Sternenfrau Eve. Edda-Virginia Hiecke
mit anderen Leuten führte. Ihr fiel die Unterhaltung mit ihrem Direktor ein. Ein Kind ihrer Klasse hatte beim spielen mit dem Ball eine Fensterscheibe beschädigt. Er wollte wissen, ob dies mit Absicht oder aus Versehen geschehen sei, da er wusste, dass der Junge zu erhöhter Aggression neige. Noch während sie versicherte, dass es ein Versehen gewesen sei, vernahm sie eine Stimme in ihrem Kopf: 'Wenn ich doch bloß endlich eine andere Aufgabe finden würde, ich bin diese Kinder so satt!' Sie hätte schwören können, dass diese Worte vom Direktor kamen, doch der hatte seine Lippen nicht bewegt. Gleichwohl war sie nicht weiter überrascht, als ihr Chef fünf Wochen später an eine kleine Universität wechselte. Als David nur Tage später mit seinem Bruder frühstückte, vermeinte er, ihn darüber sprechen zu hören, wie ihn seine Frau betrüge. Er schaute Jonas erstaunt an und fragte nach.
„Seit wann glaubst du denn, dass Fiona dich betrügt?“
Jonas wurde rot und stammelte „Wie kommst du denn auf so etwas? Ich hab doch nichts dergleichen gesagt!“
„Du hast es doch eben gesagt, ich bin sicher, dass ich das gehört habe.“
„Ist ja mal wieder Klasse, wie gut du mir zuhörst, wir haben doch eben über Bilanzen deiner Auslandsgeschäfte geredet.“
„Na gut, tut mir leid, vielleicht habe ich etwas vom Tisch nebenan aufgeschnappt. Ich hab' in letzter Zeit oft starke Kopfschmerzen und kann mich schlecht konzentrieren.“
„Es sei dir nochmal verziehen. Aber wenn das nicht besser wird mit euren Kopfschmerzen, du hast ja gesagt, Annie hätte das Problem auch, dann solltet ihr vielleicht mal einen Arzt aufsuchen. Wenn ich es recht überlege, habt ihr das seit ihr von eurer Hochzeitsreise zurück seid. Wer weiß, was ihr euch da eingefangen habt?“
„Ja, das sollten wir wirklich tun, das scheint nicht normal zu sein. Jetzt lass' uns weiter über das liebe Geld reden!“, grinste er und sie setzten ihr Gespräch fort.
David dachte nicht weiter über diesen Nachmittag nach, aber als Jonas einige Wochen später verkündete, dass Fiona und er für eine Weile getrennte Wege gehen würden, fiel ihm alles wieder ein. Er hütete sich jedoch, seinem Bruder etwas davon zu sagen. Die Kopfschmerzen wollten einfach nicht aufhören, sie waren lediglich etwas dumpfer geworden.
Zur Weihnachtszeit saßen Annie und David gemeinsam auf ihrem Sofa und schnieften um die Wette.
„So eine verflixte Erkältung“, schimpfte Annie. „Wäre ich doch jetzt an einem Strand mit einer Margarita in der Hand und müsste nicht diesen widerlichen Tee schlürfen!“
„Oh ja, wie wäre es mit den Bahamas oder Hawaii. Es gibt in Hawaii einen Strand, an den Einheimische nicht gehen, sondern mit ihren kleinen Booten fahren, weil der Strand nur von See aus erreichbar und so vor Touristen verborgen ist. Ich bin einmal mit einer früheren Freundin dort gewesen.“
David stellte sich den Platz vor und ehe sich die beiden versahen, saßen sie an genau diesem Strand. Verblüfft sahen sie sich an. Außer ihnen war niemand zu sehen. Wie kleine Kinder ließen sie den Sand durch die Finger laufen und spürten den sanften, warmen Hawaiiwind auf ihrer Haut. Beide glaubten, sie würden halluzinieren, als es aber Abend wurde und die Sonne täuschend echt unterging, wurde es ihnen mulmig.
„Ich hab' das Gefühl, wir sind wirklich auf Hawaii, wie ist das möglich?“ Annie bekam Angst, auch David wurde es mulmig.
„David, hast du dir genau diesen Strand vorgestellt, ich meine, hast du ihn genau so vor Augen gehabt?“
Sie brauchte nicht auf eine Antwort zu warten, denn der ungläubige Ausdruck auf seinem Gesicht und das leichte Nicken seines Kopfes war Antwort genug.
„Kannst du dir bitte wieder unser Wohnzimmer vorstellen? Ich will nach Hause!“
Wieder nickte David leicht und augenblicklich waren sie zu Hause auf ihrem Balkon.
„Hm, es sieht so aus, als müssten wir das noch üben“, schmunzelte Annie und klopfte an die Balkontür, als drinnen gerade Ristorn vorbeiging. Erstaunt, seine Arbeitgeber plötzlich draußen vor verschlossener Tür zu sehen, öffnete er und ließ die beiden ein.
„Irgendwie muss die Tür zugegangen sein, als wir ein wenig Luft schnappten“, beeilte sich David zu erklären, bevor sein Diener unangenehme Fragen stellen konnte.
„Gewiss Sir“, erwiderte Ristorn mit unbewegtem Gesicht und sah, wie die beiden schnell im Schlafzimmer verschwanden.
In den folgenden Wochen nahmen die Kopfschmerzen vehement zu und erreichten eine Stärke, die es beiden fast unmöglich machte, vor die Tür zu gehen. Sie verkrochen sich ins Bett, meldeten sich krank und waren für niemanden zu sprechen. Ristorn und Mrs.Truder bekamen gegen ihren erklärten Willen Urlaub. Die ungewöhnliche Stille in der Wohnung entspannte Annie und David etwas. Liebevoll nahm er seine Frau in den Arm und wiegte sie sanft. Er strich ihr das schweißnasse Haar aus dem Gesicht und achtete sorgfältig darauf, dass sie gut zugedeckt war. Sie spürten die Schmerzen, die der andere durchzustehen hatte und kamen sich gleichzeitig unsäglich hilflos vor. Sie wollten aber keine Hilfe von außen in Anspruch nehmen, denn sie waren unsicher, weil ihnen alles sehr unwirklich vorkam. Bestimmt würde dieser böse Traum bald von ihnen weichen und sie würden erleichtert darüber lachen können. Doch der Traum hörte nicht auf. Annie versuchte, im Internet etwas über unerklärliche Phänomene zu finden, doch wusste sie nicht so genau, wonach sie suchen sollte. Wie sollte sie es nennen, dass sie sich durch Gedankenkraft an einen anderen Ort begeben konnten? Wie erklären, dass sie die Gedanken anderer Menschen mühelos lesen konnten, als hätten diese sie ausgesprochen? Damit nicht genug, würde es ihnen doch niemand glauben, in welcher Windeseile sie ein Buch lesen konnten und dass sie dann in der Lage waren, anzugeben, wo ein bestimmtes Wort stand.
„Ich komme mir vor, als sei ich einem Buch über Mutanten entsprungen wie sie bei Perry Rhodan beschrieben sind.“
David wusste darauf nichts zu erwidern. Vor seinem geistigen Auge tauchte gerade die Vision ihrer Nachbarin Mary Baltmin auf, die auf der Balkonbrüstung stehend in die Tiefe schaute. Er schreckte hoch und lief hinaus. Auf dem Balkon nebenan sah er tatsächlich Mrs.Baltmin auf einem Schemel vor der Brüstung stehen.
„Tun Sie das nicht Mary!“, rief er ihr zu. Sie schaute ihn an, als ob er ein Geist sei.
„Er hat mich verlassen, er hat mich verlassen“, murmelte sie wie ein Mantra immerfort vor sich hin, während sie den ersten Fuß unsicher auf die Brüstung setzte.
„Bitte Mary, tun Sie es nicht!“, flehte er nun. „Es hilft niemandem, wenn Sie Ihr Leben wegwerfen. Bitte kommen Sie da runter. Kommen Sie doch rüber und wir reden!“
Doch Mary hörte ihn, betäubt von Verzweiflung, nicht. Schon stand der zweite Fuß auf der Brüstung. Sie stützte sich an der Wand ab und starrte ausdruckslos in die Tiefe.
„Er hat immer gesagt, ich solle mich doch einfach mal fallen lassen, das tue ich nun.“
Für einen kurzen Moment nahm sie die Hand von der Wand und hätte fast das Gleichgewicht verloren. In letzter Sekunde fand sie wieder Halt. Annie war David gefolgt und erschrak angesichts der Gefahr, in der Mary schwebte.
„Mary, steigen Sie sofort dort herunter!“, rief sie unmissverständlich mit fester Stimme. Erstaunt schaute die so streng Angesprochene zu Annie und David, als ob sie diese erst jetzt bemerkte.
„Was machen Sie denn hier? Kann ich nicht einmal zum sterben alleine sein?“ entrüstete sie sich nun.
„Nein, können Sie nicht!“, antwortete Annie prompt. „Sie hören jetzt sofort mit diesem Unsinn auf und kommen runter, sonst komme ich zu Ihnen rüber und dann wird der Sprung Ihnen noch leid tun, das schwöre ich Ihnen!“
Nun wurde Mary sauer und setzte einen Fuß zurück auf den Schemel, um sich besser zu David und Annie umdrehen zu können.
„Wer hat Ihnen denn erlaubt, sich in meine Angelegenheiten zu mischen?!“ schrie sie aufgebracht. „Ich bestimme mein Ende immer noch selbst und wenn ich springen will, dann springe ich!“
„Finden Sie wirklich, dass ihr Leben zu Ende ist, nur weil Ihr Freund so roh ist, Sie zu verlassen? Seien Sie doch