Doomscroll. Volker Fundovski

Doomscroll - Volker Fundovski


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Umorientierung in die Welt hineinzuströmen vermag, somit zwangsläufig zur Konzeption überschaubarer sozialer Strukturen führen müsse, ist zwar anzuzweifeln, er aber arbeitete daran. Arbeiteten sie miteinander, unverbindlich und frei und aus der Krise heraus.

      All die vom Kapitalismus sich zuletzt Abgewandten, die Enttäuschten, die in Seminarwelten ein mildes Lächeln sowie mannigfaltig ihre alternativ-therapeutischen Raffinessen kultivieren,

      der sympathische Frührentner aus der Nachbarschaft,

      der junge Gartenbaumeister hinter Dreitagebart mit Hang zum Alkoholismus,

      der peppig schnittige Revoluzzer, Linguistikprofessor und ewige Student zugleich, Poetry Slamer und Buchautor,

      all die in Gumpen juckenden Jungbauern,

      die nach Berlin, Leipzig sowie Freiburg abgerückten Kulturschaffenden und Konsum-Süchtigen,

      all die an Prekariat und Markt zerbrochenen, an Haushalt und Familie gebundenen Krieger,

      all die an ihren Ehen gescheiterten, zerbrochenen Elendshäuflein, beflügelten Schwärmer und Losgelösten, geflügelte Worte Umschwärmende,

      all die gefallenen Engel der Individualisierung, der Atomisierung, des kollektiven Sinnesschwunds,

      all die Akteure des vergangenen Gesterns - organisieren mussten sie sich. Ein jeder unter ihnen musste lernen selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu agieren. Nur so konnte das Diktat des Marktes und der Macht zu Gunsten einer lebenswerten Zukunft gesprengt werden. Davon waren die Mitglieder um Gandalfs solidarisches Landwirtschaftsprojekt überzeugt. Selbst Harry schien hierin zuzustimmen. Ohne Überzeugung versagt die Rhetorik der eigenen Sprache. Doch keine Überzeugung ist wirklich wahr. Und das wusste Gandalf. Ja, es blieb ein Spiel mit dem Feuer der Unwissenheit. Aber auf was, wenn nicht auf das Experiment, sollte er sich schon berufen.

      Das mit dem Primitivismus war so eine Sache. Dem derzeit vorherrschenden Meinungskanon der Humanisten und Demokraten galt er als Barbarei oder sie erkannten in seinen Auswüchsen nichts weiter als den repressiven Aufbau primitiver, kleinregionaler Machtstrukturen. Auch hatte man bereits einiges über die sogenannten Reichsbürger gehört, die scheinbar, von Außen betrachtet, einer ebenfalls auf Autarkie setzenden Philosophie folgend, einen beachtlichen Stamm gegründet hatten. Unser Areal lag höchstens dreißig Kilometer Luftlinie von dem der Reichsbürger entfernt. Sie hatten sich etwas weiter südlich, jenseits des Hochgrates, im Bregenzerwald angesiedelt. Dort sollten sie über weite Nutzflächen in günstiger Südausrichtung - obendrein mit uneingeschränktem Nutzungsrecht einiger Quellen - verfügen, während ein Großteil der gandalfschen Äcker und Weidegründe an steilen, nur mühselig zu bewässernden Nordosthängen eher mangelhaft ausgerichtet waren. Nun mag man sich fragen, was die Reichsbürger ausgerechnet nach Österreich verschlagen hatte. Nach den anhaltenden Unruhen, die sich über gesamt Europa und darüber hinaus über den gesamten Erdball erstreckt hatten, hatte sich in der österreichischen Landesregierung ein unerwartet heftiger Rechtsruck ergeben, der einem klassischen Putsch nicht unähnlich war. Jedenfalls hatte die neue Regierung unweigerlich eine radikale Bodenreform zugunsten aller österreichischer Familien - bevorzugt aus den unteren Schichten sowie der Mittelschicht - erlassen, wobei sogenannte Sinnesgenossen aus Deutschland, als Zuwanderer durchaus erwünscht waren. Die Gesinnung jener zugesiedelten Reichsbürger jedoch hatte mich bisher davon abgehalten, den österreichischen Kolonisten meine bescheidene Aufwartung darzubieten. Mit ihrer pathetischen Vorliebe für Odin-Kulte, der koträr zu ihrer entschlossenen Brutalität verlaufende Verkitschung der Anastasia-Lektüre sowie der als evolutionär und naturgemäß angelegte Zwang feste familiäre Stammesstrukturen zu bilden, konnten die ostdeutschen Zuwanderer bei mir nicht punkten. Mit der Familie war ich bereits durch und Odin sowie Wladimir Megre, Autor der Anastasia-Buchreihe, war nie mein Typ gewesen. Bei Gandalf genoss ich trotz Nordostausrichtung sowie biologisch dynamisch hochgehaltenen Verhütungs-strategien gewisse Vorzüge. Aber, was rede ich!? Wie lange war ich denn hier - vier Tage? Und was war nochmal mein Anliegen? Gemüsebau? Frauen? Wahre Umorientierung und Verzicht? Von einer klaren Antwort auf diese Frage war ich weit entfernt. Zudem quälte mich allmählich der Gedanke an mein Auto, oben am rückgebauten Wanderparkplatz. Hatten es die Behörden mittlerweile kostspielig abschleppen lassen? Vielleicht hatten sich auch bereits aufgebrachte Anrainer über die Scheibenwischer hergemacht und den Lack zerkratzt, gar die Scheiben eingeschlagen. Jedenfalls beunruhigte mich dieser verräterische Materialklotz, an dem ich doch noch bis vor wenigen Tagen hing wie ein schwer gebeutelter, künstlich am Leben gehaltener Coronapatient an Beatmungsschläuchen. Und an dem ich und in diesem ich vielleicht auch bald wieder hängen werde - leergefegte Innenstädte und Landstriche durchkreuzend - während der nächsten, bereits medial groß angekündigten Welle.

      Den Reichsbürgern wurde eine deutlich aggressivere Abschottungsstrategie nachgesagt. Die Österreichischen Behörden hatten mittlerweile jegliche Verfahren gegen die ebenfalls aggressive Bebauung der Landesparzellen, die durch den regen Zustrom aus Deutschland stetig anwuchsen, eingestellt. Selbst die widerrechtliche und völlig unbehelligt rege Versiedelung sowie die Fremdnutzung landwirtschaftlicher Grünflächen schienen die österreichischen Behörden entschlossen übersehen zu wollen. Die Reichsbürger hatten bei den anfänglichen Versuchen seitens der Behörden, das Gelände zu räumen, nicht lange gefackelt. Mit diversen Kalibern sollen sie das Feuer auf die Beamten eröffnet haben, worauf diese sich deutlich zur Wehr gesetzt hatten. Wie durch ein Wunder soll dabei nicht eine einzige Person verletzt worden sein. Und das Gelände wurde bis heute nicht geräumt. Die Regierung hatte nicht wie erwartet mit der Räumung und sofortigen Festnahmen reagiert. Aus taktischen Gründen schien sie sich mit der Schießerei abgefunden zu haben. Nicht ein einziger Strafbefehl wurde erlassen. Darüber hinaus hatte sich die österreichische Regierung auch mit diversen anderweitig rechtlichen Grenzüberschreitungen arrangiert und weitere Gesetze, zum Schutz des auf Basis der Bodenreform gegründeten Nationaliberalismus erlassen.

      Letztlich hat die Wiener Politik den Reichsbürgern somit den Rücken gestärkt. In den Medien - auffällig einhellig in den deutschen Printmedien - wurde das Spektakel um die Schießerei nahe Bezau als die wundersame Schlacht ums neue Reich auf dem Hubertusbichl ausgeschlachtet.

      All das klang sehr unglaubwürdig und doch musste es sich so zugetragen haben. Die Reichsbürger bauten weiterhin fleißig ihre Festung aus, während die Behörden ihnen dazu den Weg bereiteten. Oder sie sahen angeordnet weg oder hatten Wichtigeres zu tun. Vielleicht gründete ja bereits in der Bodenseeregion ein Heer an dunkelhäutigen flüchtigen jungen Männern ein maoistisch-selbstverwaltetes Basislager zukünftiger Emigration. Das postmoderne Nomadentum war schließlich ein globales Thema.

      Das alles mag nun wohlwahr wie ein grell überzeichnetes Asterixcomik daherkommen und doch hatten die Gallier die Römer in die Flucht geschlagen. Man hatte so seine Medien, seine Späher, seine Informanten. Allein auf die Medien konnte man sich ja nicht verlassen. Und doch war man hier, oberhalb der Wasserfälle, annähernd isoliert. Die deutschen Behörden ließen uns trotz des Gewaltsausbruchs der Reichsbürger im nahen Nachbarland friedlich unseren Verrichtungen nachgehen. Schließlich gab es zwischen den Reichsbürgern und uns keine direkte Verbindung. Auch hielt Gandalf das Maß baulicher Maßnahmen sehr gering, was seiner Philosophie der Einfachheit eine gewisse doppelte Glaubwürdigkeit verlieh und uns, als erwünschter Nebeneffekt, die Behörden vom Hals hielt. Bald aber würde auch er expandieren müssen. Durchaus war das gandalfsche Projekt den Behörden ein Dorn im Auge. Eine Entwicklung, der sie sich nur auf Rechtswegen, also durch die erwartete Ausweitung drakonischer Maßnahmen, zu entledigen wussten. Dazu bedurfte es noch weiterer Gesetzesbeschlüsse, um dem alternativen Treiben auf Gandalfs Lichtung ein baldiges Ende zu setzen. Das war nicht unwesentlich, die Politik - so vermuteten wir derzeit - war daran, weitere Schritte einzuleiten im Kampf gegen sich ihrem Gesundheitsdiktat entziehende Aussteiger, Kolonisten, Impfverweigerer und sonstige Lebensreformer. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie uns mangels vorzuweisender Hygienekonzepte als dem Kollektiv, also dem Allgemeinwohl unzuträgliche und potentielle Gesundheitsgefährder - subversiv, konspirativ und verächtlich - einstufen würden. Dann erst würde der Räumungsbefehl drohen, konnten sie uns den Garaus machen. Und ob wir uns am jüngsten Tag dann im Ton vergreifen oder gar - - wie die Reichsbürger zur Wehr setzen würden, stand noch aus. Heimliche Sympathien zumindest an der kompromisslosen Zielstrebigkeit,


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