Die Artuslinde. Manuela Tietsch
war es wirklich das Beste, ich schlief eine Weile, um für mein nächtliches Abenteuer frisch zu sein. Aber wie einschlafen, wenn doch die Gedanken im Kopf herumwirbelten, als herrschte dort oben Sturm? Außerdem knurrte ständig mein Magen, und die wildesten Ängste versuchten, meiner Herr zu werden. Das Bild des narbigen Ritters kam mir in den Sinn, wie er dort auf seinem braunen Hengst saß und in den Busch starrte. Wieso war er mir so sonderbar vertraut?
Ein lautes Geräusch unter dem Baum weckte mich wieder. Wildschweine wühlten geräuschvoll grunzend in der Erde. Mir wurde unheimlich zumute. Sie wühlten den Waldboden auf und durcheinander, schubsten sich gegenseitig von den besten Plätzen und bissen sich in die Ohren und Schultern, wohl um ihre Rangordnung zu bekräftigen. Ich wartete, bis die Tiere außer Hörweite waren, ehe ich mich von dem Baum herunterwagte. Der Gefahr, einem ungehaltenen Eber oder einer Bache über den Weg zu laufen, wollte ich mich nicht aussetzen. In der Dunkelheit sah der Wald völlig anders aus. Hatte ich vor dem Einschlafen gedacht, ich kannte mich inzwischen aus, so sah ich mich getäuscht. Ich brauchte ein Weile, um mich auszurichten. Der Vollmond stand ziemlich hoch, und Gott sei Dank war der Himmel klar, so daß ich mich schließlich doch zurechtfand. Wo ein Vorteil war, zeigte sich auch gleich ein Nachteil, der klare Himmel brachte eine eiskalte Nacht mit sich. Zitternd kletterte ich vom Baum. Hoffentlich fand ich diesen wieder, wenn ich zurückkehrte.
Langsam schlich ich zur Burg. Der Anblick, den sie mir im Mondschein bot, ließ mich einen Augenblick sprachlos verharren und genießen. Ein Bild wie aus dem Bilderbuch! Sie thronte oben auf dem Hügel, zu ihren Füßen hockten die Häuser der Bürger, und über allem leuchtete der Mond mit einem riesigen Vorhof. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Weg. Die Nacht schien mir eisig. Der erste Frost kroch über den Boden und mir war, als würde er ohne Umweg in mein Herz hineinkriechen. Plötzlich raschelte und knackte es laut hinter mir im Unterholz. Ich erstarrte. Was oder wer war das? Würde ich womöglich gleich den heißen Atem eines Drachen in meinem Nacken spüren?
Gab es in dieser Zeit Drachen? Würde ich all meinen unglaublichen Erlebnissen ein weiteres hinzufügen können? Mein letztes vermutlich? Gelähmt vor Angst zwang ich mich, den Kopf zu wenden. Da sah ich ihn... Keine zehn Schritte von mir entfernt stand ein gewaltiger Hirsch und putzte sein Geweih im Unterholz. Nur ein Hirsch! Ich atmete erleichtert auf. Mit einem Mal hob er seinen Kopf und blickte geradewegs in mein Gesicht. Ein Hirsch konnte gefährlich sein, gerade in dieser Jahreszeit, ich zwang mich, ruhig rückwärts zu gehen. Er behielt mich wachsam im Auge, während er den Kopf anhob. Für mich unerwartet, gab ein markerschütterndes Röhren von sich. Ich zuckte heftig zusammen, er stieß seinen weißen Atem aus. Meine Knie fühlten sich an wie Butter. Oh Gott, dachte ich, bloß jetzt nicht umkippen! Trotz meines Schocks schaffte ich es weiterzugehen. Als ich mich weit genug von ihm entfernt hatte, drehte ich mich um und lief hinunter zur Burg so schnell ich konnte.
Erst in der Deckung eines Busches hielt ich an, um zu verschnaufen. Ich zitterte heftig, doch nicht nur der Kälte wegen. Nach einer Verschnaufpause schlich ich weiter, immer in Deckung bleibend. Als ich endlich unter dem ersten Birnbaum stand, pflückte ich in aller Eile, bis der Rucksack halb gefüllt war, dann widmete ich mich einem Apfelbaum. Während ich erntete, aß ich mich an Birnen und Äpfeln satt.
Der Rückweg zu meinem Baum war beschwerlicher als ich dachte, denn der Rucksack war inzwischen richtig voll. Der Morgen graute schon, als ich wieder bei ihm eintraf. Den Baum samt schwerem Rucksack zu erklimmen, stellte mich vor eine erneute Schwierigkeit, nach drei Anläufen gelang mir jedoch auch dieses Unterfangen. Ich verstaute das Obst sicher, ehe ich mich in der Astmulde verkeilte, um noch ein wenig zu schlafen. Es gelang mir nicht. Ich war viel zu aufgeregt und verspürte eine gewisse Genugtuung, weil mir gelungen war, was ich mir vorgenommen hatte. Das erste Mal, seitdem ich unter der Linde erwacht war, empfand ich eine gewisse Zufriedenheit.
Während ich so dasaß, die Tierwelt unter mir beobachtend, und während das Morgenrot zu erglühen begann, beschloß ich, der Sicherheit wegen alle paar Nächte einen anderen Baum zu suchen. Die Aussicht darauf war wenig verlockend. Selbstverständlich mußte der Standort im Umkreis meiner Obstbaumjagdgründe bleiben und trotzdem weit genug von der Burg entfernt, um nicht wieder aufzufallen. Es war seltsam, wie wohl ich mich jetzt fühlte, nachdem ich mich satt gegessen hatte. An diesem Morgen erschien mir alles nur halb so schrecklich, und selbst die Gedanken, daß ich damit rechnete, weitere Tage so zubringen zu müssen, schreckten mich weniger. Ich begann den Tag mit neuer Kraft und voller Tatendrang.
7 Das Messer
Talivan hatte die letzte Nacht schlecht geschlafen. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu der seltsamen Frau zurück, obwohl er selbst sie nie gesehen hatte. Und seit einer guten Woche auch kein anderer. Trotzdem beschäftigte sie ihn. Er war sich ihrer Blicke nur zu bewußt gewesen. Außerdem beunruhigten ihn die Ritter Mruad und Rioc. Ihr Besuch letzte Woche war unheilverkündend und bedrohlich für das Reich von Artus gewesen. Er wußte genau, daß sie die Lage auskundschaften wollten, und sie würden weitere Burgen aufsuchen. Rioc hatte er noch nie leiden können. Mruad war ein Mitläufer, doch gefährlich waren sie beide. Sie verkörperten Grausamkeit und Gefühlkälte.
Talivan sprach empfindsam darauf an, seit der Folterung. Er schüttelte sich unwillkürlich. Die beiden Ritter waren unberechenbar in ihrer Art, das machte sie um so gefährlicher. Nun zogen sie wie ein giftiger Lindwurm durchs Land und vergifteten jedes Herz, das sich ihren schändlichen Worten öffnete. Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken. Er war froh, daß er gleich einen Boten zu Artus gesandt hatte. Warum nur immer Neid, Mißgunst und Unverstand? Artus war ein guter und gerechter König. Talivan konnte nicht verstehen, aus welchem Grund jemand diesen König stürzen wollte. Sollte es denn immer wieder Kriege geben? Die Leidtragenden waren die Schwachen: die Kinder, Frauen und Alten und die Tiere. Ländereien wurden verwüstet, ohne Rücksicht, ohne Voraussicht! Dahinter stand Verlangen nach Reichtum. Dabei gab es wahren Reichtum doch allein im Herzen! Er konnte einzig bei sich selber anfangen, den Frieden zu leben! Er war froh, daß er durch seine frei denkende Familie und seine bedeutsamen Erlebnisse ein friedliches Denken in sich trug. Aus dieser Denkweise ergab sich seine Ehrfurcht vor jeglichem Geschöpf und jeglicher Lebensweise. Er schmunzelte. Nicht selten wurde er ob seiner weichlichen Denkweise schief angesehen. So dachten nur Frauen, keine Männer und erst recht keine Krieger! Aber er wollte kein Krieger sein, und das gab ihm das Recht so zu denken. Natürlich gab es nur eine Wahrheit, doch es gab viele Wege dorthin!. Gleiches Recht für alle. Im selben Augenblick wurde er sich der Widersinnigkeit dessen bewußt. Wo war denn das gleiche Recht für Unfreie oder Leibeigene? Sie kamen mit anderen Rechten auf die Erde als in den Adel Hineingeborene. Oder die Frauen? Wenn sie nicht genügend Rückgrat mitbrachten, dann hatten sie mancherorts weniger Rechte als ein Unfreier. Er konnte nicht glauben, daß dies in der Absicht der Schöpferkraft lag. Kein Mann war fähig, ohne eine Frau ein Kind in die Welt zu setzen, also gehörten sie doch untrennbar zusammen und hatten somit die gleichen Rechte. Ein bißchen Muskelkraft mehr machte die Männer glauben, über alles herrschen zu können, was schwächer war.
Talivan setzte sich in seinem Bett auf und reckte sich. In seiner Kammer war es kalt. Kein Wunder, denn der Winter kam unaufhaltsam näher. Er versuchte, seine vielen mißmutigen Gedanken zu vergessen. Heute war ein neuer Tag! Eine Gelegenheit mehr, aus seinem Leben das Beste zu machen. Raban saß wie immer oben auf dem Gestänge des Bettvorhangs. Er brabbelte leise vor sich hin. Als er merkte, daß Talivan ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, hopste er hinunter auf das Bett und ließ sich von ihm unter dem Schnabel kraulen. Nach einer Weile gab ihm Talivan einen liebevollen Klaps, das sichere Zeichen, daß die Streichelstunde beendet war. Raban flog wieder auf das Bettgestänge, während Talivan nach seinem wollenen Untergewand griff. Die Luft war feucht, er sah seinen Atem. Schnell streifte er sich das Untergewand über. Während er seine Decke zur Seite auf´s Bett warf, schob er sich an die Bettkante, um seine Stiefel überzuziehen. Sein Obergewand greifend, hob er mit der anderen Hand seinen Gürtel auf, der von der Bettkante heruntergefallen war. Er knüllte alles zu einem Bündel zusammen und ging hinaus in den Gang, der zur Zeit völlig im Dunkel lag. In der Halle bereiteten unausgeschlafene Mägde und Knechte das Frühstück vor. Talivan grüßte sie freundlich, als er an ihnen vorbei hinaus in den Hof zum Brunnen ging.
Er zog seine Stiefel und das