Doomscroll. Volker Fundovski
Verständliche saugte, alles in Mehrwert ersäufte und verschlang, trieb schon zu lange sein hässliches Unwesen. All die Landwirte, Handwerker, zu niederen Stände und zu hoch angesiedelten Intellektuellen - waren sie nicht allesamt gelackmeierte Nomaden? Postmoderne Umtriebige, eingelullt und weichgespült. Dem Glauben an ihr Selbst beraubt, da alles seinen Preis hatte, nichts mehr einen Wert. All die Sportler und Arbeitsamen mit ihren industriell gefertigten Hilfsmitteln, Gerätschaften und Werkzeugen - waren sie nicht einst allesamt stolze Krieger gewesen? Selbstgefertigte Werkzeuge und Waffen, eingetauscht gegen einen kleinen Allround-Computer und ausgestattet mit vielerlei künstlichen Bedürfnissen, gekoppelt an eine reiche Produktpalette aufgezwungener Wertigkeiten, die nichts als sinnlose Industrien rechtfertigten und die ohnehin einlullende Scheinzufriedenheit und Entfremdung der User weiter begünstigten. Wo waren sie nur, all die solidarisch vereinten Kämpfer des Überlebens, die Einforderer grundlegender Bedürfnisse und Rechte? Bleiche verängstigte Menschlein oder eben vor Wut schäumende, aufgepumpte Wutbürgeradern und Schreihälse in Muskelshorts zierten die Monitore. Ein Panorama und denkwürdiger Querschnitt der Gesellschaft. Was außer ihrer fahrigen Definition von Freiheit und Frieden einte diese Leute? Hatte es für sie denn überhaupt jemals so etwas wie eine intuitive moralische Instanz, eine Übereinkunft des Gewissens gegeben? Eine geistige Bruderschaft regionaler Zusammenschlüsse? So etwas wie diese verschriene völkische Übereinkunft, in deren Imagination die moderne Rechte so gerne schwelgte. Oder war hinter dieser Verkitschung einstiger Ahnenschaft und der Idealisierung vorindustrieller Zeiten, all der überschaubar vital strahlenden Männlichkeit, der praktisch ausgerichteten manuellen Tätigkeit mit echten Materialien, all den bemühten Tönen um den Erhalt und der vorrangigen Gesundheit der Familien, der Böden, denn nichts als territorialer sowie permanenter Stellungs- und Gesinnungskrieg die Regel? Und waren nun folglich denn auch all diese Outdoor-Freaks und feschen Alpinisten, die nun unsere postmodernen Gefilde durchstachen und durchkreuzten, nichts weiter als braungebrannte, drahtige und narzisstische Kletteraffen, allesamt breitgetretene Grenzerfahrungen im frisierten Schädel, oder aber einte sie letztlich doch mehr als allein das Narrativ absoluter Outdoorbekleidungs-Konformität und industriell gefertigtem sowie gestilltem Erlebnis-Heißhungers? Fühlten sie tief in ihrem Wesen denn nur annähernd etwas, was sich über den Rahmen ihrer zwangs-individualisierten Bedürfnisse hinaus Solidarität nennen ließe?
Was für statisch festzumachende Werte bildete ihre Gesinnungsübereinkunft, ihre Einheit? Und wie stand es um ihre wahre Manneskraft und Weiblichkeit? Verschossen sie sich da nicht gewaltig mit ihrem technokratisch anmutenden Gestrampel für Gesundheit und spirituelle Unabhängigkeit? Strampelten sie sich nicht allesamt, Schritt für Schritt, weiter hinein in den kollektiven Niedergang? Schaufelten sie sich nicht unmerklich ihr wohltemperiertes Grab in der Digitalisation eines Gesundheitsregimes, dass es einfach nur zu gut mit ihnen meinte. Niemand mochte heute die Galeere der geistigen Erschöpfung noch manuell voran peitschen. In Zeiten von wohldosierten Cyberattacken verrenkt man sich beim Peitschen nicht mehr den Arm. Das Hobby dem Körper, die Arbeit dem Hirn.
Der innere Nomade, der auch in ihm nahezu domestiziert und erloschen war, versuchte wieder Fuß zu fassen. Langsam aber sicher geriet er in Bewegung, wagte den Versuch eines ersten vorsichtigen Schrittes.
Sofern der allzu deutsche Hang zur Romantisierung auf verklärte Untergangsverliebtheit trifft, gipfelt das entweder in radikale, bis hin zu faschistoiden Tendenzen, zu ewig links-bekannter Moniertheit oder aber zu neotribalem Idealismus. Alles war zu begrüßen außer das Gestern, der Status Quo-Übereinkunft.
In Maffesolis Forschung findet sich kein eindeutiger Beweis für die Existenz eines universellen Narratives, demzufolge der postmoderne Nomade über die kulturell angelegte Eingebung einer Sinnes- beziehungsweise Gesinnungsübereinkunft verfügt und sich aus dieser folglich ein Fundament besagter Einheit und Einstimmigkeit für ideell orientierte Gemeinschaftsmodelle ergeben würde. Daraus resultiert eine inhärente Distanz zu festgelegten Wertigkeiten und mythologischen Begrifflichkeiten wie etwa die der Ehre und des Gewissens. In welcher Tradition von Ehre, des besten Wissens sowie Gewissens, vermag der unstete, sich vor der Wertigkeit schützende Nomade denn schon einzurichten? Ist dies bei dem ganzen heillosen Durcheinander denn überhaupt noch sein Anliegen? Ob der postmoderne Nomade nun, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse, ein Freund der Bodenreform sein sollte oder nicht, für eine entschärfende präventive Umverteilung einzutreten habe oder nicht, das lässt sich nicht vorwegnehmen. Der Tradition von Ehre und Gewissen stellt Maffesoli die permanente experimentelle Verschmelzung des Individuums mit der “konfusiellen Ordnung korrespondierender Elemente“ gegenüber. Mit einfachen Worten: Maffesolis Theorie zufolge war er offen für alles.
Waldbewohner oder Transhumanist – Somewhere oder Anywhere?
Tendenziell liebäugelte Gandalf eher mit der radikalen Praxis des Neotribalismus. Zwar strebte er im Kern eine kummunitaristische Gemeinschaft an, schloss langfristig die Beteiligung an Aktionen, die den Zerfall des erschöpften Systems beschleunigen würden, nicht kategorisch aus. Zum Erhalt der Lebensgrundlagen, seien diese auch noch so primitivistisch motiviert, gehöre der gesunde Widerstand eines jeden Stammesmitglieds gegen destruktive Außenmächte, sofern diese das Erblühen der Gemeinschaft bedrohten oder gar zu unterdrücken versuchten. Somit war für Gandalf geklärt, inwieweit diverse Arten des Verlusts ( ja selbst die von jeglichem Glaube abgefallene Weltsicht der sogenannten modernen Gesellschaft mit ihren krankhaften Verfeinerungs-tendenzen, die Abkehr vom Glauben an die Säkularisierung mit endfinalem Pathos zur Überschätzung demokratischer Werte und folglich auch die ganze Politikverdrossenheit, genährt durch die entgrenzten Interessen dem Gemeinwohl entkoppelter Großindustrien) erst zu dieser innovativen Rückbesinnung des aufkeimenden Primitivismus geführt hatten und folglich für dessen Heraufkunft zur Verantwortung heran gezogen werden mussten. Zur Abtrünnigkeit und schließlich zum endgültigen Ausstieg ganzer Volksschichten würden die heutigen Entwicklungen seines Erachtens nach bald führen. Langfristig würde eine gewaltige Umlagerung von Wert und Besitz unausweichlich stattfinden. Hinsichtlich dieser beeindruckenden, da gleichsam verschleierten Werteverschiebung, sei die derzeitige Umrüstung des Analogen ins Digitale ein reines Kinderspiel. Ein Nebeneffekt, den die Mehrheit als einen ihr Leben erleichternden Zugewinn geltend mache. Doch aus gesamt-philosophischer Sicht ergäbe sich für die Gesellschaft einfach kein zurück mehr. Folglich hielt er auch nicht viel von Maffesolis postmodernem Nomadentum, wenngleich er dessen Annäherung an die soziale Frage durchaus akzeptierte - er selbst wähnte sich bereits angekommen. Das selektive Prinzip der Somewheres und Anywheres hielt er für ein enorm gefährliches neuartiges Vergesellschaftungsprinzip abgehobener Gefühls-Ästethen, die die Gesellschaft mit ihren perversen Phantasien in zwei, sich konträr gegenüberstehende Klassifizierungen des zukünftigen Menschen zerteilt. Wer derart innovativ und sektiererisch zugleich denke, der durchschnitt in Gandalfs Augen blindlings das aus natürlichem Material geflochtene Seil, das Tier und Übermensch bis dato wenigstens noch im materiellen Sinne verband.
„Nun geht der Technisch-Versierte daher, seziert und operiert am Naturzustand herum, durchtrennt das Seil und wähnt sich auf der richtigen Seite - die der Zukunft. Er erklärt den ortsansässigen, mit der Scholle verwurzelten Mensch zum Tier, also zu einem Untermensch, der der überholten Vergangenheit angehöre, während er selbst, den Herausforderungen technischer Innovation folgend, sich als omnipotenten Weltenretter und bevorzugt durch ein gestaltetes Morgen strömenden Anteilnehmer verstehen will, der überall und nirgendwo unter hocheffizienter Flexibilität sein Zuhause zu installieren wisse.
Sollten sie doch in ihm einen hängengebliebenen Somewhere sehen. Ihn würde man nicht so schnell vertreiben. Vor allem nicht die der Technik verfallene Zukunftsvision weltverbesserischer NGOs, gefolgt vom Angebot durchgeknallter, milliardenschwerer Schirmherren und Weltenretter. Heimat war für ihn noch lange kein Auslaufmodell, beworben von irgendwelchen verlorengeglaubten, dem Gestern nachtrauernden Somewheres. In der steten Entfernung von Heimat und Boden lag für ihn keine Zukunft. Ein leeres Versprechen war diese weitere Entfremdung von Mensch und Natur hin zum Typus des unabhängigen, multilateral agierenden Anywheres, der zur Erholung gelegentlich einen auf geerdeten Somewhere machte.
Und auch die moderate Tendenz des Neotribalismus konnte ihn ehrlich gesagt mal kreuzweise. Kreuzweise konnte ihn auch der