Doomscroll. Volker Fundovski
Doch die Menschen, sie hatten nun einmal unterschiedliche Vorlieben. Ein Blinder würde gerne sehen, während ein Sehender nur selten erblinden mochte.
All diese frühgeschädigten Interessen blinder Menschen, die naturgemäß auch die subkulturellen Aussteigerkulturen mit ihrer Destruktivität befielen und regelrecht zum Scheitern zwangen und dabei große Töne von einer glanzvoll sicheren Zukunft spukten, in der wir doch alle an einem Strang ziehen würden – in alledem erkannte er einen gewaltigen Schwindel. So gesehen bedeuteten ihm all die schönen Reden dieser schwer gebeutelten Leute, die sich bei ihm einfanden, meist nichts weiter als es auch schlussendlich Maffesolis theoretisches Schwärmen vom neotribalen Siegertypus tat. In seinen Ohren nichts als leere Phrasen.
Der Anywhere, der hier und da, wenn es ihm danach ist - etwa im Urlaub oder auf kreativer Exkursionsreise zum Erwerb altem Wissens und zur Erlangung neuer Ideen - einen auf Somewhere macht und der Somewhere, der gelegentlich finanziell vom Retro-feeling des Anywheres zerrt und zugegeben auch liebend gern ein Vollblut-Anywhere wäre - das war also das Arrangement für ein zukünftiges Miteinander. Ihr Plan für ein besseres Morgen.
Von der Kulturindustrie gesteuerte Konsumenten mussten seiner Ansicht nach erst zu wahrer Menschwerdung finden. Und um diese Leistung zu vollbringen musste man nicht zwingend ein Anywhere sein. Im Gegenteil. Als Somewhere hatte man sich vermehrt im Verzicht zu üben, während man als sogenannter Anywhere eben ein Lebtag lang in seiner Bevormundungslogik verharrte, überall und nirgendwo sich einzurichten wusste und somit mehr und mehr den Draht zur Herkunft einbüßte und dabei das Leben anderer gefährdete, daran herumzerrte und dabei das für einzig richtig empfundene Leben erwartete.
Und wenn wir schon dabei sind: Satt hatte Gandalf auch das Freihandelsabkommen, den kalten Krieg der digitalen Umstrukturierung, heuchlerische Empörung der Massen sowie der verantwortlichen Eliten, ohnmächtiges Gejammer besagter Opfer, Kleinmut und Niedertracht, falsche Empörung und Humanismus, all das etabliert blinde Gesinde eines verlogenen, an sich selbst sterbenden Gesterns, das obendrein auch noch vom Anywhere-Dasein schwärmte wie Maffesoli vom postmodernen Nomaden.
Und erst dieses Wischi Waschi aus Alt und Neu. Nein. Auch mit dieser Vermischungs- und Green-Washing-Kultur konnte er nicht mitgehen. Auch er habe zulange am Versuch des Einens schier unvereinbarer Gegensätze festgehalten und zu lange gehadert. Nun aber war er sich sicher: Altes hatte sich bewährt und würde diesen Vorzug vor so mancher Innovation auch weiter leisten. Altes hatte sich schließlich bewährt. Zu synkretistisch kamen sie daher, diese milden Versöhnungs- und Verbrüderungsversuche zwischen Gestern und Morgen, Alt und Neu. Ob in der Produktion von Gütern, der Architektur, der Philosophie. Das neue war für ihn einfach noch zu formal und zu unbewehrt. Und der Mitte zugewandte Sinnesverschmelzungen führten sowieso unweigerlich zu diversen Legierungen, was nicht immer förderlich sei. Entweder überlebt zuletzt der Hybride, die Mischkultur oder die Reinheit des allerhöchsten Fixstoffes. Aber das war nichts weiter als das ewig gestrige Prinzip überholter Rassenlehre und eben doch allzu nahe am Denkmodell postmoderner Eugenik angesiedelt. Hierin kam er nicht weit. Hierbei handelte es sich nur um eine unheilvolle Verschmelzung aus alten und neuen Ideologien. Diese verwirrende Logik der Verschmelzung von Altem und Neuem sprengte den Rahmen des Denkbaren wie die Unendlichkeit. Selbst noch die sichtbare Endlichkeit sprengte den Rahmen des Vorstellbaren. Wenn doch vereinfacht betrachtet alles eins war, dann war diese komplizierte These gleichzeitig nur schwer zu akzeptieren. Das musste er sich wieder einmal mehr eingestehen. Somewhere und Anywhere als ein im Kern einheitlich beschaffenes Seelenwesen zu denken überstieg schlichtweg seine derzeitigen mentalen Handlungsspielräume. Durchaus hätte er sich auch mit etwas primitiveren Aussichten auf ein etwas einfacher gestricktes Leben zufrieden gegeben. Unendlichkeit und Endlichkeit - beides unvorstellbare Artefakte menschlichem Unmuts und Strebens zugleich. Und obendrauf diese ewig wiederkehrenden und traurigen Konfrontationen mit den allzu menschlichen Erwartungen der neuen Mitglieder.
Gekommen war er um zu bleiben. Kein Unheil dieser Welt würde ihm sein Areal streitig machen. Kein Großindustrieller und kein Bürgermeister, weder identitätsnaher Jäger noch hyperaktiver Umweltschützer. Genau genommen erwartete er auch von den Mitgliedern diese Loyalität. Dass sie - würde es darauf ankommen - ihr Anliegen auch verteidigen würden. Sicher, in einer freigewählten Gemeinschaft konnte man derlei Forderungen nicht stellen und erst recht nicht von einem jeden Individuum unaufgefordert erwarten. Soweit die Crux. Auf Chorgeist und Binnenkultur setzten einst die Stammesfürsten. Er war jedenfalls angekommen. Und zu einer Enteignung von Land und Besitz würde es nicht kommen.
Damals - als er noch bei seinem bürgerlichen Namen genannt wurde - wollten ihn seine Studienkollegen als WG-Mitglied für sich gewinnen. Nichts zu machen: Mit Fertig-Pizza mampfenden Trotteln wollte er schon damals nicht die Küche teilen. Und erst recht nicht die Toilette. Derlei löbliche Eigensinnigkeiten hätten ihn schon damals nahezu in die Vereinsamung getrieben, hätte er nicht rechtzeitig seine fehlerhafte Gesinnung erkannt. Man musste den privaten Raum bis aufs Äußerste öffnen, ihn ins Öffentliche überführen, um sich schließlich von der Knechtschaft des Geistes zu befreien. Sein damaliger Sinneswandel jedoch war keineswegs mit Automatismus zu verwechseln. Ohne die Erkenntnis, Privateigentum auf ein Minimum reduzieren zu müssen, um schließlich das Bewusstsein in klärender Leere zu schärfen, wäre es niemals zu diesem Projekt gekommen. Ein Haus im Süden. Vielleicht eine rustikale Hütte in den Bergen. Ein Chalet. Reisen. Zerstreuung und gut. Aber dazu ist es nicht gekommen. Berufen war er.
Seine Eltern hatten sich an der konventionellen Landwirtschaft systematisch nieder geschuftet, was dazu führte, dass sich sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn bereits in jungen Jahren festigen durfte und seinen Sinn für nachhaltiges Wirtschaften erst schärfte. Unmittelbar nach einem abgeschlossenen Agrarwirtschaftsstudium hatte er den elterlichen Hof übernommen, um, getrieben von übermütigem Eifer, auf biologischen Anbau umzurüsten, was für die Familie alles andere als ein leichter Schritt gewesen war. Doch dieser durch ihn begangene Schritt sollte über alles Weitere entscheiden.
Doch dieses Standbein war nun weggebrochen. Wie doch so vieles weggebrochen und Neues in sein Leben getreten war. Die vom Markt abhängige biologische Landwirtschaft hatte er, als das mit dem Virus begonnen hatte, von heute auf Morgen auf Eis gelegt. Innerhalb eines Jahres hatte er dann das ehemalige Bauernhaus, durch einen Kraftakt gewagter und tatkräftig angegangener Neuorientierung, in ein provisorisch ausgebautes Basislager für Neuankommende verwandelt.
Initiationsritus oder der Liebe letzter Rückhalt
„So so, jetzt haben sie also den Stoff, aus dem heute die Träume sind.“
„Welche Träume?“
„Natürlich die Träume der Massen! Sie sehnen sich nach dem Stoff der Freiheit, der Sicherheit und der Gesundheit. Der neue Impfstoff, auf den doch die meisten Hygieneextremisten da draußen bereits sehnlichst warten. Ihre Erlösung, ihr aller Traum. Oder willst du etwa behaupten, dein Traum - vorausgesetzt du verfügst über einen solchen - würde einer anderen Natur entspringen?“
„Das will ich nicht behaupten. Er äußert sich mal mehr oder weniger vehement!“
„Ach ja, ist das so? Und was tust du, um die Vehemenz des aufkommenden Willens zu stillen?“
Ich springe unten am Wasserfall kopfüber ins kalte Wasser oder klopfe spontan an den Pforten deines neugegründeten Stammes an!“
Gandalf schmunzelte, was nicht bedeuten musste, dass er sich auch amüsierte.
„Na dann such dir einen Schlafplatz aus. Es wird sich schon was finden!“
Hiermit war ich aufgenommen. Ein euphorisches Zugehörigkeitsgefühl jedoch blieb aus. Das Ganze war - wie sagt die Jugend so schön: etwas spuki. Nicht, dass ich eine Gefühlsäußerung wie Geborgenheit, Übereinkunft und Zugehörigkeit erwartet hätte - sie begrüßt hätte ich allemal. Nur das mit dem Einfinden in die Angehörigkeit und Übereinkunft mit einer gemeinsamen Sache war mir nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Kurz: Wie offen gegenüber verbrüdernden Gesprächen ich auch sein sollte, so war ich gleichsam auch auf Abstand gebürstet. Die Rudelwärme mit all ihren Vorzügen war nicht mein