Die Artuslinde. Manuela Tietsch
ein seltsames Tier Raban doch war! Lachend wendete er sich wieder seinem Vorhaben zu. Er schnalzte erneut, Lluagor setzte sich in Gang. Sie kamen jedoch nicht weit, denn die Dame Brighid kam stürmisch herangeritten. Sie brachte ihre Stute schwungvoll vor Lluagor zum Stehen. Die Schönheit konnte offensichtlich wieder nicht ertragen, daß er ihr nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Er wendete Lluagor in Richtung Burg. Gegebenenfalls konnte er damit dem oberflächlichen Geplapper dieser Dame entfliehen. Er warf einen letzten Blick auf den Busch und wurde das Gefühl nicht los, daß dort jemand saß. Raban knabberte zärtlich an seinem Ohr. Er krächzte, als wollte er ihn auslachen.
„Sei still, du Vogel! Da gibt es gar nichts zu lachen!“ Er fing den befremdeten Blick Brighids ein, die sich offenbar ein weiteres Mal wunderte, wie und daß er mit dem Vogel sprach.
Brigidh bemerkte wohl, an Talivans Gesichtsausdruck, daß er sich über ihr Befremden erheiterte. Manchmal war dieser Mann doch recht merkwürdig, er blieb jedoch eine gute Wahl! Sie ließ ihm keine Gelegenheit mehr, tiefer in den Wald zu reiten, und während sie sich der Burg zuwandten, schwatzte sie munter drauflos.
Endlich! Ich wagte wieder zu atmen. Das war knapp. Er mußte mich bemerkt haben! Ich dankte der Frau, die mich, ohne es zu ahnen, vor einer Entdeckung bewahrte. Ich lachte innerlich über den Blick des Narbigen, als die Frau zu ihm geritten war: So war also die Angewohnheit, die Augen nach oben zu rollen und die Mundwinkel genervt nach unten zu ziehen, keine Eigenart des 21. Jahrhunderts, es gab sie schon immer! Irgendwie empfand ich diese Tatsache tröstlich.
Ich schenkte den nachfolgenden Reitern kaum Beachtung, denn meine Gedanken kreisten schon wieder um den einen. Ich wüßte zu gerne seinen Namen! Woher hatte er all diese Narben? Hatte er sie im Kampf erhalten? Oder durch einen Unfall? Nein, dafür schienen sie mir doch zu gleichmäßig, als hätte ihm jemand ein Kreuz über das Gesicht gezogen. Und die Frau? War sie seine Ehefrau? Oder eine Geliebte? Ich stellte mir vor, wie er sie in die Arme nahm, sie unter seiner Berührung dahinschmolz. Ich war eifersüchtig! Unglaublich! Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte ich eifersüchtig sein?
Doch dieser Mann war zu tiefer Liebe fähig, das fühlte ich! So zärtlich wie er seinen Raben kraulte und so wie er das Pferd behandelte, er mußte empfindsam sein! Ich ertappte mich, daß ich tatsächlich den Wunsch hegte, an Stelle dieser Frau zu sein. Unbegreiflich!
Mit den Augen folgte ich dem Rest der Gesellschaft, bis hinunter zur Burg, ehe ich meinen Blick ein weiteres Mal über das Burganwesen schweifen ließ. Da entdeckte ich, was ich zuvor übersehen hatte: den Garten. Zwischen einigen Laubbäumen, am Rande der Siedlung, sah ich die Obstbäume stehen. Mein Herz hüpfte vor Freude. Nun brauchte ich nur auf die Dunkelheit zu warten, um meinen Vorrat aufzufüllen. Ohne es bewußt zu steuern, suchten meine Augen nach dem Einen. Er ritt zwischen den Häusern zum Burgtor hinauf. Ein anderer Mann ging wild gebärdend neben dem Pferdekopf her, ehe der Narbige unversehens anhielt.
Talivan brachte Lluagor zum Stehen. Braddock baute sich vor ihm auf. Als Dorfältester mußte Braddock ihm die Schwierigkeiten der Bürger vortragen und mit ihm besprechen, oder ihn gegebenenfalls um Hilfe bitten. Er hatte nicht alles verstanden, was Braddock ihm erzählt hatte, sodaß er ihn wiederholen ließ.
„Herr!“, sagte dieser erneut. Talivan nickte ihm auffordernd zu.
„Als ihr im Wald gewesen seid, ist eine eigenartige Fremde zu den Frauen an den Brunnen gekommen. Dalia, Fand und Adna konnten keines ihrer Worte verstehen. Mit Gebärden zeigte sie ihnen, daß sie Essen haben wollte. Ihr Gewand leuchtete feuerrot, ebenso wie ihre Haare. Die drei glauben, daß es sich um eine Zauberin der schwarzen Seite handelt und sie haben schreckliche Angst vor ihr.“ Er stocherte mit den Zehenspitzen im Boden herum. „Besonders Adna, da sie die Frau ungebührlich lange anblickte. Sie sagt, der Stoff ihres Gewandes sei so fein wie ein Windhauch.“ Er blickte zum Burgtor. „Fand schickte die Frau hinauf zur Burg, doch sie floh in den Wald zurück, als wären tausend Krieger hinter ihr her.“
Braddock setzte an fortzufahren, wenn er einmal sprach, war er kaum zu bremsen, doch Talivan gebot ihm mit einer Geste Einhalt. Er sah sich unter den Umstehenden um und winkte Adna zu sich, als er sie entdeckte.
„Was hast du zu berichten?“
Adnas Augen waren kugelrund, und ihre Stimme bebte vor Aufregung, als sie sprach. „Herr, ich habe niemals einen solchen Stoff gesehen! Nicht einmal bei den hohen Damen.“ Sie schluckte überreizt.
„Glaubt ihr, daß sie mich jetzt verfluchen wird?!“
„Warum sollte sie das tun, vorausgesetzt, sie ist eine Frau mit Zauberkräften?“
„Weil ich ihr rotes Gewand so anstarrte?“
Talivan fiel der rote Fleck im Busch wieder ein. Er hatte sich also nicht getäuscht!
Irgendwie hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Die beiden Männer unterhielten sich jetzt schon eine Weile. Da konnte ich das Mädchen vom Brunnen erkennen, sie ging auf den Narbigen zu. Jetzt war ich mir sicher, über was sie sich unterhielten, mehr brauchte ich nicht zu sehen. Mich flach auf den Boden drückend, kroch ich so schnell ich vermochte, aus dem Busch heraus, tiefer in den Wald hinein. Als ich mir sicher war, daß sie mich von der Burg aus nicht mehr entdecken konnten, richtete ich mich wieder auf und lief geduckt weiter. Nach kurzer Zeit entdeckte ich einen Baum, in dessen Krone ich mich verstecken konnte. In etwa drei Metern Höhe drückte ich mich dicht an den Stamm. Zu meinem Glück konnte ich von hier aus den Busch und ein Stück des Weges sehen.
Raban flog laut krächzend von seiner Schulter auf und in Richtung Wald davon. Talivan sah ihm nach, wendete Lluagor und ließ ihn antraben. Er wollte zu dem Busch zurückreiten. Wahrscheinlich würde er nichts mehr vorfinden.
Da kam er bereits, der Ritter. Er ritt den Weg hoch, bis zum Busch hin. Er mußte mich also tatsächlich gesehen haben. Wie gut, daß ich so geistesgegenwärtig gewesen war, sonst hätte er mich jetzt gefunden.
Talivan hielt ohne Zögern vor dem Busch. Mit den Augen suchte er die Umgebung ab. Doch das hatte keinen Sinn, sie war längst über alle Berge. Er wendete Lluagor und ritt zurück in seine Burg.
Er kehrte um, und ich atmete erleichtert aus. Gerettet! Das war knapp. Ich war mir allerdings im Klaren darüber, daß mich nur der heutige Tag gerettet hatte, morgen konnte mich das Glück schon verlassen haben.
Ein unerwartetes sanftes Krächzen über mir, ließ mich erschrocken zusammenfahren und nach oben schauen. Da saß dieser Rabe und blickte mich neugierig an. Würde er jetzt seinen Herren rufen? Ich bewegte mich nicht, starrte nur zurück. Er watschelte wie ein Betrunkener auf dem Ast herum, während er weiter seine heiseren, kehligen Laute ausstieß, leise, als wollte er mich nicht erschrecken. Er hielt seinen Kopf schräg, wie ein Hund, derweil beobachteten mich seine kleinen, schlauen schwarzen Augen unentwegt. Ich hatte das vernunftwidrige Gefühl, als beobachtete mich jemand durch die Augen des Raben. So ein Unsinn! Ich versuchte, den durchdringenden Blick des Vogels nicht zu beachten und begann mit dem Abstieg. Er folgte mir gemächlich, Ast für Ast, ohne mich aus den Augen zu lassen, während er vor sich hinbrabbelte wie ein alter Mann. Als ich schließlich unten ankam, sprang er vor meine Füße auf die Erde. Ich hockte mich hinunter zu ihm, streckte zaghaft die Hand aus. Blitzschnell hackte er danach. Unerwartet krächzte er laut und durchdringend und flog auf, zurück zur Burg. Ich fühlte mich von diesem seltsamen Tier verraten. Sehnsüchtig blickte ich ihm nach.
Ich mußte mir dringend einen Schlafplatz in der Nähe suchen, denn in der Nacht hatte ich meinen Vorrat aufzufüllen. Außerdem sollte ich am Tage versuchen Bucheckern zu sammeln, eine gesunde und schmackhafte Nahrung. Schließlich fand ich einen mir geeignet erscheinenden Baum, auf dem ich mich häuslich einrichtete, denn die Nacht brach mit erstaunlicher Geschwindigkeit über den Wald herein. Ich versuchte, mein Unterbewußtsein auf Mitternacht einzustellen, da um diese Zeit, so hoffte ich, die meisten der Menschen hier schlafen würden, und die Gefahr entdeckt zu werden, sich verringerte. Wenn die Sonne schlafen ging, dann herrschte Dunkelheit, ob ich müde war oder nicht. Gewöhnlicherweise würde ich um diese Zeit zuhause mein Licht einschalten, mir einen Tee aufgießen, mich vor den Zeichentisch setzen und arbeiten. Was gäbe ich darum! Doch ich wollte nicht weiter darüber nachdenken,