Sternenfrau Eve. Edda-Virginia Hiecke

Sternenfrau Eve - Edda-Virginia Hiecke


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fängt an, diese Gaben zu seinem Vorteil zu nutzen. Ich glaube nicht, dass das richtig ist. Der Zeitpunkt, an dem wir wissen, welche Aufgaben wir lösen müssen, wird kommen. So lange lernen wir und warten auf den Tag unserer Bestimmung.“

      Still setzte sich Beldin neben seinen Großvater und blickte in das grüne Wasser des Sees vor ihnen. Sanfte Hügel umgaben den von blauen Wäldern umsäumten See. Bunte Grimmeln schwirrten hoch über den Bäumen auf der Suche nach Nahrung. Das Pfeifen eines Brag, ein kleiner Ball mit vier Flügeln, scheuchte eine kleine Herde Beasylts auf, die auf der anderen Seite des Sees friedlich zum trinken zusammen standen. Die Beasylts hatten gerade ihre langen Hälse, auf denen ein runder Kopf mit bunten Federn saß, in das Wasser gesenkt, als der Pfiff des Brag ertönte. Schnell sprangen sie mit ihren kurzen aber kräftigen Beinchen auf. Der Brag hatte hoch oben in den Ästen des Sringgarbaumes einen Hevinkli gesehen. Der noch recht junge Räuber hatte ebenfalls Durst und näherte sich der Wasserstelle. Mit ploppenden Geräuschen schlossen sich die Blütenblätter der Kaltiblüten, als die flüchtenden Beasylts vorbei rannten. Ihre feinen Sensoren, die dazu dienten, kleine Insekten zu fangen, spürten die Erschütterung der flüchtenden Tiere. Der Hevinkli schaute den davon sprintenden Beasylts gleichgültig hinterher. Das Blut an seiner Brust zeigte den aufmerksamen Beobachtern, dass er bereits Beute geschlagen hatte und nicht mehr hungrig war. Laut brüllte er der Herde hinterher, wie um ihnen zu sagen, dass er sich später um sie kümmern wolle, dann knickte er seine langen Vorderläufe ein und senkte seinen, mit Federn geschmückten Kopf, tief ins Wasser und trank. Immer wieder hielt er inne, um mit seinen roten Augen, die sich seitlich am länglichen Schädel befanden, die Umgebung zu beobachten. Sein blaues Fell verschmolz mit den Farben der Wälder. Die Muskeln seiner hinteren Sprungbeine blieben stets angespannt. Da er kaum größer als die etwa einen Meter hohen Beasylts war, musste er die größeren Räuber des Waldes genau so fürchten, wie die Beasylts ihn. Bald hatte der Hevinkli genug getrunken und das Blut auf seiner Brust war vom Wasser des Sees weggewaschen. Langsam stand er auf und lief wieder in den Wald hinein. Die zartrosa Kaltiblüten öffneten sich ganz vorsichtig wieder und der Brag kehrte zurück auf seinen Ausguck ganz oben auf dem Sringgarbaum.

      Der zweite Mond auf Fenry war gerade angebrochen. Noch brach sich das Licht der grünen Sonne in den weißen Wolken über ihnen, als Audon und Beldin sich schweigend auf den Weg nach Hause machten. Belgan hatte bereits das Essen fertig und nach einer kurzen Danksagung an die große Weisheit aßen sie stillschweigend ihre Mahlzeiten. Belgan, Audons zweite Frau, hatte ein leuchtend gelbes Fell. Sanft kräuselten sich kleine Fellsträhnen über ihre stets Freude ausstrahlenden, grünen Augen. Audon war dankbar dafür, dass seine zweite Frau mit ihm gekommen war. Seine erste Frau konnte sein blaues Fell nicht ertragen und hatte sich einen zu ihrem orangefarbenen Fell besser passenden Mann gesucht. Audon war nach einer Nacht, die er draußen im Wald verbracht hatte, mit blauem Fell aufgewacht. Tief verstört kam er damals nach Hause und sah den Ekel in Barkas Augen, als sie ihn erblickte. Als nach einigen Wochen, in denen er sich mehreren Untersuchungen unterzog, feststand, dass er die blaue Farbe nie mehr loswerden würde, zog Barka aus und nahm die Kinder mit.

      In den nachfolgenden Monaten stellte Audon fest, dass Wunden, die er sich bei der Jagd oder zu Hause zuzog, schnell heilten. Auch war ihm so, als ob er die Gedanken seiner Freunde hörte oder dass er empfand, was sie empfanden. Jahre vergingen und Audon war nun in der Lage, andere Fenrys und Lebewesen durch auflegen seiner Pfoten mit den langen Fingergliedern zu heilen. Hatte einer eine Schnittwunde, war sie plötzlich bei ihm an der gleichen Stelle zu sehen. Dort heilte sie dann. Auch Krankheiten konnte er so heilen. Immer wieder kamen auch Schwerkranke zu ihm und obwohl er wusste, welchen Schmerzen er sich mit ihrer Behandlung aussetzte, zögerte er nie und nahm die Krankheiten auf sich. Eines Tages wurde Belgan zu ihm gebracht. Sie hatte sich bei einem Sturz mehrere Knochen gebrochen und innere Verletzungen erlitten. An ihrer Heilung wäre Audon fast gestorben, doch die geheilte Belgan blieb an seiner Seite und pflegte ihn gesund. Nie zuvor hatte sich jemand darum gekümmert, wie es ihm bei der Heilung anderer erging. Er war Belgan genau so dankbar für ihre Anteilnahme, wie sie ihm für ihre Heilung. Auch seine Fellfarbe war für sie überhaupt kein Problem und bald verliebten sie sich ineinander. Das lag nun schon mehrere Jahrzehnte zurück und Audon und Belgan bereuten nie, dass sie ein Paar geworden waren. In dieser Zeit hatten nicht nur sie, sondern auch andere Paare blaufellige Kinder bekommen .

      Irgendwann beschloss der Hohe Rat, dass es besser sei, wenn sich jemand dieser Kinder annehmen würde, da einige ihrer Eltern Probleme hatten, mit ihnen fertig zu werden. Audon und Belgan machten den Vorschlag, eine andere Siedlung in der Nähe des Songangebirges zu eröffnen und die problematischen Kinder mitzunehmen. Das Tal, das sie sich aussuchten, lag an einem malerischen, eiskalten See inmitten schneebedeckter Gebirgszüge. Die Wahl des Siedlungsortes stieß auf Zustimmung und wurde genehmigt. So entstand Songani, wie sie ihre neue Siedlung nach den umgebenden Bergen nannten. Dort unterrichtete Audon die Kinder darin, ihre Fähigkeiten zu beherrschen und Belgan, die zuvor schon als Lehrerin gearbeitet hatte, in allem anderen. Auch die Eltern, die weniger Probleme mit ihren außergewöhnlichen Kindern hatten, folgten bereitwillig. Der Hohe Rat und die zurückgebliebenen Fenrys aber waren froh, ein unbequemes Problem auf solch friedliche Weise gelöst zu haben.

      Die Impfung

      Die Impfung

      Leichter Nieselregen fiel auf die staubigen Straßen der von der Sommerhitze ausgetrockneten Stadt. Der langersehnte Regen reinigte die nach Abgasen stinkenden Häuserschluchten und verbreitete einen angenehm frischen Duft feuchter Erde zusammen mit dem der Blumen und Bäume des großen Parks. Um ihn herum schmiegten sich die Häuser wie ein Schutzschild. Nebel kroch an den Wänden der Häuser empor und waberte in den umliegenden Straßen. Die Menschen würdigten den Nebel keines Blickes. Sie hetzten, bereits früh von unsichtbarem Ehrgeiz oder anderen Kräften angetrieben, ihrer Arbeit entgegen. Hin und wieder blieb ein Kind, an der Hand der Mutter auf dem Weg zur Schule oder in den Kindergarten, kurz stehen und reckte schnuppernd die Nase in die Luft, um gleich darauf zur Eile angetrieben zu werden. Im seinem Gesicht leuchtete kurz ein kleines Lächeln, als ob es ein Geheimnis bewahrte, das die Erwachsenen längst vergessen hatten. Unwillig ließ es sich weiter ziehen, in einen ungewissen Tag. Manch ein Vorbeieilender sah die versonnenen Kinder und trauerte seiner verlorenen Kindheit hinterher, in der träumen noch erlaubt war. Andere reckten ebenfalls die Nase in die Luft, um heraus zu finden, was die Kinder zu ihrem seltsamen Verhalten trieb. Längst hatten sie den Geruch der Erde aus ihrem Gedächtnis verloren, war er doch im Laufe ihres Lebens von so vielen anderen mehr oder weniger wichtigen Düften und Gerüchen überlagert worden. Nun weckte er Erinnerungen an verspielte Nachmittage in der Kinderzeit in den ausgedehnten Grünflächen des Parks oder an die kleinen Heimatstädte, die viele verlassen hatten, um in der großen Stadt ihr Glück zu finden. Hier scheiterte manche große Idee, doch andere gingen ihren Weg erfolgreich, nur um festzustellen, dass sie trotzdem nicht glücklich wurden. Fast konnte man die kleinen Seufzer hören, die den Lippen der Menschen entwichen. Doch sie verflogen schnell, denn die Arbeit wartete, der nächste Termin stand bevor und die Zeit hat kein Mitleid für Träumer. Selbst mancher Jogger, der im Park über die dampfenden Wege lief, ignorierte den Duft der Natur.

      Annie holte tief Luft, atmete ihre Stadt ein und beobachtete, wie der rötliche Schein der Morgensonne langsam an den umliegenden Hochhäusern empor kroch. An manchen Stellen schillerten kleine Regenbögen in den Fenstern, an denen das Regenwasser langsam ablief. Die Stadt erwachte zum Leben. Auf den Straßen nahm der Verkehr zu, die ersten Krankenwagen jagten mit heulenden Sirenen vorbei und die Blaulichter der Polizeiwagen funkelten in den Fenstern, an denen sie vorbeifuhren. Die Bäckereien liefen auf Hochtouren und der Geruch der feuchten Erde und der Pflanzen im Park vermischte sich nun mit dem von Kaffee und frischen Brötchen. Mit dem zunehmenden Autoverkehr vereinten sich Abgase und Kanalisation zu jenem alles durchdringenden Geruch. Bald war auch der letzte Hauch von Frische, den der Regen herbei gezaubert hatte, verdrängt von den alltäglichen Gerüchen der großen Stadt. Der Nebel löste sich auf und selbst der Regen schien sich vor der Gnadenlosigkeit der modernen Zivilisation zurückzuziehen. Erneut begann die Sonne einen heißen Tageslauf und erstickte die Stadt mit ihrer Hitze.

      Annie saß auf Davids Terrasse und schaute versonnen auf das Schauspiel von Licht und Schatten, das einmal mehr mit der morgendlichen Sonne in den Straßen New Yorks begann. Sie war hier aufgewachsen und


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