Schüchterne Gestalten. Peter Bergmann
So etwa 20 Anrufer, nicht alle sind identifizierbar.“ Dr. Mayer begann die Zeitpunkte und Namen aller Anrufe und die dazugehörigen Telefonnummern herunterzurasseln.
„Stopp, stopp. Sie haben sicher ein Faxgerät. Schicken Sie es bitte rüber. Das kann sich ja sonst keiner merken. Was heißt eigentlich ‚nicht identifizierbar‘?“ Remsen kaute mal wieder auf seinem Stift rum.
„Da war keine Nummer mit dabei. Anonym. Wahrscheinlich haben die Anrufer das ausgeschaltet.“
„So, und dann haben Sie daraus gleich eine Headline gemacht?“ Wenn der Mayer nicht gleich die Hosen runterlässt und quatscht, lasse ich ihn vorladen, durchdachte Remsen die nächsten Schritte.
„Nein, wir haben bei der Feuerwehr, der Polizei und der Straßenverwaltung nachgefragt. Immerhin ist das eine der wichtigsten Straßen, um nach Vesberg oder wieder hinaus und um zur Autobahn zu kommen. Niemand wusste von irgendwas, alles sonderbar. Wir haben einen Ü-Wagen Richtung Autobahn geschickt. Die Kollegen haben tatsächlich Sperrschilder gefunden und Autofahrer, die entnervt umgedreht haben. Niemand dort wusste was los ist.“
„Wann war das?“
„So gegen halb zehn etwa, vielleicht etwas später.“ Dr. Mayer gefiel das Kreuzverhör am Telefon nicht.
„Und ihr Pressefuzzis seid dann weitergefahren?“
„Nein, die Kollegen hatten Order umzudrehen und eine Kurzmeldung für die nächste Sendung daraus zu machen. Damit wir wenigstens das Thema auf dem Radar haben. Man weiß nie.“
Remsen roch sie schon, bevor die Tür aufging. Der Wachhabende brachte seine Pizza. Auch Kundoban saß schon ziemlich unruhig vor ihrem Bildschirm.
„Dr. Mayer, danke bis hierhin. Schön, dass Sie angerufen haben. Sie haben uns wirklich geholfen. Ich warte auf hr Fax und rufe Sie später noch mal an.“
„Bin aber nur noch bis 18 Uhr im Dienst, dann erst morgen Abend wieder.“ Dr. Mayer wollte sich offensichtlich aus der Sache herauswinden. Mit der Polizei und irgendwelchen Ermittlungen nichts zu tun haben.
„Dann geben Sie bitte dem Wachhabenden Ihre mobile Nummer durch und sorgen Sie dafür, dass Sie immer erreichbar sind, okay? Ich verbinde Sie jetzt mit der Zentrale. Bis später.“
Remsen stellte das Telefonat zurück an die Zentrale. Mit unerträglichem Heißhunger stürzte er sich auf seine Pizza, bevor diese eine Chance hatte, kalt zu werden.
„He, he – wir sind hier nicht bei den wilden Vandalen. Und Zeit haben wir auch. Vorerst kommen wir hier nicht weg.“ Jutta Kundoban war Remsen schon voraus und amüsierte sich über die Art und Weise, wie ihr Kollege die Pizza förmlich verschlang.
„Wer war sie? Wer war er? Da müssen wir anfangen. Wir brauchen Profile von beiden und müssen alles von CodeWriter rausbekommen. Ich setze 10 zu 1, dass der Tote am Baum Weilham jun. ist. Gibt’s keine Fotos, in den sozialen Netzwerken oder so? Heute wird doch jeder Mist veröffentlicht. Surfe mal im großen Teich danach. Solange…“, er schluckte und würgte sich, denn er war ja noch mit der Pizza im Gefecht.
„Langsam Jan, sprechen und essen nacheinander. Sie wissen doch, Ihr Männer seid einfach nicht Multitasking-fähig. Also versuchen Sie es doch gar nicht erst.“ Kundoban fand es witzig, ihren Kollegen mal wieder zu ärgern. Solange sie sich inzwischen kennen und miteinander arbeiteten, war es fast immer ein Running Gag.
Jan Remsens Hunger war ebenfalls gestillt, die Pizzaschachtel wanderte rein zufällig auf die seiner Kollegin; die Vorzüge der Hierarchie.
„Keine Widerrede, ich besorge den Kaffee.“ Remsen war schon fast durch die Tür, als er sich für seine Art der Entsorgung entschuldigte. „Das mit den Vandalen sehe ich übrigens anders.“ Und raus war er.
Na, wenigstens besaß er Anstand, auf seine Art, freute sich Kundoban und brachte die Verpackungen weg. Der Nachmittag wird heftig werden, so viel war jetzt schon klar. Aber die Frage war doch, wer steckt hinter beiden Morden. Wie es aussah, war das Ganze richtig gut vorbereitet. Organisiertes Verbrechen? Osteuropäische Mafia? Wenn ja, welche?
Was macht eigentlich CodeWriter? Klingt so, als wenn die Software programmieren. Zumindest stand es so auf der Website. Jutta schmunzelt: Sie ist mit dem Internet, den vielen Netzwerken und Kontakten und den E-Mails und SMS groß geworden; aber sie hat überhaupt keine Ahnung, was dahinter an Technik und Software gebraucht wird, um all die Information und Kommunikation zu ermöglichen. Alles funktioniert so reibungslos, Tag und Nacht, weltweit. Toll, dass sie heute völlig anders kommunizieren können als noch wenigen Jahren. Remsens Kommunikationsstrategie kannte sie schon: abends im Refill. Da erfuhr er alles.
„Schon kalt.“ Remsen saß bereits wieder an seinem Schreibtisch, als sie zurückkam und hatte seinen Kaffee inzwischen ausgetrunken.
„Und Sie verbrennen sich noch mal die Zunge.“ Jutta Kundoban kannte Remsen und seine Art, auf Verschleiß zu leben. Sie ging da doch sorgsamer mit ihrem Körper um.
Dafür schwang er sich aus seinem Sessel an die Wandtafel und bemühte sich, die Fläche von allerlei alten Notizen und Fotokopien freizumachen.
„Dann mal los: Was haben wir?“ Remsen nahm gleich mal die Rolle eines Oberlehrers, Moderators und Ermittlungsleiters, alles gleichzeitig, ein.
„Ein Unfall der keiner war. Aber damit fing alles an. Eine Tote, die offensichtlich nicht beim Unfall gestorben ist; also ermordet wurde. Die Unfallursache ist mysteriös, denn irgendwer hat den Hirsch auf die Straße gelegt, die Straße in beide Richtungen und dann noch zur richtigen Zeit abgesperrt.“ Jutta zeigte auf ihre Notizen. „Dr. Ansbaum äußerte die Ansicht, dass sie eine Osteuropäerin sein könnte“.
„Und das kann Dr. Ansbaum einfach so erkennen?“
Remsen bemühte sich, das Gesagte mitzuschreiben und sich damit ein Bild zu machen. Mit minimalem Gestaltungstalent.
Remsen dachte laut nach: „Wissen wir von ihr noch mehr? War sie Mitarbeitern bei CodeWriter? Oder eine Bekannte, Partnerin oder so? Geliebte des Toten? Wer kann sie sein.“
„Nichts dergleichen. Vielleicht bekommt Benjamin bei der Frau Weilham noch was raus. Oder ihr Mann taucht bald mal auf.“
„Hat der Nöthe den denn nicht erreichen können? Seine Frau muss doch die mobile Nummer haben.“ Remsen wollte mal wieder alles auf einmal erfahren.
„Wahrscheinlich nicht, denn dann wüssten wir schon was. Wir müssen wohl warten, bis Weilham sen. aus dem Nirwana wieder auftaucht.“ Jutta Kundoban schaute wieder auf ihre Zettel.
„Das Unfallauto, wenn man so sagen kann, ist zugelassen auf eine Firma CodeWriter. Die machen irgendwas mit Software, entwickeln welche für Sicherheits- und Überwachungsfirmen und erledigen Auftragsarbeiten für Forschungsinstitute. Geschäftsführer der CodeWriter sind Georg Weilham und Karl Hausmann. Im elektronischen Bundesanzeiger war zu lesen, dass die zuletzt veröffentlichten Abschlüsse ganz ordentlich waren. Viel verstehe ich davon nicht.“
Das Bild an der Tafel wurde langsam aussagekräftiger. „Hausmann macht Urlaub und scheint nicht erreichbar zu sein und Weilham sen. ist mal kurz abgetaucht. Ich schätze hinter der Grenze, um seine Potenz auszutesten. Nur ´ne Vermutung, keinen Kommentar bitte.“
Typisch Remsen, typisch Mann. Kundoban lächelte in sich rein; vielleicht hat er noch nicht mal Unrecht.
Remsen befragte sein Gedächtnis und malte weiter an der Tafel.
Jetzt war wieder Kundoban dran: „Sein Sohn, vermutlich ist er das, ist auch bei CodeWriter und ist laut der Homepage dort Account Manager. Was macht man da?“
„Soweit ich das weiß, ist das der Verbindungsmann zu den Kunden, die regelmäßig besucht werden, damit keiner unzufrieden wird und sich vernachlässigt fühlt. Sind alle sensibel heutzutage. Vielleicht muss er sich auch um neue Kunden kümmern. Zumindest könnte es sein, dass er genau deshalb gestern unterwegs, vielleicht sogar im Ausland war.“
Das klang logisch für Remsen und auch Kundoban hatte nichts