Die Artuslinde. Manuela Tietsch
das Gefühl nicht los wurde, daß mir jemand folgte. Das Gegenteil jedoch war der Fall, ich sah keine Menschenseele. Der Wald wollte und wollte kein Ende nehmen. Ich fand weder das Dorf, geschweige einen Menschen. Unbewußt hatte ich schon damit gerechnet, aber ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben.
Nach meinem Gefühl mußte ich wohl mindestens eine Stunde gelaufen sein, vermutlich länger, als ich, verzweifelt und erschöpft, am inzwischen erreichten Waldrand eine Pause einlegte. Ich ließ mich schwer auf die Erde fallen und lehnte mich matt an einen Baumstamm. Da entdeckte ich sie. Die fünf Jungen liefen, Fangen spielend, den Hang hinauf. Der heftige Regenguß vor etwa einer Stunde war von einem wärmenden Sonnenschein abgelöst worden. Wild stoben sie durch das Herbstlaub der vereinzelt stehenden Eichen und Buchen.
Überraschend blieb Bennet stehen. Die vier Nachfolgenden liefen auf, da sie ihre Köpfe gesenkt hielten um nach Eicheln auszuschauen. Ärgerlich blickten sie auf, um über Bennet ein Donnerwetter loszulassen, als auch sie den Grund seines unerwarteten Stehenbleibens entdeckten.
Eine Frau kam auf sie zu. Sie war keine gewöhnliche, denn sie trug einen Hauch von Stoff an ihrem Körper, der wie Feuer zu lodern schien. Ihre dunkelroten Haare wehten wild. Mit ihren schwarzen Augen starrte sie jeden einzelnen von ihnen an. Die Sonne schien sie von hinten in Brand zu setzen. Ihr Blick war wild und gehetzt. Sie schien erstaunt und blieb stehen. Bennet trat einen Schritt zurück, mitten auf Dub‘s Füße, da dieser geradewegs hinter ihm stand. Die Frau sprach sie an, oder doch nicht?
„GottseiDank, daßicheuchhiertreffe. Könntihr mirhelfen? Ich habemichirgendwieverlaufen!“
Bennet verstand kein Wort. Womöglich sprach sie gerade eine Beschwörung über sie? Angst griff wie eine Klaue nach seinem Herzen. Weg, sie mußten hier weg, und zwar sofort. Weg von dieser wilden Wicka der schwarzen Seite, die vermutlich nur darauf wartete, unschuldige Knaben zu opfern!
„Bestimmt verflucht sie uns gerade!“ Bennet sprach aus, was auch die anderen dachten. In wilder Aufregung stoben sie den Abhang hinunter.
Ich konnte es nicht fassen. Endlich hatte ich Menschen gefunden. Anstatt mich jedoch mit ihnen unterhalten zu können, flohen die Jungen vor mir. Weshalb hatten sie mich so angestarrt? War denn mein Anblick so schrecklich? Ich sah die Kinder den Hang hinunterhetzen. Es blieb keine Zeit weiter darüber nachzudenken, ich mußte hinterher. Schon zulange irrte ich in diesem Wald umher, ohne die geringste Spur oder einen Anhaltspunkt zu finden, der auf eine Stadt oder ein Dorf hinwies. Nicht nur, daß ich das Gefühl hatte, mich in einem anderen Wald zu befinden, denn dieser war viel wildwüchsiger und ursprünglicher als der andere, sogar die Beschaffenheit der Pflanzen schien mir fremd. Die Luft, die ich atmete, war rein und klar, schmeckte beim Luftholen gut. Die Bäume strahlten Gesundheit und Kraft aus. Dichtes Unterholz hatte mir ständig das Laufen erschwert, und ich hatte solch einen urwüchsigen Wald nie zuvor in meinem Leben gesehen. Ja, selbst die Kinder kamen mir fremdartig vor. Eher kleinwüchsig von Statur, doch gesund, stämmig und stark. Sie strahlten eine Leistungsfähigkeit aus, die nur in einer gesunden Umwelt zu erlangen war. Wüßte ich es nicht besser, ich glaubte, mich im Mittelalter zu befinden. Wußte ich es denn besser? Mein Unterbewußtsein nagte zweifelnd an meinem Schutzschild. Die Kleidung der Jungen ließ darauf schließen... ihr Gehabe... der Wald... Lächerlich, in welche Bahnen sich meine Gedanken verirrten. Wahrscheinlich spielten die Jungen gerade Robin Hood und schreckten vor mir zurück, weil sie niemanden erwartet hatten. Es schien hier auch recht einsam zu sein. Wie um alles in der Welt hatte ich mich derart verlaufen können? Ich erkannte nichts wieder, und das Dorf schien wie vom Erdboden verschluckt. Ich fühlte mich wie in einer meiner eigenen Bildergeschichten. War es möglich, daß sich jemand einen solch grausigen Scherz mit mir erlaubte und mich im Schlaf an einen anderen Ort gebracht hatte? Aber wer? Das war hirnrissig! Mein Schlaf war leicht, und meinen Freunden traute ich solch eine Gemeinheit nicht zu. Und was geschah dann? Da war sie wieder, die Angst, ohne Vorwarnung.
Ich lief hinter den Jungen her immer den gleichen Abstand haltend. Ich sah, daß die Kinder ihren Lauf beschleunigten, als sie merkten, daß ich ihnen folgte. Mein Herz klopfte bis zum Hals hinauf, und das Gefühl, daß hier nichts stimmte, verließ mich nicht mehr.
Schließlich erblickte ich vor mir ein paar kleine Häuser. Selbst diese, so stellte ich mit Unbehagen fest, sahen so gar nicht zeitgemäß aus. Klarer Fall! Endlich begriff ich. Ich befand mich auf dem Gelände eines Museumsdorfes. So mußte es sein! Hier veranstalteten Mittelalterliebhaber ihre Treffen. Aber wieso hatte ich nicht davon in der Zeitung gelesen? Und meines Wissens gab es in der Gegend kein Museumsdorf, das hätte ich mir doch nicht entgehen lassen.
Ich sah die Jungen wild mit den Armen gebärdend im Dorf ankommen. Sie riefen laut. Nach und nach kamen von allen Seiten Leute und hörten ihnen zu. Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe ich sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet sah. Bisher war ich weitergelaufen, wenngleich bedeutend langsamer, doch jetzt, da ich die abweisenden Blicke der Menschen erkannte, blieb ich stehen. Es war nicht zu glauben, die Menschen dort vor mir trugen allesamt mittelalterliche Gewänder, und ich konnte an ihnen dieselbe Beobachtung machen wie zuvor bei den Jungen. Diese Leute paßten in jeden mittelalterlichen Film, nicht jedoch ins 21. Jahrhundert. Es war und blieb ein Alptraum. Die Frauen trugen Tücher und lange Kleider. Die Männer gröbere Kittel und Wämse. Ihre Schuhe erinnerten mich an germanische Schnürschuhe und Wikingerhalbschuhe. Zögernd ging ich weiter auf sie zu. So sicher wie eben zuvor, daß ich in einem Museumsdorf gelandet war, blieb ich nicht. Einige Schritte Abstand wahrend, hielt ich an. Ich sah Angst in den Gesichtern der Leute. Wovor hatten sie Angst, doch nicht etwa vor mir? Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und kam mir entgegen. Er sprach mich an, doch ich traute meinen Ohren kaum, ich verstand kein Wort. Ich kannte mich doch gut mit Sprachen aus, war wenn ich meinen Sprachlehrern glauben durfte besonders sprachbegabt, aber hier? Ich wußte nicht einmal zu sagen, welche Sprache er dort sprach. Eine keltische, ja, aber...? Ich hatte keine Ahnung. Als der Mann merkte, daß ich ihn nicht verstand, versuchte er es mit Gebärden. Die Holzforke in seiner Hand senkte sich wie eine Waffe und er fuchtelte damit in Richtung Wald. Ich wollte nicht begreifen, was offensichtlich war. Er jagte mich fort. Mit einem Mal schien sämtliche mir noch verbliebene Kraft aus meinem Körper zu weichen. Tränen liefen mir über die Wangen, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Sahen sie denn nicht, daß ich Hilfe brauchte? Daß ich völlig verloren war?
Eine Frau mittleren Alters kam näher. Sie schien zornig, schrie zuerst den Mann an, dann mich. Unerwartet und heftig kam ihre nächste Handlung. Sie bückte sich, hob einen vor ihr liegenden faustgroßen Stein auf und warf ihn mit aller Wucht gegen meine Schulter. Ich schrie vor Schmerz auf.
Schließlich mußte ich begreifen, trotz meiner Verzweiflung, daß mir nur die Flucht blieb, ehe diese Leute sich weitere Nettigkeiten einfallen ließen. So schnell ich konnte rannte ich in Richtung Wald davon. Ich blickte mich einmal um, doch die Menschen harrten bewegungslos vor ihrem Dorf und schauten mir nach. Ich lief und lief, bis ich glaubte, meine Lungen müßten platzen. Die Tränen der Empörung und Verzweiflung waren längst getrocknet. Völlig erschöpft ließ ich mich zu guter Letzt auf den Boden fallen. Meine Schulter schmerzte, es war jedoch Gott sei Dank nur eine Prellung, keine offene Wunde. Allmählich meinte ich, den Verstand zu verlieren. Eins nahm ich mir jedenfalls nach diesem Erlebnis vor: Dem nächsten Menschen, dem ich begegnete, würde ich mit mehr Vorsicht entgegentreten. So etwas wollte ich nicht noch einmal erleben. Plötzlich wandelte sich mein Schluchzen in überreiztes Lachen. Was für Gedanken spukten mir denn da im Kopf herum? Glaubte ich inzwischen tatsächlich, im Mittelalter gelandet zu sein? Wahrhaftig, es hatte mich erwischt, eine andere Erklärung gab es nicht. Ich fühlte mich so einsam und verlassen wie nie zuvor in meinem Leben. Aus meinem Lachen wurde wieder ein Schluchzen.
Es dämmerte bereits. Erst jetzt bemerkte ich, daß mein Magen knurrte. Sinnierend starrte ich auf den Boden. Seufzend holte ich mein Brot und einen Apfel aus meinem Rucksack. War dies meine Henkersmahlzeit? Ich wog den Apfel, als wäre er bleischwer; wann bekam ich wieder zu Essen? Nach der Mahlzeit trank ich einige Schlucke Wasser aus meiner Flasche, auch hier schrumpfte der Vorrat bedenklich. Schweren Herzens stand ich auf. Weitergehen! Nicht aufgeben! Ich mußte doch über kurz oder lang auf eine Straße oder irgendeine Stadt stoßen! Mir Mut zusprechend, ging ich los.
Ich mußte noch einmal gut eine Stunde unterwegs gewesen