Die Artuslinde. Manuela Tietsch
Das war kein Spiel! Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Das waren auch keine Museumsleute! Ein neuer Gedanke versuchte, mich vor der aufsteigenden Angst zu bewahren... Wahrscheinlich wurde hier ein Film gedreht? Mein Bewußtsein bemühte sich, meine letzte Hoffnung zu retten, doch umsonst, es konnte nicht gegen das an, was mich mein Unterbewußtsein schon längst glauben ließ. Es gab nur eine Erklärung, da alle anderen mir auf Grund der Tatsachen unglaubwürdig erschienen: Sie waren echt!
Wieder und wieder liefen mir die Schauer über den Rücken. Ich schloß meine Augen und holte mir das Bild der Ritter ins Gedächtnis zurück, als wollte ich sie zu Papier bringen. Vierzehn Männer hatte ich gesehen. Ritter und Knappen. Die Reitpferde und vier Packpferde. Also waren sie für länger unterwegs! Wo wollten sie hin? Wo kamen sie her? Wohnten sie hier in der Nähe, oder waren sie auf Reisen und hatten einen weiten Weg vor sich? Ich beschloß, dem Pfad und ihnen trotz aller Ungewißheit zu folgen, allerdings soweit ich konnte für andere unsichtbar. Wenn ich eine Burg oder ein weiteres Dorf entdeckte, dann hielt ich erst einmal nach diesen Rittern Ausschau. Mein Gott, ich billigte das erstemal in Gedanken, womöglich tatsächlich im Mittelalter gelandet zu sein. Weiß Gott wie!
Was, wenn ich wirklich und wahrhaftig in eine ungewollte Zeitreise geraten war? Wie würde sie weitergehen? Sollte es bei einer Reise bleiben? Wie würde es enden? Würde ich ebenso unerwartet wieder in meiner Zeit erwachen? Schlagartig schnürte mir die Angst die Kehle zu. Was, wenn ich nie mehr zurückgelangte? Der Gedanke war kaum zu ertragen. Wie lange würde ich wohl hier überleben?
Ich stellte mir vor, wie ich ständig auf der Flucht vor diesen und anderen Rittern im Wald überleben mußte. Wie sollte ich jemals Nähe zu anderen Menschen finden? Oder würde ich von allen so aufgenommen werden wie von den Bauern am Tag zuvor? Inzwischen zweifelte ich nicht mehr daran, daß diese Menschen ihre Echtheitsbescheinigung verdienten. Ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken, ich glaubte wirklich, was ich sah. Ich war mir sogar vollkommen sicher. Diese Leute hier wirkten viel robuster, als trügen sie gesündere und mehr Kräfte in sich als die Menschen meines Jahrhunderts. Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen, denn hier erlebte ich eine unversehrte Natur, wie ich sie mir gewünscht hatte.
Keine Maschinen verpesteten die Luft, das Wasser war rein und klar! Im Geheimen hatte ich doch schon immer den Wunsch gehegt, einmal in diese Vergangenheit blicken zu können, selbstverständlich nur als stiller Beobachter, nicht als Beteiligter. Warum sonst zeichnete ich Bildergeschichten die im Mittelalter spielten? Ich fühlte eine große, unerklärliche Angst in mir. Entschlossen stand ich auf, diese Ängste verdrängend, es half ja alles nichts, ich mußte hinterher!
Es mußte gut eine Stunde vergangen sein, ehe ich schließlich ermüdet, an den Rand des Waldes gelangte. Ich blieb im Dickicht stehen, um die Lage auszukundschaften. Da stand sie, die Burg, mit der ich schon gerechnet hatte. Irgendwie erstaunte mich diese Tatsache gar nicht mehr, obwohl ein flaues Gefühl im Magen nicht ausblieb, wahrscheinlich erst recht, weil ich mit meiner Vermutung richtig lag. Sie stand nicht weit entfernt von mir in einer ansprechenden, hügeligen Landschaft, auf höchster Erhebung. Ich konnte meine Augen weit schweifen lassen. Der Pfad, dem ich gefolgt war, lief weiter bis zur Burg und gabelte sich schätzungsweise fünfhundert Meter vor dem Tor. Unterhalb der Burg siedelten die Bürger. Allerdings wirkten ihre Häuser eher dörflich, enger zusammengerückt als das Dorf, daß ich am Vortag sah. Die Burg thronte über allem. Sie war keine Schönheit, eher eine verschönerte Festung, die Tore standen indes weit geöffnet und wirkten einladend.
Wie sollte ich denn nun weiter vorgehen? Angenommen, die Ritter von vorhin waren die Besitzer? Denen wollte ich auf keinen Fall wieder begegnen. Und was würde ich den Menschen erzählen? Ich konnte kaum die Wahrheit sagen, vorausgesetzt sie verstünden mich.
Und wenn ich ins Dorf schlenderte, das Beste hoffte und wartete, was passierte? Was könnte alles geschehen, falls ich mich wirklich im Mittelalter befand. Ich wollte diesen Gedanken lieber nicht weiterspinnen, so wie die Dörfler mich angeschaut hatten, hielten sie mich allesamt für eine Hexe. Ich beschloß, weiterhin im Versteck und vorerst bei der Beobachtung zu bleiben. Kummer bereitete mir nur mein Magen, der so heftig aufbegehrte, daß bald alle Burgbewohner in meine Richtung blicken würden, weil sie glaubten, ein Ungeheuer läge auf der Lauer und brüllte.
Der für mich eher ungewohnte, stramme Fußmarsch, zudem mit meinen zerkratzten Füßen hatte mich ordentlich hungrig gemacht. Ich suchte mit den Augen die Umgebung der Burg ab, gab es denn keinen Burggarten? Wie dumm, daß ich unterwegs nicht auf Brombeeren geachtet hatte, doch die Angst, entdeckt zu werden, hatte mich weitergetrieben. Ich konnte keinen Garten entdecken. Verdammt, ich mußte näher heran. Hier und da wuchsen Büsche am Weg, hinter denen konnte ich mich verstecken. Wenn ich all meinen Mut zusammennahm, gelänge es mir wahrscheinlich, unentdeckt näher heranzuschleichen. Immer vorsichtig, Stück für Stück, schob ich mich weiter. Den Pfad ließ ich links liegen, jedoch nicht unbeobachtet. Jetzt wieder dem kühlen Wind ausgesetzt, da mich das dichte Laubwerk der Bäume und Büsche nicht mehr schützte, begann ich erneut zu frieren. Vielleicht hundert Meter vor dem ersten Haus hielt ich an, ein dicker Busch bot mir die nötige Sicherheit. Jetzt konnte ich sogar einzelne Burgbewohner bei ihrem Tagwerk erkennen.
Ich sah einige Frauen an einem Brunnen, der zwischen den Häusern stand. Neben ihnen spielten Kinder. In der Burgschmiede wurde anscheinend fleißig geschmiedet, denn ich konnte den Hammer auf dem Amboß tanzen hören. Durch das offene Tor erblickte ich geschäftiges Treiben im Burghof. Meine Vermutung wurde erneut bestätigt, da alle Menschen mittelalterliche Kleidung trugen.
Eine Bewegung am Burgtor lenkte meine ungeteilte Aufmerksamkeit dorthin. Reiter ritten heraus. Die Angst griff wieder nach mir, das waren die Ritter von vorhin, und sie galoppierten in meine Richtung. So tief ich vermochte, drückte ich mich auf den Boden. Als sie an mir vorüberpreschten, fiel mir auf, daß ihre Gesichter noch grimmiger als vorher dreinblickten. Sie schauten weder nach rechts noch nach links, sodaß ich vor Entdeckung sicher zu sein glaubte. Bei der Gabelung bogen sie nach rechts ab. Dann waren sie also die Besitzer der Burg, wie ich vermutet hatte?
Weitere Unruhe am Tor ließ mich die Ritter vorübergehend vergessen. Eine weitere Gruppe ritt aus dem Tor. Diese Leute hatten es jedoch anscheinend nicht so eilig. Ich erkannte schnell den Grund dafür, hier handelte es sich offenbar um eine Jagdgesellschaft. Nein, ich konnte keine Hunde sehen und keine Greifvögel. So mußte dies eine Gesellschaft von Höflingen und edlen Damen sein. Sie trugen lockere, bunte Kleidung. Es blinkte kein Helm oder Schwert in der Sonne. Ein Ausflug also. Ihre Gewänder waren verziert und geschmückt. Einer fiel mir besonders auf, möglicherweise der Barde, der auf einem rotbraunen, ebenfalls geschmückten Pferd einherritt und am buntesten von allen gekleidet war.
Die Leute schienen bester Laune zu sein, und der mutmaßliche Barde ritt inmitten einer Schar lachender Damen. Unaufhaltsam näherten sie sich meinem Gebüsch. Ich versuchte, mich kleiner zu machen, wodurch ich mir zwar die Sicht auf die Leute nahm, mich jedoch sicherer fühlte, und hören konnte ich sie ja noch. Das allerdings nutzte mir herzlich wenig, denn ich verstand kein Wort, obwohl sie laut schwatzten und lachten. Der Barde spielte auf einer kleinen Flöte ein munteres Stück.
Da hörte ich sie, die Hunde! Sie liefen laut kläffend hinter der Gruppe her. Oh Gott, wenn die meine Witterung aufnahmen! Ich war verloren! Ich wagte einen kurzen Blick. Meine Angst schien unbegründet, da die Hunde viel zu aufgeregt zwischen den Pferdebeinen umherliefen. Sie hechelten der Gruppe hinterher, nahmen nichts anderes nebenher wahr. Ich war gerettet.
Die Gruppe bestand aus mindestens zwanzig Reitern, wenn ich richtig gezählt hatte, und ich ärgerte mich, daß ich jetzt nicht am Waldrand hockte, denn dann hätte ich sie viel besser beobachten können. Sollte sich der Burgherr unter diesen Leuten befinden? Konnte ich unter Umständen doch einen Vorstoß zu den Frauen am Brunnen wagen und um Essen bitten? Ich wagte einen weiteren Blick durch das Geäst des Busches. Die Gruppe war inzwischen am Waldrand angelangt.
Ich ließ eine Zeit verstreichen, ehe ich mich hinaustraute. Die Gesellschaft war längst im Wald verschwunden. Ich mußte es irgendwie schaffen, so auf dem Weg anzukommen, als wäre ich ihn, vom Waldrand her hinuntergegangen. Dann glaubten die Menschen von der Burg vermutlich, daß ich dem Burgherren begegnet wäre und er nichts gegen mich einzuwenden