Die Rückkehr des Wanderers. Wolfe Eldritch
einmal ihre Mutter sie noch erkannt. Baldric hatte es nur seinem Potential und dem bis zu diesem Tage hohen Ansehen bei den Oberen zu verdanken, dass er nicht nur im Leben, sondern auch im Orden verblieb. Seine kurze aber prägnante Zeit in Wachtstein, im Machtzentrum von Orden und Reich, war allerdings vorbei gewesen. Er war, nur wenige Tage, nachdem man die von ihm verursachte Schweinerei beseitigt und die Mäuler der Zeugen gestopft hatte, hierher in die Ostmark versetzt worden.
Diese galt damals wie heute als der unruhigste und gefährlichste Teil des Reiches. Besonders die östlichen Grenzlande, in denen Baldric sich nun seit über zehn Jahren befand, wurden ihrem Ruf vollauf gerecht. Das Königreich war in den Wirren der Zeit nach dem Grau nicht auseinandergebrochen, doch hatten sich einige Teile des Landes nur langsam und schwerlich von den Veränderungen erholt. In der Ostmark war das am weitläufigsten der Fall gewesen.
Das Grenzland war nach den ersten Unruhen im Grunde genommen Niemandsland. Dann hatte sich der Orden der Landstriche angenommen, um für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Steppenkriege gegen die Goyaren, einem wilden, halbmenschlichen Volk aus den Weiten des Ostens jenseits des Reiches, waren Jahrhunderte her. Ganz vergessen war die Angst vor einer fremden Horde hierzulande jedoch nie. Dabei spielte es keine Rolle, dass seit Generationen kein Zeichen von Leben mehr aus östlicher Richtung gekommen war. Noch immer hielt der Orden diese Grenze, obgleich der jetzige Herzog die Ordnung im westlichen Teil der Mark längst wiederhergestellt hatte. Boden, in den das Blut ihrer Brüder geflossen war, gaben die Templer so leicht nicht wieder auf.
Baldric ließ seinen Blick über die Zinnen von Moorwacht und den von kleinen Waldstücken unterbrochenen Horizont schweifen. Die Umrisse der Bäume zeichneten sich in dem feinen Nebel ab, der die Welt in einiger Entfernung in einen geisterhaften Schleier hüllte. Er hatte im Laufe der Jahre in vielen Ordensburgen der Ostgrenze gedient. Hatte bei Niederschlagungen von unbedeutenden Bauernaufständen im Süden ebenso gekämpft, wie bei den Jagden gegen die Banden von Gesetzlosen in den bewaldeten Gebieten im Norden. An zwei Expeditionen hinter die Grenze in die östlich liegende Tundra, denn dazu war die Steppe nach dem Grau geworden, hatte er teilgenommen. Eine trostlose, leere Landschaft war das, ohne eine Spur von Leben außer ein paar Vögeln und kleinem Pelzgetier. Die Tage der großen Unruhen gehörten der Vergangenheit an.
Das schlimmste Chaos und Elend an Krieg, Hungersnot und Krankheiten war vor seiner Zeit vorbei gewesen. Aber es war immer noch die Ostmark, in der man sich einen Namen machen konnte, wenn man überlebte. Und das hatte er getan. Darin war er gut. Er war am Leben geblieben und seinen verbotenen, in den Augen der Welt abartigen Bedürfnissen selten und diskret nachgegangen. Meistens jedenfalls, nachdem er einige weitere Dinge gelernt hatte.
Diese magere, dreizehn Jahre alte Hure hatte er nie vergessen. Der Abend war heute nicht mehr, als eine verschwommene Erinnerung an einen Rausch aus Bildern und Gefühlen. Und doch hatten sich die Details ihres Zusammenseins unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Ihre großen, dunklen Augen, die ihn ansahen, als er sich entkleidete. Sie hatte gelächelt, zum einen wohl, weil sie wusste, dass es sein erstes Mal sein würde. Aber auch, weil sie ihren Körper erst seit kurzem verkaufte, und daher an einem so stattlichen Burschen noch selbst Freude haben konnte. Die Beschaffenheit ihres Haares, der Geschmack ihrer Haut und ihres Schweißes. Dann das Geräusch des Stöhnens, das irgendwann in erstickte Schreie übergegangen war. Erst voll von ihrer Lust, dann voll von Schmerz und Grauen, als er die Seine befriedigte. Oder die seines Dämons, falls es diesen Unterschied gab. Das Gefühl, wie sie unter ihm brach, unter ihm zuckte, unter ihm verging. Die, wenn auch nur kurze, Geborgenheit durch die Wärme und den Geschmack ihres Blutes. Sie war bis zum heutigen Tage die älteste Frau geblieben, die ihn je wirklich erregt hatte. In der Nacht, in der er sie tötete, setzte sich etwas Essentielles in ihm frei.
Wenn er heute darüber nachdachte, konnte er sich glücklich schätzen, die Lektion mit einer kleinen Hure gelernt zu haben. Die konnte man zumindest ohne großen Aufwand verschwinden lassen und die Spuren mit ein wenig Geld verwischen. Unter anderen Umständen wäre diese Erfahrung eine seiner Letzten gewesen, Ordensbruder oder nicht.
Zunächst hatte er in den darauffolgenden Jahren versucht, sich mit älteren Frauen zu treffen. Die Grenzterritorien der Ostmark waren nur spärlich besiedelt, und die Stützpunkte des Ordens lagen meist weitab der größeren Ortschaften. Es gab allerdings hier und da Dirnen, und auch die eine oder andere Bauersfrau war in diesen schweren Zeiten bereit, einem für ein wenig Nahrung zu Willen zu sein. Zwar mochte der Hungertod für viele Menschen nur noch ein Schreckgespenst sein, doch hatte es in den östlichen Grenzlanden nach wie vor ungleich schärfere Klauen und Zähne als im Inneren des Reiches.
So hatte Baldric damals versucht, seine Bedürfnisse mit der herkömmlichen Form der geschlechtlichen Zerstreuung zu befriedigen. Umsonst, wie er bald hatte feststellen müssen. Sein Trieb war gleichbedeutend mit seinem Dämon, und dieser wollte Blut. Junges Blut, Angst und Schmerz und Verzweiflung. Vielleicht war es das gleiche Ding, das ihn als Kind dazu gebracht hatte, diesem Novizen so lange ins Gesicht zu treten, bis man ihn von ihm wegzerrte. Der Junge verlor sein linkes Auge und blieb auf dem Rechten fast blind. Baldric erinnerte sich mit einer Art klaren Distanziertheit an den Vorfall. Er konnte beinahe das Wimmern hören, den dumpfen Schmerz in seinem Fuß spüren, durch den Stiefel hindurch, wie er immer wieder zutrat. Er trat nicht mit aller Kraft zu, das hätte sein Opfer nach wenigen Tritten getötet. Er traf den Kopf nur hart genug, dass der andere Junge blutete und schrie, bis sein Gesicht nur noch ein blutiger Brei war. Hatte ihn das erregt? Vermutlich nicht, schließlich war er kaum mehr als zehn Jahre alt gewesen.
Aber auch diese spezielle Lust ließ sich befriedigen. Der immer drängender werdende, schreckliche Druck, ließ sich von ihm nehmen. Hier draußen war vieles leichter als anderswo. Das eine oder andere vermisste Mädchen fiel in Tagen wie diesen kaum auf. Die Kleinen verschwanden, starben, hatten Unfälle. Letztendlich war ein verschwundenes Kind für manche arme Seele nur ein hungriges Maul weniger, das es zu stopfen galt. Darüber hinaus war er, nachdem er einige Erfahrungen gesammelt hatte, überaus vorsichtig. Mit älteren Frauen traf er sich nicht mehr, was angesichts seiner Stellung im Orden kein Aufsehen erregte. Es war zwar kein Zölibat vorgeschrieben, aber von einem vollwertigen Ritterbruder erwartete man einen gewissen Anstand. Wurde schon keine Enthaltsamkeit geübt, so war doch ein hohes Maß an Diskretion angebracht. Baldric hatte es freilich zu einem Meister dieses Faches gebracht, wenn auch auf andere Art und Weise, als viele glauben mochten. Waren seine Gründe doch schwerwiegender, als bei einem normalen Mann mit gewöhnlichen Gelüsten.
Baldrics sonstiges Verhalten war tadellos und beispielhaft. Er war diszipliniert, fleißig und unermüdlich im Training wie in den Besuchen der Messe. Darin war er all die Jahre über beständig gewesen, weil er es sein musste. Dabei war er trotz der freundlichen Distanz, die er zu jedermann hielt, nicht unbeliebt, ganz im Gegenteil. Er galt als introvertiert und über die Maßen pflichtbewusst, aber auch als zuverlässig und hilfsbereit. Der Humor, dessen er sich befleißigte, war oft zynisch und kaltschnäuzig, passte aber durchaus zu seinem Wesen und kam daher bei vielen Brüdern an. Er schien stets unnahbar, ohne dabei arrogant zu wirken.
In den Kämpfen, die er geschlagen hatte, hatte er einen Mut unter Beweis gestellt, der an Kühnheit grenzte. Diese Tapferkeit brachte ihm auch bei denen Respekt ein, die von seinem Auftreten und Zynismus irritiert waren. Selbst die Kameraden, die keinerlei Sympathien für ihn hegten, achteten ihn.
Das war letztendlich der Grund, warum Baldric von Dunstan nun der dritte Marschall der Ostmark war. Die Ranggenossen Gregor Stoinok und Ladislaus Koranov stammten beide aus der Ostmark, wie die meisten Männer, die hier ihren Dienst versahen. Ersterer hatte ihn für den Titel vorgeschlagen, nachdem sein Vorgänger vor Kurzem betagt gestorben war. Die große Mehrheit, mit der er daraufhin von seinen Brüdern gewählt worden war, hatte niemanden überrascht. Ihn trennten zehn Jahre zu den anderen beiden Marschällen und fünfundzwanzig zum Landmeister Jarek Zdravko. Dennoch genoss er den Respekt der Älteren.
Seine Position war in gleichem Maße gefestigt, wie hart erarbeitet. Alles verlief in wohl strukturierten Bahnen, so wie er es mochte, so wie er es brauchte. Seine Augen ruhten auf einem Wäldchen, das in der Richtung lag, in die er morgen früh aufbrechen würde. Hinter den Bäumen, im Nebel verborgen, folgten ein paar Landmeilen Grasland. Später wandelte sich die Landschaft im Norden zum Moorland und im Süden zu einem