Die Artuslinde. Manuela Tietsch

Die Artuslinde - Manuela Tietsch


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Straßen. Wohin mein Blick fiel, zeigte sich mir unberührte Natur. Die prächtigsten Wälder, Wiesen und Lichtungen.

      Um mich herum raschelte und knackte es. Mein Gefühl sagte mir, daß diese Geräusche von Wildtieren des Waldes stammten, sehen konnte ich indes kein einziges. Trotzdem glaubte ich mich von Tausenden von Augenpaaren beobachtet, und das jagte mir Angst ein. Trotz meines schnellen Schrittes fror ich erbärmlich. Jetzt zur Nacht hin wurde es deutlich kälter. Während des Weitergehens fand ich mich mit dem Gedanken ab, daß ich mir, wohl oder übel, einen Schlafplatz suchen mußte. Mir blieb keine Wahl. Ärgerlich stellte ich fest, daß mein Kampfgeist, zumindest heute, aufgab. Ich fand doch heute sowieso niemanden mehr! Und morgen? Mir blieben drei Äpfel, eine halbe Flasche Wasser, eine feuchte Decke, mein Zeichenzubehör und mein Leben! Das war doch schon was! Was wollte ich mehr? Außerdem, ich würde nicht gleich verhungern, selbst wenn ich ein, möglicherweise zwei Tage weniger Essen bekam. Wasser gab es sicherlich irgendwo, in Gestalt eines Baches, und wenn dieses so rein und klar war wie die Luft, dann brauchte ich mir darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.

      Zum hundertsten Male kehrten meine Gedanken zu den Menschen zurück, die ich zuletzt gesehen hatte. Um welche Sprache handelte es sich? Irisch, schottisch? Oder walisisch? Vielleicht bretonisch? Die Lage war so unglaublich. Ja, ich glaubte an Wiedergeburt, an Leben nach dem Tod. War ich denn gestorben? Erlebte ich möglicherweise eine Rückführung? Hatte ich mich selber in Entrückung versetzt?

      Meine Angst vor dem Ungewissen wuchs. Was ich zu glauben begann, überstieg trotz allem meinen Verstand. Ich hatte wirklich das widersinnige Gefühl, mich im Mittelalter zu befinden. Ich blickte fragend in den wolkenverhangenen Himmel, und erst da wurde mir überdeutlich bewußt, daß schon seit Stunden kein Flugzeug mehr über mich hinweggeflogen war. Ich hatte nicht ein einziges maschinell erzeugtes Geräusch vernommen. Und diese Tatsache allein reichte, um mich vollends zu verängstigen.

      Ratlos suchte ich die Umgebung nach einem geeigneten Schlafplatz ab. Ein paar dichte Tannen fielen mir auf, denn sie eigneten sich sicherlich bestens, um darunter die Nacht zu verbringen. Während ich auf die Bäume zuging, faßte ich wieder Mut. Ich freute mich darauf, am nächsten Morgen wieder unter der Linde liegend aufzuwachen, um feststellen zu können, daß mein Erlebnis nur ein Alptraum war, nichts weiter.

      Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als es hinter mir laut knackte. Ängstlich drehte ich mich um... und mir stockte der Atem... In etwa dreißig Schritt Entfernung stand ein riesiger Bär. Das Herz sank mir in die Knie. Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich retten konnte, und hielt Ausschau nach einem geeigneten Baum, es mußte schnell gehen! Eine Eiche, deren Krone einladend hin und her schaukelte, schien mir genau die richtige. Trotzdem blieb ich, keiner Bewegung fähig, dem ebenso starren Bären gegenüber stehen. Die Eiche war so nahe, doch meine Beine brachten nicht einen Schritt zuwege. Der Bär schien ebenso erstaunt wie ich. Er beobachtete mich eine Weile, dann brummte er laut. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ein lautes Rauschen in meinen Ohren, kündigte mir eine nahe Ohnmacht an. Bestimmt kam er gleich wütend auf mich zu, und dann war es aus mit mir. Trotz allem, ich konnte mich nicht rühren. Er drehte ungeduldig den Kopf zur Seite, ehe das Unglaubliche geschah und er sich abwandte. Genauso überraschend wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder. Erst nach einer Weile lösten sich meine verkrampften Muskeln. Ich zitterte, butterweich in den Knien, und sackte wie ein Kartoffelsack auf den Boden. Die zweite Lehre an diesem Tag... Unter den Tannen würde ich bestimmt nicht schlafen, das Sicherste war ein Schlafplatz auf dem Baum. Wenn es hier Bären gab, dann gab es womöglich auch Wölfe und Luchse oder andere Tiere, die einem Menschen gefährlich werden konnten, sofern sie sich bedroht fühlten. Ich atmete einige Male tief durch. Die Dunkelheit kroch wie ein böser Schatten über das Land, ich mußte mich beeilen.

      Mit bleischweren Gliedern stand ich auf und ging hinüber zu der Eiche. Ängstlich spähte ich umher, um nicht ein weiteres Mal überrascht zu werden. Es könnte anders ausgehen. Wieder beschlich mich dieses unangenehme Gefühl... Wo gab es im 21. Jahrhundert in Deutschland solche Bären? Freilebend?

      Inzwischen stand ich vor der nächsten Schwierigkeit. Die Eiche war hoch gewachsen, wie sollte ich dort hinaufgelangen? Ich zog meinen Rocksaum nach oben, befestigte ihn am Bund und prüfte den Sitz meiner Sachen, Ich lief um den Baum herum. Welch ein gewaltiges Werk der Schöpfung! Erst beim zweiten Umrunden entdeckte ich einen tiefhängenden Ast der mir geeignet erschien. Trotzdem reichte ich nicht einmal mit ausgestreckten Armen und auf Zehenspitzen heran. Es fehlte nur ein kurzes Stück, verdammt! Ich sprang und bekam ihn gleich beim ersten Versuch zu fassen. Nun mußte ich mich der nächsten Schwierigkeit stellen. Ich würde ein weitres Mal meine Kraft aufbringen müssen, um an dem Ast und Stamm hinaufzuklettern. Ich stemmte meine Füße dagegen und hangelte mich am Ast hoch. Immer wieder rutschten meine Sandalen an der Rinde ab. Mit einem Arm am Ast hängend, so wie Tarzan, zog ich mir mit der freien Hand meine Sandalen aus und ließ diese über sie auf meinem Arm entlanggleiten, um sie mit nach oben nehmen zu können. Ich versuchte, bald am Ende meiner Kräfte, den Aufstieg erneut, und dieses Mal mit Erfolg. Allerdings nahmen mir besonders meine Füße die Begegnung mit der rauhen Rinde übel. Ich hatte überall Schrammen und Kratzer. Schließlich hatte ich es geschafft, ich saß auf der ersten größeren Astgabel und ruhte mich aus. Nur nicht aufgeben! Bloß nicht wieder heulen, das half ja doch nicht. Stück für Stück arbeitete ich mich hoch, bis ich schätzungsweise fünf Meter über der Erde saß. Ich fand eine breite Gabelung, von der ich hoffte, darauf die Nacht verbringen zu können, ohne herunterzufallen. Ich mußte mich festklemmen. Nur wie? Und wenn ich schlafend den Halt verlor? Der Wind blies eisig hier oben, was mir jetzt, da ich zur Ruhe kam, auffiel. Die Nacht versprach kalt und unangenehm zu werden.

      Schicksalsergeben holte ich meine Decke hervor und wickelte mich ein, besser feucht, jedoch nicht gänzlich dem eisigen Wind ausgesetzt. So könnte ich nicht viele Nächte überstehen. In plötzlicher Empörung über meine Gedanken biß ich die Zähne zusammen. Jetzt zweifelte ich schon wieder, dabei fand sich morgen sicher die Lösung meiner Schwierigkeiten!

      Wenn ich mein Erlebnis später meinen Freunden erzählte, glaubte mir bestimmt niemand, geschweige denn, daß einer nachvollziehen könnte, was ich in diesem Augenblick empfand und durchlebte. So schrecklich einsam, so ängstlich!

      Gedankenverloren aß ich einen Apfel und befestigte meinen Rucksack sorgsam an einem Ast, schräg über mir. Die Erschöpfung übermannte mich schließlich. Ich bat die göttliche Kraft um Hilfe, und tatsächlich, getröstet durch mein Gebet, schlief ich schließlich übermüdet ein. Ich übergab mich vertrauensvoll der Hülle des Schlafes und dem göttlichen Schutz. Ich schlief bis zum Morgengrauen durch, hörte nicht die Tiere der Nacht, die unter der Eiche umherstreiften, hörte nicht die Rufe der nächtlichen Greifvögel. Ich schlief einen heilsamen Schlaf, der meinem überforderten Geist und übermüdeten Körper eine Weile Ruhe schenkte.

      5 Auf Burg Sommerstein, 2003

      Sie lief und lief. Ab und zu drehte sie ihren Kopf, um zu sehen wie dicht ihr der Verfolger auf den Fersen war. Liam konnte das nackte Entsetzen in ihren Augen erkennen. Er wollte ihr zurufen stehenzubleiben; er wollte ihr doch nichts tun, doch kein Wort drang über seine Lippen.

      Dann sah er wieder ihren gehetzten Blick. Sie lief weiter, er hinterher. Er fühlte sich wie ein Auge ohne Körper. Er versuchte, sie erneut zu rufen, doch nur ein gequältes Gurgeln kam heraus. Er stöhnte, dann wachte er auf.

      Eine Weile lag er im Bett, seinen erregten Atemzügen lauschend, ehe er das Licht einschaltete. Es spendete ihm Trost und Sicherheit. Er stieg aus dem Bett. Unschlüssig stand er vor der Truhe. Sollte er sie verkaufen? Verschenken? Unter Umständen an den Mann, der ihm die Rohzeichnungen schickte? Oder sollte er sie zu Brennholz verarbeiten?

      Das Ding war in diesem gut erhaltenen Zustand ein Vermögen Wert. Schon der Gedanke, sie aus den Händen zu geben, schnitt ihm ins Herz wie ein Messer. Nein, irgendwie mußte er sich mit ihr und ihrem Geheimnis auseinandersetzen, und mit dem, was sie ihm bescherte. Nur dann würde er seine Ruhe finden!

      6 Ritter Talivan

      Ich wachte durch den frühmorgendlichen


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