Doomscroll. Volker Fundovski
da deutlich zu vernehmen. Würde Gandalf im Ernstfall kapitulieren oder die uralte Flinte, die er irgendwie von seinem Vater vermacht bekommen hatte, aus dem Schrank holen und im Affekt alles aufs Spiel setzen und sein im Wesen pazifistisches Ideal über den Haufen werfen? Würde er gar - sofern es darauf ankäme - mit den Reichsbürgern kooperieren, etwa einen Korridor bilden, der den regen Austausch zwischen den Stämmen gewährleisten würde? Quasi einen Oberallgäuer Ho-Chi-Minh-Pfad als Versorgungsroute interaktivem Austauschs in die Wege leiten? Und würde Harry schließlich sein Smartphone beiseite legen, sein Haar zurückzustreichen, um darauf mit gefletschten Zähnen, der Bedrohung seines Lebens - dem Gipfel der Destruktivität - in die garstige Fratze zu fauchen?
„Wärst du auch bereit, für die Gemeinschaft einzustehen? Würdest du sie verteidigen, sie schützen? Wie lange bist du jetzt hier - vier oder fünf Tage? Ich weiß, das ist eindeutig zu viel verlangt. Aber versteh mich nicht falsch. Überall geht es um Sicherheiten. Ich kann mich nicht rein auf mein Gefühl verlassen. Die Zeiten sind mehr als unsicher und streben somit vermehrt nach Absicherung. Und bisher hast du dich bevorzugt am Rand aufgehalten.“
Das musste ja kommen. Nur war es eindeutig zu früh, sich diesem voreiligen Initiationsritus zu unterwerfen. Ich wich aus, indem ich das Gespräch auf meine pazifistische Orientierung hinlenkte, worauf er sofort unter einer schnittigen Handbewegung, eine Art gestikulierter Kung Fu-Schlag, abblockte. Diesen Blödsinn habe er von jedem anderen Mitglied auch gehört. Von mir habe er das nun wirklich nicht erwartet, schloss er und schüttelte theatralisch untermalt den Kopf, was mich wohl zu einem schlechten Gewissen bewegen sollte, wobei sowohl sein langes, zu einem Dutt gebundenes Haar als auch sein ungestümer Bart lustig mit wippte.
„Du würdest also weder Partei ergreifen noch zur Tat überschreiten?“ Umzingelte er mich nach einer nur vom Knacken des brennenden Holzes und den Gesprächen der Mitglieder übertönten Schweigeminute.
„Ich würde dem Geschehen mit meiner ganzen Aufmerksamkeit beiwohnen und bei Bedarf einschreiten.“ entgegnete ich wahrheitsgemäß und ohne weitere Umschweife.
„Das lässt sich hören. Nur, bist du dir da sicher? Nochmal - ich brauche Sicherheiten. Tut mir leid. Ich weiß dass das nervt. Aber das reicht mir nicht. Ich muss mich voll und ganz auf dich verlassen können. Verstehst du das?“ Sein Blick war durchdringend. Allmählich kam ich mir bedrängt vor. Sein Anliegen war allzu verständlich und doch konnte ich ihm nicht geben, was er von mir einforderte und geradezu erwartete und mir somit regelrecht abverlangte. Voreilige Loyalität und Treue.
„Als Sicherheit muss dir dein Vertrauen in mich genügen. Mehr kann ich dir derzeit nicht anbieten,“ vertröstete ich ihn kühn. „Meine Reaktion ist und bleibt abhängig von dem was kommt. Da lass ich mich nicht festnageln,“ untermauerte ich meine Haltung.
„Ja...“, seine Stimme klang versonnen. Sein Blick fixierte wohl irgendeinen Punkt im Dunkel des uns umgebenden Waldes, „...ja, Ich glaube das reicht mir.“
Die Initiation ist der Ritus, der ausbleibt. Mehr Sicherheit kann man in unsicheren Zeiten sicher nicht erwarten.
Meterhoch türmten sich da draußen in den angeschlagenen Haushalten die Sorgen um das Morgen. Wie würde es ihr und ihrer Tochter ergehen, fragte er sich. Hatte sie mittlerweile die Scheidung eingereicht? Der Termin musste gestern gewesen sein.
Und wie ging es eigentlich seinen eigenen Kindern? Was würde seine Ehemalige in diesem Moment mit ihnen unternehmen und würden sie auch hin und wieder miteinander über ihn reden? Was dachte sie eigentlich über die jüngsten Entwicklungen? Wie würde es seiner Tochter, seinem Sohn ergehen? Dem Gedanken wollte eine Reaktion, gleich einem Reflex, erfolgen. Sein Mobiltelefon jedoch lag im Auto.
Nachkommenschaft
Da Gandalf es vermied, bei den abendlichen Gesprächen seine Familie zu erwähnen, drängte sich mir - wie bereits erwähnt - die Vermutung auf, dass er bei der Planung des Projekts die Ansprüche seiner Söhne nicht ausreichend berücksichtigt habe mochte und mit ihnen deshalb im Argen lag. Den wenigen Worten zufolge, die er über seine Familie verlor, waren auch sie längst übergelaufen in das Lager der Hetze. Die EU finanzierte derzeit einige fragwürdige Projekte, obenan soma - die EU-Beobachtungsstelle gegen Desinformation. Bei vielen älteren Kindern und Jugendlichen hatte diese Aufklärungsoffensive in kürzester Zeit ganze Arbeit geleistet. Ohnehin war man nur noch von separaten Lagern umgeben. Wohin auch sollten die Kinder übersiedeln, wenn nicht in feindlich abgesonderte Lager. Die Aufteilung der Welt in Gesinnungslager, Stämme, Interessenverbände, bestenfalls in Gemeinschaften - so sah sie aus, die Zukunft. Und die Interessen der Kinder waren der Konformität untergeordnet, da deren industrialisierte und digitalisierte Begierden lauter einforderten und schlichtweg stärker waren als das Wehklagen der ewig Gestrigen, mochten sich jene auch noch so auf die sogenannte Zukunft wie in eine neue Offenbarung stürzen. Sie blieben den Kindern rückwärtsgewandte, ewig gestrige Spaßbremsen. Algorithmen bestimmten wer der Herr im eigenen Hause war. Nicht die Eltern.
Man kann sich nicht der eigens geschaffenen Realität entreißen. Eine Brücke braucht man zu Zeiten der Veränderung und diese haben unsere Kinder bereits errichtet. Durch das Drücken von Knöpfen, durch das Streichen und scrollen ihrer zarten Finger über Touchscreens. Sie haben bereits über die Zukunft entschieden. Egal, welche Stämme sich in welche Wälder auch immer zurückziehen, welche Ballungszentren von Morgen auch immer sie erobern werden. Die Geschichte wird sich wiederholen. Man braucht ihren Anfang nicht künstlich empor imaginieren. Die Nachkommenschaft hat bereits über die Zukunft entschieden. Wie die Erwachsenen so sind auch sie dem Triumphzug des eingebrannten Modells verfallen, im Konsum haben sie sich ganzheitlich eingerichtet. Es ist zu spät. Unsere geliebte Brut wird uns Fressen, uns das aufgesetzte Ideal wie die Wilden das Herz des Feindes ausreißen und roh pochend verspeisen. Unsere Kinder haben verinnerlicht, was wir im Eifer des Gefechts erschaffen und übersehen, wieder und wieder verdrängt haben. Nun sind unsere Kinder an der Reihe. Sie fressen uns mit Haut und Haar, tilgen uns mit unseren eigenen Waffen. Ja, sie bekämpfen Gleiches mit Gleichem. Sie sind die Zukunft, nicht wir. Und am Ende werden ihre Kindeskinder dann unsere Reliquien ausbuddeln und unsere späte Kehrtwende und Besinnung wie eine schräge knöcherne Naturreligion ehren und huldigen. Und immer so weiter und sofort. Gandalf wusste das, ich wusste es, die Mitglieder wussten es. Vielleicht auch Harry. Doch das mit dem Wissen war so eine Sache. Sicherheit durch Wissen. Sicherheit, die der Fürst auch aus mir zu pressen gedachte. Oh, wie sicher unsere Welt doch wäre, würde uns unser Wissen gleichsam Sicherheit spenden.
Schon Platon wusste, dass die Einsicht konträr dem Handeln angesiedelt ist. Dass die humanspezifische Aggression hinzukommend uns schließlich wieder und wieder die Suppe versalzt. Das geringe Empörungspotential sowie unsere Zustimmungserhöhung weisen uns durch mannigfaltige Gesinnungskorridore hindurch letztlich doch in Schranken. Die Duldungsstarre löst sich nur langsam mit dem materiellen Zerfall und dem Schwund an Sicherheit, die gespielte Empörung weicht innerster Aufruhr. Und dann sind da unsere Kinder mit ihren federleichten Smartphones, den Blick mehr aufs Display als in die Zukunft gerichtet.
Ein Zivilisatorisches Gegenmittel, ein Aufwind an Menschlichkeit kann nur von Unten kommen. Egalitäre Prozeduren zur Vermeidung von institutionalisierter Macht und Gewalt. Ob das sogenannte Volk nun endlich dieser Selbstverantwortlichkeit ihre langersehnte Ehre erweist? Die Kosten für Repression waren nie so gering wie im Gefolge der Digitalisierung. Die Platonische Regulierung des uneinheitlichen Geistes, der Affekt-, der Triebseele sowie der Vernunft, also das Ideal der heutigen Demokratie, ist nicht aufgegangen. Machtinteressen haben selbst die Philosophie Platons untergraben und sie sich zu eigen gemacht. Es kratzt der Mensch an der Wand der Höhle.
Die Bündelung von wirtschaftlicher Macht wird als Faschismus definiert. Diese Bündelung von materiellem Wohlstand und der national orientierte Erhalt von wirtschaftlichen Machteinfluss kommt nicht umhin, sich der antifaschistischen Kritik zu unterziehen. Die steil-viral gehende Handlungsunfähigkeit der Massen hält das Unrechtssystem am Laufen. Wir alle müssen uns gegenseitig schützen. In diesem konfusen Selbstschutz findet schließlich der Faschismus Schutz und Deckung. Wer nicht erkennen möchte, dass auch er ein Teil dieser zugemuteten Kollektiv-Verdrängung ist, der nährt Bestehendes