Sternenfrau Eve. Edda-Virginia Hiecke
„Wir müssen zur Party, sonst fragen sich meine Gäste noch, wo ich geblieben bin und suchen mich. Ich glaube, es wäre nicht so gut wenn sie uns hier im stillen Kämmerlein fänden.“
Annie musste tief Luft holen, bevor sie ihm antworten konnte.
„Ja gehen wir!“ Verschmitzt schaute sie ihn von schräg unten an. „Das stille Kämmerlein kann uns im Gegensatz zu deinen Gästen nicht davon laufen.“
David rollte stöhnend mit den Augen und wünschte sich eine kalte Dusche.
„Versprich nicht, was du später nicht halten kannst“, flüsterte er ihr ins Ohr und strich ihr sanft über das Kinn. Annie nickte kurz und drehte sich zur Tür.
„Niemals. Komm, deine Gäste warten!“
Ein sanftes Lächeln begleitete das kurze Aufleuchten der Augen als sie bemerkte, dass David sich nur schwer beherrschen konnte. Außer Ristorn sah niemand die beiden aus dem Zimmer treten und als guter Butler verlor er natürlich kein Wort darüber.
Ristorn verehrte seinen Herrn, obwohl er das natürlich niemals zugegeben hätte. Ein Butler hat seinen Dienst zu tun, Gefühle sind da nicht gefragt. Gleichwohl fiel ihm auf, dass er seinen Herrn noch nie so gesehen hatte, als er ihn nun mit der unbekannten Frau aus dem Zimmer kommen sah. Das strahlende Gesicht und die leuchtenden Augen, die mit verzauberter Zärtlichkeit in das Gesicht der zuletzt gekommenen Besucherin blickten, sprachen Bände. Ristorn erlaubte sich, diese Frau etwas näher zu betrachten und fand, dass sie trotz der etwas unpassenden Jeans recht ansehnlich war. Ihr dunkelblondes Haar fiel weich um ihr ovales Gesicht, ihr sinnlicher Mund und die großen blauen Augen mit den leichten Lachfältchen strahlten anziehend. Die leicht stupsige Nase nahm dem Gesicht die Strenge, die es sonst durch das recht ausgeprägte Kinn vielleicht gehabt hätte. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, aber ohne dafür über Leichen gehen zu wollen. Die Augen schauten intelligent, freundlich, manchmal auch ein wenig verträumt. Also so gar nicht der Typ Frau, den David Bentin bisher bevorzugt hatte. Ristorn gefiel, was er sah und er fragte sich insgeheim, ob sein Herr endlich die Frau gefunden hatte, nach der er, Ristorns Ansicht nach, lange und vergeblich unter den falschen Damen gesucht hatte.
Bei den anderen Gästen angekommen, stellte David seine Begleiterin vor. Er sah erfreut, wie Annie sofort und ohne Probleme mit jedem plaudern konnte und war froh, sie in guter Gesellschaft zu wissen, während er sich um das Essen kümmerte. Als David in die Küche ging, sah Jonas Annie und staunte über die unbeschwerte Sicherheit, mit der die neue Flamme seines Bruders mit den vielen berühmten Gästen plaudern konnte. David hatte ihm von Annie erzählt und nun war er natürlich neugierig, welche Frau David dazu brachte, in solch ungewohnter Form zu schwärmen.
„Du mußt sie kennenlernen, ich bin sicher, du wirst sie mögen. Ich habe mich auf den ersten Blick verliebt. Ich fühle mich wie ein Schuljunge und würde am liebsten jeden Tag unter ihrem Fenster ein Ständchen für sie singen!“
David war völlig aus dem Häuschen, als er Jonas von Annie erzählte. Jonas konnte es bald nicht mehr hören, Annie dies, Annie das, selbst Karen versuchte, David aus dem Weg zu gehen, nur um sich seine Schwärmerei nicht mehr anhören zu müssen. Das musste ja eine Wunderfrau sein. Doch als Jonas jetzt zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, Annie zu betrachten, konnte er kaum glauben, dass sie diejenige war, von der David redete, als wäre sie die Frau seines Lebens. Das hatte er nun schon zu viele Male getan und immer wieder hatte sich die 'Frau des Lebens' als totaler Flop entpuppt. Ja, Annie war völlig anders und zum ersten Mal glaubte Jonas seinem Bruder. Er wünschte, Karen wäre hier und könnte Annie sehen. Endlich hatte Jonas sich einen Weg durch die Menge gebahnt und lauschte nun dem Gespräch, das Annie gerade mit Esther Lerner führte.
„... und ich denke auch, dass die Kinder mit dem Überangebot, das sie heute durch das Internet bekommen, völlig überfordert sind. So viele Informationen, die zu unserer Kinderzeit gar nicht zur Verfügung standen, darunter jede Menge Infomüll oder noch schlimmer, gezielte bösartige Falschinformationen, überschwemmen nun Gehirne, deren Fähigkeiten dafür noch nicht ausreichen. Ich will damit nicht sagen, dass das Internet schlecht ist, aber es trägt auch sein Teil zur abnehmenden Konzentrationsfähigkeit der Kinder bei. Wenn Schulen das Medium Internet weiterhin nutzen wollen, dann sollte man sich überlegen, wie man den Kindern ein sinnvolles Verarbeiten der darin vorhandenen Informationen näher bringt. Ich gebe meinen Kindern, zum Beispiel bei der Informationsbeschaffung, vor, welche Seiten sie ausschließlich benutzen dürfen. Das gibt ihnen Orientierung und schließt verwirrende Desinformation aus. Bücher sind nicht out und ich versuche, meinen Schülern Liebe zu Büchern zu vermitteln, auch zu ausländischen. Im vergangenen Jahr bin ich mit ihnen 'Nils Holgerssons wundersame Reise' durchgegangen, ein wunderbares Werk, das Selma Lagerlöf über ihr Land und seine Bewohner geschrieben hat. Anfangs haben die Kinder gemurrt, aber als wir das Leben in der damaligen Zeit, das Lagerlöf beschreibt, mit der heutigen Zeit verglichen, wurde doch noch eine spannende Zusammenarbeit daraus.“
Garreth Britt, ein Jungstar aus einer Fernsehserie meldete sich zu Wort.
„Ich habe Nils Holgersson nur als Zeichentrickserie gesehen!“
Annie schmunzelte: „Ich kenne die Serie und habe sie ausschnittweise den Kindern vorgeführt. Obwohl sie für damalige Verhältnisse nett gemacht ist, zeigt sie meiner Meinung nach nur ansatzweise, was Lagerlöf uns in ihrem Buch beschrieben hat.“
„Das klingt, als sollte man das Buch unbedingt gelesen haben“, warf nun Iris Konkin, eine junge, noch unbedeutende Schauspielerin, die gerade ihre erste Rolle ergattert hatte, in die Runde.
„Auf jeden Fall!“, gab Annie zurück, „sofern man sich dafür interessiert, wie Menschen ihr Land erleben.“
Du großer Gott, dachte Jonas, eine Intellektuelle! Das kann ja heiter werden.
„Na ja“, meinte Iris, „es gehört ja irgendwie zu unserem Beruf, sich mit anderen Kulturen auseinander zu setzen, finde ich, aber manchmal ist es schwer, herauszufinden, welche Werke konkrete und korrekte Informationen liefern.“
„Letztendlich ist es gar nicht wichtig, ob die Geschichten, die Schriftsteller einem erzählen, auch wahr sind, denn die Art und Weise, wie sich jemand ausdrückt, sagt dem aufmerksamen Leser bereits sehr viel über die Kultur, aus der dieser stammt. Ein französischer Schriftsteller wird in seinen Büchern durch seine Wortwahl immer auch französische Kultur darstellen, ein irischer würde dieselbe Geschichte auf irische Weise erzählen und so weiter.“
„Hm, so hab' ich das noch nie gesehen, das würde ja bedeuten, dass 'Der Spieler' von Dostojewski ganz anders klingen würde, wenn er zum Beispiel von Emile Ajar erzählt worden wäre.“
„Ja, ganz bestimmt, weil die Herkunft eines Schrifstellers unbewusst und völlig natürlich auch in seinen Texten aufscheint.“
„Was meinen Sie? Ließe sich das auch auf Filme ausweiten?“ fragte nun Esther die sich neugierig geworden zu der Gruppe hinzugesellte.
„Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, aber wenn Sie so fragen, stelle ich mir gerade vor, dass sich das bestimmt auf fast jede Form von Kunst übertragen lässt. Ein gutes Beispiel ist der Film 'Drei Männer und ein Baby'. Das amerikanische Remake hatte einen völlig anderen Charme als das französische Original. Eigentlich beide gleich und doch so anders.“
Annie grinste über das ganze Gesicht. „Sie haben mich gerade auf eine Idee gebracht, das wäre ein hervorragendes Thema für meinen Unterricht. Damit könnte ich leicht ein ganzes Schuljahr füllen!“
„Oh, was unterrichten Sie denn?“, fragte Iris.
„Sozialkunde und Kunst“, erklärte Annie und stimmte in das ausbrechende Gelächter ihrer Zuhörer ein.
„Da haben wir ja was angerichtet!“, prustete Garreth, „sagen sie den Kleinen bloß nicht, dass sie die Idee von uns haben. Die schauen sich schon aus Protest nie wieder einen Film von uns an!“
„Oh doch, wenn ich Sie als Thema aufgebe, schon!“, schmunzelte Annie.
Nun musste auch Jonas in das Gelächter einstimmen. Er empfand Annie als erfrischend und als entschieden zu gut für seinen lausigen Bruder, der viel zu lange gebraucht