit der folgenden Lungenentzündung würde der alte Raucher überleben. Soviel war sicher. Und die Transhumanz hatte er, als alter Hirte und Nomade, selbst gelebt. Ob er nun dem Transhumanismus gewachsen sein würde, das stand auf keinem mir bekannten Blatt. Wie konnte sich schon ein alter konditionierter Geist - stark, stur und starr, ein in sich abgeschlossenes und schlüssiges System - mit der grenzenlosen Entfaltung des menschlichen Hirns durch transzendentale Technikmythologien einen? Wie musste man sich das vorstellen? Gestern noch hatte der Mensch mit seinen Pranken Gott erschlagen, weitere standen noch aus und nun sollte man von Heut auf Morgen liebäugelnd mit einer rasanten technischen Entwicklung flugs ein smartes Leben führen im Glauben auf ewig regenerative Innovation eines künstlichen Ersatzangebotes?! Wenn der Mensch es selbst doch nicht wagt, Gott zu werden, so entwickelt er nunmal eine Technik, die ihm einen neuen Gott anbietet. Dieser Gott hatte sich, während wir ach so begeistert dem wahnwitzigen Geschehen beiwohnten, uns angebiedert und schließlich in unser aller Interesse wie verselbstständigt. Wieder hatten wir eine Instanz erschaffen, die uns beflügeln und zugleich begrenzen konnte, die uns Glauben schenkte, Verantwortung abnahm und obendrein einen grandiosen Ablasshandel mit all unseren Daten betrieb. Eine Instanz, erschaffen durch unseren nach Erlösung strebenden Geist, eine Macht, die uns in Schranken weist, manipuliert, steuert, lenkt, abscannt und folglich bereits besser kennt, als wir uns selbst je kennen lernen würden. Eine Macht, die all unsere Sünden katalogisieren und auf ewig verwalten würde, bevor wir uns selbst unsere Verfehlungen verzeihen und auf ewig vergeben konnten.
Wer konnte oder wollte sich denn selbst noch vergeben und dabei vertreten was er tat? Oma war als SUV-Umweltsau enttarnt, die Eltern als opportune Industrieproduktunterrührer und ewig gestrige Zombies entlarvt. Alles war längst aufgedeckt und erneut unter dem agilen Banner der Fridays for Future Bewegung aufgeflogen, durchgekaut, beigemengt, homöopathisch potenziert und wieder aufgeschüttelt, aufgerührt, aufgegossen, abgesiebt und nochmals erhitzt worden. Die Blase war erneut geplatzt, die gute alte klaffende Schere der sozialen Spaltung endgültig in zwei Hälften gebrochen: in die der rein Vermögenden und solche, die nicht rein von ihrem Vermögen zerrten. Nun konnte man sich das ängstlich ausweichende, zu Lifestyle-Gunsten zurecht gemogelte und geschmückte Gefasel der Mitwelt weiter anhören. Wie sie ihre Rechte einklagten und sich dabei nur flehentlich um sich selbst drehten und für das Wahren ihres gut unterfütterten Standards ihr Weltbild spirituell zurecht zu mogeln versuchten - ja, all das musste man sich anhören. In einer intakten Demokratie musste das genaue Hinhören geradezu als erste Bürgerpflicht geltend gemacht werden. Kritik war dabei auch und vor allem auf sich selbst zu richten. Gerade das eigene Ausweichen und Einlenken, das sich der eigenen Verantwortlichkeit durch infantil anmutende Glaubenssätze weit von sich weisende und selbstbetrügerische Entziehen - diesem in still schmachtender Ohnmacht und blind loyaler Passivität eingehüllten Schweigen galt es sich zu entziehen.
Die inneren Klagemauern, sie mussten entgültig eingerissen werden und Taten folgen. So wie sein etwas verwirrter Vater gefordert hatte. Hatte der Häuptling ihn nicht geradezu aufgefordert, unbedingt wachsam zu bleiben!? Dem Alten zu Ehren hier nun ins indianische übersetzt, bedeutete jeder Aktivismus wie etwa der der Fridays for Future Bewegung, immer noch die größtmögliche Blöße des gestutzten Adlers durch das mündig sich erhebende Reifen der eigenen Küken. Wenn die Nachhut nun auch noch nachhaltig zu fliegen lernen würde, so wären wohl jegliche Erziehungsfragen ad absurdum geführt. Demnach war es dem Häuptling durchaus ernst, wenn er davon sprach, dass Großmutters zu hoher Spritverbrauch erst einmal von YouTube-süchtigen Kids enttarnt als Attentäter gegen die eigene Zukunft vom Markt geschleudert wäre, so käme wieder Hoffnung auf und die schwarze Wolke, die der Häuptling in seiner senilen Sekunde heraufbeschworen hatte, würde sich vielleicht für einen tröstlichen Moment lichten und ein neuer großer marktaffiner Slogan käme aus dem Zenit des werdenden Morgens über uns wie die göttliche Verheißung des herbstlichen Lichts und nicht dieser nixige Corona-Virus. Und dann musste dieser Virus ironischerweise auch noch den robusten Alten befallen.
Das Dilemma der Geistwerdung in der Welt zu verinnerlichen bedeutet sich selbst für die Idee des Geformten und Gewordenen hinzugeben, ja wenn nicht gar aufzuopfern. Und das ohne jede Idee und Alternative, weder getragen von einem Traum noch begründet durch einen konstruktiv erbrachten Gegenvorschlag.
Liebe ist weder einförmig noch stromlinienförmig. Sie schwingt sich auf, bewegt ihr Bein mal nach links, mal nach rechts, nach hinten wie nach vorn. Oh, schenkt sie uneingeschränkt euren Kindern und verlasst endlich den Turm, ob mit oder ohne SUV, ob barfuß oder auf eines Esels Rücken. Hühnerstall, Motorrad und Chor, mit dem Elektroroller in eine strahlende Zukunft. Doch vor dem eingeleiteten Golfstrom-Polkappen-Klima-Drama nun erst einmal dieses ätzende Viral-Intermezzo und somit die Frage: Soll ich mein Wellnesswochenende durchziehen oder lieber abblasen, mal daheim bleiben, mal Fünfe gerade sein lassen, der Gesundheit, dem Arterhalt, ja auch dem Klima zuliebe. Obendrein für das Gute zum nichts tuenden Antihelden verkommen und das Sofa und das Büro zum Schlachtfeld erheben, zur Schaustätte eines Frontkrieges gegen einen unsichtbaren Feind im Innern. Oder sollte man noch schnell - nur für alle Fälle - vor dem großen Crash, etwa sein Tattoo fertig stechen lassen? Der Tätowierer war doch auch so ein cooler Typ und außerdem ist da ja noch eine Rechnung offen: Man muss doch die kleinen und regionalen Unternehmen stärken und unterstützen. Regionale Ware konsumieren, global denken, glokal handeln. Gerade jetzt, wo es quasi fast zu spät ist. Früher oder später werden wir sowieso bei Amazon Kunde sein. Sammelbestellungen werden wir aufnehmen, falls wir doch noch zueinander finden sollten, zu unseren Nächsten, den diffamierten Nachbarn. Falls irgend ein Anlass uns das abverlangen sollte, einen Vorteil hierin zu erkennen, so würde es auch wieder mit dem Nachbar klappen. Schließlich sind wir ja der Souverän.
Er musste sich gedulden und in der Ruhe bleiben. Der Häuptling würde das schon schaffen. Und falls nicht - er selbst sponn ja bereit die selben abstrusen Gedanken wie sein Vater. Wirre Häuptlingsgedanken.
Zu hinterfragen – zumindest das hatte sein Vater ihm beigebracht. Würde der Häuptling - wie er ausdrücklich erbeten und geradezu eingefordert