Die Artuslinde. Manuela Tietsch
Gurgeln kam aus des Vogels Kehle, welches sie mit einem weichen Lächeln anerkannte. Talivan konnte es nicht fassen. Noch nie saß dieser Vogel auf einer anderen Schulter als auf seiner. Wagte ihn jemand ungefragt anzufassen, hackte er oder flog schimpfend fort. Talivan tauschte einen Blick mit Gavannion. War das ein Zeichen? Es bestärkte ihn in dem Glauben, das Richtige getan zu haben, als er sich E-Helenes annahm.
Nun war ich in der Höhle des Löwen. Ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Kurzzeitig packte mich die Angst, der Vogel könnte mich doch hacken. Warum sollte er? Im Wald tat er es schon nicht. Ich mußte über die gurgelnden Laute, die aus seiner Kehle drangen, lächeln. Ebenso unerwartet wie er kam, sprang er wieder zurück auf die Schulter Talivans. Ich widmete mich weiter der Halle, auf deren Boden ausgestreute Binsen lagen und Kräuter ihren Duft verteilten. Die Halle schien mir recht groß, Talivan mußte ziemlich angesehen sein, und an Reichtum mangelte es ihm kaum. Gleich zwei große Feuerstellen erwärmten den Raum. Auf Böcke gelegte Bretter dienten als Tafeln, die u-förmig in der Mitte des Raumes standen. Einige Leute saßen bereits beim Essen, die anderen, die uns auf den Stufen erwartet hatten, setzten sich hinzu. Der Mann, der mir den Pfeil durch meine Hand gejagt hatte, ging unangenehm grinsend an mir vorbei. Er führte die wunderschöne Frau am Arm, in der ich die heranstürmende Reiterin wiedererkannte. Ich versuchte weiter auf die Umgebung zu achten. Die Halle wirkte, trotz des Lichtes, das durch die schmalen Fenster fiel, doch recht dunkel. An den Wänden hingen Kandelaber und Fackeln. Einige Fenster waren mit Stoffen oder Pergamenten abgehangen, nur wenige davon waren aufgerollt, um Licht hereinzulassen. Selbst in meiner kühnsten Erfindungsgabe hätte ich dieses lebendige Bild der Vergangenheit nicht entstehen lassen können. Die Mägde, Knechte und im Dienst stehenden Edelknaben liefen wie Wiesel umher, um die adligen Herrschaften zu bedienen. Am Ende der Halle, mir gegenüber, schälten sich gerade einige Leute aus dem Stroh, in dem sie wohl die Nacht verbracht hatten. Ich mutmaßte, daß es sich um die Musiker handelte, denn neben ihnen, an der Wand, standen eine Harfe und zwei Trommeln und in einem offenen Korb lagen Flöten. Neugierig sog ich alles mit meinen Blicken auf, doch unerbittlich drängte mich eine starke Hand weiter durch die Halle, auf eine Treppe zu. Sie mußte zu den anderen Stockwerken führen, oder zu irgendwelchen Kammern. Oder auf Umwegen zum Keller und den Verließen, schoß es mir durch den Kopf! Ein stechender Schmerz durchzog meine Hand. Durch die außergewöhnlichen Eindrücke hatte ich sie eine Zeitlang vergessen, dafür wurde ich ihrer jetzt umso bewußter.
Wir stiegen die Treppe hinauf in einen dunklen Gang hinein, der nur spärlich von wenigen Fackeln erleuchtet wurde. Nach kurzer Zeit erreichten wir eine massive Holztür, die von breiten Metallbändern gehalten wurde. Sollte sich dahinter mein Gefängnis befinden? Griff und Verschluß wirkten denkbar bruchsicher, viel zu sicher. Ich erwartete einen dunklen, kalten, karg eingerichteten Raum. Talivan öffnete die Tür. Zögernd ging ich, geschoben von ihm, in die Kammer und sah, daß ich nur in einem Punkt recht hatte: einzig eine Fackel beleuchtete den Raum, doch er war weder äußerst kalt noch karg eingerichtet. Ein großes Holzbett, das teilweise von dicken Vorhängen verdeckt wurde, hatte seinen Platz mir schräg rechts gegenüber an der Wand. Zwei Holztruhen befanden sich unter jeweils einem Fenster.
Jäh lief mir beim genaueren Betrachten ein Schauer über den Rücken. Eine dieser Truhen hatte ich vor wenigen Tagen gezeichnet. Wie war das möglich? Hatte ich an diesem Tag schon eine Ahnung von meinem Erlebnis? Meine Beine drohten wegzuknicken. Was geschah hier bloß mit mir? Um mich abzulenken, blickte ich mich weiter im Raum um. Ringsherum hingen Wandbehänge. Auch hier bedeckte den Boden eine Schicht Binsen und Kräuter. Im Kamin schwelten die Überreste eines Feuers, ein Schemel stand davor, ein weiterer vor einem verhangenem Fenster. Auf dem Boden vor dem Kamin lag ein dicker, wollener Teppich. Sollte dies in Zukunft - nein,... ich mußte innerlich über den Widersinn meiner Worte lachen - in der Vergangenheit, mein neues Zuhause sein? Mein Blick wanderte gegen meinen Willen wieder zurück zur Truhe, dann wieder zum Bett. Kuschelig warme Decken lagen verwühlt vom Schläfer darauf verteilt. Talivan schob mich zielstrebig darauf zu. Ein ungutes Gefühl kroch mir den Rücken hinauf. Wollte er mich jetzt vergewaltigen? Oder erwartete er, daß ich ihm zu Willen war? Womöglich glaubte er, daß ich ein käufliches Mädchen war? Ich befand mich auf jeden Fall in seiner Kammer.
Bevor ich weiter nachdenken konnte, drückte er mich auf das Bett hinunter. Ich war schon wieder im Begriff aufzustehen, wie eine Sprungfeder, als sich die Tür öffnete und eine Frau mittleren Alters eintrat. Sie trug ihre graubraunen Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr Gehabe schien mir entschieden, war sie seine Mutter? Nein, wohl nicht, denn sie trat ihm gegenüber trotz allem eher ehrerbietig auf. Sie wechselten einige Worte, während ihr Blick mich zu durchbohren schien. Entschlossen trat sie schließlich zu mir, griff nach dem Umhang, den ich fest zusammenhielt und öffnete ihn mit sanfter Gewalt. Ohne weiter zu hadern, schnappte sie sich daraufhin meine verletzte Hand.
„Bei allen guten Geistern! Wer hat denn dieses Glanzstück vollbracht? Nein, sagt es mir lieber nicht, ich will es gar nicht wissen!“ Während sie sprach, griff Sodelb nach dem behelfsmäßigen Verband. Urteilssicher begutachtete sie die Wunde und brummelte mißbilligend vor sich hin.
„Der Meisterschütze war Morcant!“ Talivan, der hinter Sodelb stand, trat ein paar Schritte zur Seite, um besser sehen zu können.
„Spricht sie nicht?“
„Bisher hat sie nur ihren Namen gesagt, glaube ich.“
„So? Und wie ist der?“
„E-Helene!“
„Und weiter?“
Talivan zuckte die Schultern wie ein ertappter Schuljunge.
Sodelb warf ihm einen wissenden Blick zu. „Ich kann nicht genug sehen, schafft mir mehr Licht heran!“
Talivan entzündete eine weitere Fackel und steckte sie in die dafür vorgesehene Halterung in der Wand. Sodelb beugte sich tiefer über die Hand.
„Wo bleibt denn Adna schon wieder? Eines Tages wird sie unterwegs einschlafen und eine Treppe hinunterstürzen!“ Ungeduldig blickte Sodelb zur Tür.
Talivan mußte über sie schmunzeln. Er kannte diese Frau seit seiner Geburt und war ihr dankbar, daß sie und ihr Mann ihm auf seine Burg gefolgt waren, besonders da sie eigens zu diesem Zweck sogar seine Eltern verlassen hatten. Er hätte sonst gar nicht gewußt, wie er mit dieser riesigen Burg, dem unnötigen Geschenk von Artus, zurechtgekommen wäre. Sodelb tat zwar immer ungnädig, konnte jedoch keiner Fliege ein Leid zufügen. Sie legte E-Helenes Hand auf deren Schoß ab, tätschelte ihr die Schulter und ging zielstrebig und schimpfend hinaus.
„Um alles muß ich mich selber kümmern,“ grummelte sie, ehe sie sich noch einmal zu ihm umwandte. „Wünscht Ihr ein Bad für die Dame?“
Daran hatte er nicht gedacht. Er nickte. „Das könnte Ihr gut tun, denke ich.“
Sodelb nickte. „Ich lasse es richten.“
Ich kuschelte mich wieder tiefer in den Umhang hinein. Er war so schön warm, und ich genoß es, endlich nicht mehr zittern zu müssen, jedenfalls nicht vor Kälte. Was hatte die beiden wohl zu bereden gehabt? Langsam fühlte ich meinen steifen Körper wieder weicher werden. Ein Bad in warmen Wasser, das würde mir gut tun. Doch wie sollte ich ihnen das klar machen? Und wie konnte ich diesen Aufwand für mich in Anspruch nehmen? Talivan stand immer noch am Fußende des Bettes. Ich spürte überdeutlich seinen Blick auf mir ruhen. Kurz schaute ich auf, um mich zu vergewissern: sein Blick war beunruhigend, anders als im Wald. Er schaute fragend, anklagend und entschuldigend zugleich. Seine Augen wirkten noch viel dunkler als vorhin, funkelten wie lebendig gewordene, glühende Kohlen. Er blickte unverwandt auf mich herunter und machte mich damit fahrig. Ich blickte schüchtern zur Seite.
Talivan konnte nicht aufhören. Er wußte, daß er sie beunruhigte, doch sein Blick wurde unerklärlicherweise angezogen. Er kam nicht hinter ihr Geheimnis. Sie wirkte einerseits so selbstbewußt, wie er keine andere kannte, gleichzeitig jedoch vermittelte sie ihm den Eindruck von schüchterner Unwissenheit. Er fühlte sich unwohl bei der Vorstellung, daß sie Männern wie Rioc und Mruad in die Hände hätte fallen können. Es war recht, daß er sie eingefangen hatte. Raban saß leise krächzend oben auf einer Säule des Bettes, wie ein alter