Doomscroll. Volker Fundovski
Anpassung an eine bestehende Kultur definiert.
Wir fördern das was uns behagt, den Rest blenden wir aus. Selbstmarginalisierung steht der Assimilation an veränderte Lebensgrundlagen gegenüber. Eine kulturelle Adoleszenz jagt die andere. Ziellose Verwerfungen, Verschiebungen und Umlagerungen sind die Folge. Und wieder folgt eine neue Phase der Individuation. Unermüdlich ermüdend. Eine x-te verflixte Neugeburt folgt der soeben erst geborenen Idee, große Affekte und Gefühle wie pubertäre Omnipotenzphantasien. Der Schmerz, rührend aus der Trennung von psychischen sowie sozial umhegten Räumen der Kindheit, durchtränkt unsere heimatlosen Herzen, flutet überreizte Hirne leergefegter Ideologien. Eine ewige Adoleszenz, Heimatverlust, Existenzangst, drohendes Scheitern.
Auch ich war und bin ein postmoderner Hanswurst. Kulturpessimist, innerer Nomade und somit ewiger Adoleszenzler. Der Apfel fällt nicht weit von des Häuptlings Stamm. Deformierungs - sowie deutliche Umlagerungsprozesse hatten sich an Körper, Geist und Seele zu schaffen gemacht, worauf selbst meine Freiheitsdefinition unterjocht war vom klaffendem Zeitgeist. Wenn erst die Realität einem zerbrochenen Spiegel gleicht, dessen Scherben verstreut auf dem Boden liegen und der sich dem Begehen sowie Stehen unweigerlich entzieht, gar widersetzt, sich aufwirft, Risse bildet, alsbald jäh klafft, um sich daraufhin nahezu unmerklich zu verschieben, so fällt die Orientierung an Halt gewährender Fixpunkte durchweg aus. Ohne Fixpunkte aber trudelt der Mensch ins Leere. Diese Leere hatte mich, hatte Harry, hatte all die Darsteller auf der Bühne der Realität zusammengeballt, die Gandalf uns stellte. Ödnis hatte uns in das Reich blütenblättriger Hoffnungen geführt. Emigranten des Geistes, Randexistenzen, die auf ihrer 'Flucht', der Verschiebung ins Abseits, am Rand des Abbruchs tanzend, allein durch ihren puren Lebensdrang der grassierenden Gleichschaltung entgegen zu wirken versuchten, indem sie das Abseits zum Zentrum ihrer derzeitigen Auffassung für nachhaltige Lebenskunst avancierten.
Überbevölkerung und Konsequenzen
Durch den Rückzug ins Private lässt sich das Unbehagen inmitten einer zerfallenden Kultur über einen gewissen Zeitraum hinweg überbrücken. Darauf findet sich das Individuum, je nach konditionalisierter Frustrationsgrenze, mehr oder weniger organisiert, an den Pforten neu orientierter Sozialisierung ein. Das Ideal sozial varitabler Strukturen ist ebenfalls wie die Liebe Motor und Antrieb artspezifischer Selbsterhaltungsprozesse. Wir überdauern das Dunkel, um uns im Lagerfeuerschein früher Sozialisation wiederzufinden. Das sind die vor der Desillusion verschont gebliebenen Randbezirke und Ruhezonen unseres Glaubens an uns selbst, ja gar an unsere dem Untergang geweihte Art. Und während Transhumanismus-Experten und allerlei gewiefte Technokraten unser Gehirn entschlüsseln und nebenbei das Universum erobern, finden sich Rückbesinnende oberhalb der Buchenegger Wasserfälle ein, um etwa über den nachhaltigen Umgang mit der Fruchtfolge in Wort und Tat zu transformieren.
Das im eigenen Garten angelegte Gemüsebeet erwies sich mehr als ein Alibi vor mir selbst, weniger als ergiebige Grundlage ein Stück Autarkie zurückzuerobern. Ein rührender Versuch, nichts weiter. Es spiegelte im Angesicht einer beschämenden Verlorenheit mein eigenes Wesen wieder. Das Beet stand bereit, trug, wenngleich imaginäre, so doch keine reifenden Erdfrüchte. Zeichens der Entfremdung von essenziellen Arbeitsprozessen durch lange zerrende Arbeitstage, erwies sich mir, als Einzelperson, der Gemüseanbau als ein hoffnungsloses Unterfangen. Dieser Fakt, Bestandsaufnahme des Moments, der mir meine dezimierte Begabung, nachhaltige Arbeitsprozesse effizient zu etablieren aufzeigte und unweigerlich unter die Nase rieb, dass ich doch ein Gartengestalter in Lohnarbeit war und kein autarker Ökobauer, hatte mich auf den entlastenden Gedanken gebracht, spätestens im kommenden Frühjahr einer Solidarischen Landwirtschaft beizutreten. Kurz darauf hatte ich von Gandalfs Projekt erfahren.
Zentrifugalkräfte, verursacht durch die Trägheit der Körper, vergiftete Wahrheiten allerorts. Medial vertrieben wie Minderheiten aus annektierten Regionen, entsandt in alle Welt, desperate Lebensgrundlagen, ihrer solidarischen Zugehörigkeit beraubt, vermarktet und verwurstet, Zerstreuung und Konsum, Blasenbildung und alltägliche Selbsteinschränkung – durch all diese Artefakte der Zersetzung, hatte auch ich mir den Zugang zu den ersehnten Feldfrüchten durch ein vorwiegend in der Theorie verhangenes Dasein verwehrt. Theoretisch sowie praktisch jedoch war mein Beet ein Schneckenparadies, von Wildkraut und Co besiedeltes Brachland. Eine Gründüngung für zukünftige Verwilderung. Ein Abstrich meiner Seele und Außenaufnahme, die Einblick ins Innerste gewährte. Alleine ließ sich nicht viel Handfestes ernten und einbringen. Ein paar Dutzend Radieschen, etwas Kopfsalat, Kartoffeln und Rüben, einige wenige Kohlsorten. Die Goldenen Gaben lagen im goldenen Wagen im Supermarkt, her gekarrt aus aller Herren Länder. Das Ideal des eigenen Gemüseanbaus wurde mit jedem Einkauf zermalmt im Eifer zertrümmerter Aufmerksamkeiten.
In diesem Haufen voll zertrümmerter Aufmerksamkeiten mussten auch all die Mitglieder erwacht sein, mussten sich inmitten dieses Trümmerfeldes neu entdeckt und von Teilbereichen reflektierender Scherben widergespiegelt haben. Wüste Fratzen mochten ihnen dabei ins schweißgebadete Antlitz gestarrt haben, da nach Liebe trachtende Herzen auf unfruchtbaren Böden bluteten, bis sie sich schließlich selbst reanimierten, auferstanden, die Umstände sie revitalisierten, sie sich sehnten nach der Rückeroberung ihrer kindlichen Unschuld, ihrer ewig währenden Unschuld.
In den ersten fruchtbaren Gesprächen mit diversen Mitgliedern hob sich eine Kernthese des gandalfschen Kosmos deutlich hervor: die These der Einkinder-Beziehung, der Sterilisation sowie der unbedingten Verhütung. So sehr sich mir die Theorie auch durch die klaren Worte einiger Mütter aufdrängte, so nachvollziehbar war dann auch deren Annahme, durch Regulierung, Geburtenkontrolle, bewusstes Entsagen und fein sensorische Achtsamkeit den Herausforderungen unserer Zeit entschieden entgegenzuwirken. Verspätete evolutionäre Frühwarnsysteme, nannte Gandalf die als ein Opfer an Erdenmutter Gaia zu erachtenden Regularien scherzhaft, ja gar Zeremonien der Achtsamkeit, wenngleich derlei Disziplin der Natur einer jeden intakten Spezies widerstreben mochte. Die meisten Mitglieder jedoch hatten diese strikte These als rational annehmbar akzeptiert, andere wiederum konnte Gandalf erst nach langen hitzigen Diskussionen zumindest Offenheit und Toleranz abgewinnen, welche er ebenfalls als eine Art Tribut erachtete, das zu zollen die Gemeinschaft den Anforderungen für ein besseres Morgen wappnen würde. Die meisten schienen die Theorie bereits in ihre alltägliche Lebenspraxis eingewoben zu haben, was ehrlich gesagt meinen libertär ausgerichteten Vorstellungen und Erwartungen deutlich widerstrebte. Anmerken ließ ich mir diesen desillusionierenden Seitenhieb nicht.
Gandalfs Söhne lebten wie der Großteil aller Scheidungskinder bei ihrer Mutter. Über die Kinder sprach er wenn überhaupt dann nur sporadisch, jedenfalls nicht direkt. Er hatte sich wohl - seinen kryptischen Anspielungen nach - mit seiner Familie bis aufs Äußerste zerworfen. Daher waren wohl auch keine näheren Berührungspunkte sowie verpflichtende Familienaktivitäten mehr vorgesehen, die ihn davon abgehalten hätten, sich mit voller Hingabe in das Projekt zu stürzen und den Anforderungen des Existenz sichernden Gemüsebaus zuzuwenden. Hinsichtlich seiner allabendlich an uns gerichteten Darbietungen, gab es hierin keinen Zweifel. Es war davon auszugehen, dass auch er seine beiden Söhne an die Datenkraken supersplatternder Informationskonzerne verloren hatte. Diese Pathologie hatte nahezu alle Familien erfasst, wenn nicht geradezu dahingerafft. Man konnte dem Geschehen nur mit entrückter Klarheit beiwohnen oder sich einer Sucht unterwerfen, einer Sucht des Vergessens. Zu variabel war das Diktat der Ohnmacht, zu weitläufig das Netz der hungrigen Spinne. Das wir unsere eigene Existenz mittlerweile mehr verwalten als sie zu Leben, vermag zu diesem entsetzlichen Zersetzungsprozess beitragen und zusätzlich Binnenangst schüren. Hatespeek, Gangsterrap, Virologen, der Digitalisierung untergebene Oberbürgermeister und Schulleiter, die Strategien der neuen Normalität, Smartcitys auf der einen, Landsturm mit feuchtem Smarthome-Dream auf der anderen Seite, all das war nicht auszuhalten und doch hatte die Agenda längst über die eingeschlagene Richtung entschieden. Den Rest würden die Algorithmen übernehmen. Man konnte nun tatenlos sportiv oder phlegmatisch passiv weiter vibrieren oder man schloss sich einer Sache an oder gründete wiederum Alternativen. Noch funktionierte der Rechtsstaat, ebenfalls in Form verwalteter Existenz zum Nachteil lebendiger Substanz.
Eine Gesellschaft wird pathologisch, sofern sie sich ihres naturgemäßen Habitats entfernt. Hier definiert bereits Rousseau den Zeitgeist der Postmoderne lange vor ihrer endgültigen Heraufkunft. Durch den aufkeimenden,