Schmunzelmord. Rudolf Widmann Georg
und war auf dem Boden in einer dünnen Schicht Unrat verschwunden. Das Halbdunkel der Scheune verhinderte ohnehin, sie zu finden, auch wenn der Boden sauber gewesen wäre. Und selbst wenn … ohne den Vierkant war sie sowieso nutzlos.
Der Landwirt rutschte dennoch auf Knien vor der Tür herum, seine Fingerspitzen fuhren tastend über den Boden. Die Sinnlosigkeit seines Tuns erkannte er nicht. Holzsplitter, Steinchen, Stroh, Erde, aber keine Schraube. Mittlerweile hatte der Rauch die Scheune so weit gefüllt, dass er sich auch auf dem Boden ausbreitete und jede Sicht nahm. Als sich Dachseder einmal umdrehte, verlor er die Orientierung, kroch immer weiter in die Scheune hinein. Er hustete. Immer kräftiger und in immer kürzeren Abständen. Der Rauch verätzte ihm die Lungen, das Feuer hatte die Kunststoffkanister mit dem Flüssigdünger erreicht.
Bevor er das Bewusstsein verlor, ging ihm sein Plan nochmals durch den Kopf. »Ich hab´ doch an alles gedacht!« Auch an die Madenschraube. Aber denken allein genügt nicht immer.
»Vergiss die 5.000 nicht!«
»Ich halt´ das nicht mehr aus! Er schlägt mich jetzt fast jeden Tag, er steht unter Druck und trinkt. Gestern hat er mir im Suff gebeichtet, er werde erpresst.«
Tröstend legte Silvia Chantal den Arm um die Schulter, wollte sie an sich ziehen, doch die drückte sie von sich fort. Ihr war nicht nach körperlicher Nähe. Chantal und Silvia waren nicht ihre wirklichen Namen, aber so stellten sie sich ihren Freiern auf dem Parkplatz stadteinwärts rechts der Ingolstädter Straße vor. Ihrem Gewerbe gingen sie dort seit ein paar Jahren nach, wenige hundert Meter südlich der Ausfahrt München-Neuherberg der Autobahn A99 und mitten zwischen Oberschleißheim und dem nördlichsten Teil Münchens, dem Hasenbergl. Mit diesen Namen redeten sie sich an, seit sie sich kannten und Freundschaft geschlossen hatten. Herzlich musste die Freundschaft nicht sein, sie beruhte auf dem beiderseitigen Interesse, sich gegenseitig Trost zu spenden, wenn mal wieder die Heizung kaputt war bei ihren SUV oder Kombis mit den Gardinchen an den hinteren Scheiben und sie sich in ihrem knappen Outfit den A… abfroren. Oder, wenn ihre Lebensgefährten wieder handgreiflich geworden waren, weil ihnen die Tageseinnahmen nicht ausreichend erschienen.
So war es auch heute, als sie sich an die hohe Seitenwand von Silvias betagtem Toyota Land Cruiser lehnten, die Gesichter der noch schwachen Frühlingssonne entgegengestreckt. Silvia bot Chantal eine Zigarette an, ihre Freundin lehnte entgegen ihrer Gewohnheit ab. Sie hätte beim besten Willen nicht gewusst, wie sie mit ihrer geschwollenen Lippe daran hätte ziehen sollen.
»Zeig Dieter doch an! Dann verschwindet er eine Zeitlang von der Bildfläche und atmet gesiebte Luft, der Erpresser schaut in die Röhre. Und du hast endlich Ruhe.«
»Spinnst du? Soll ich mich selbst ans Messer liefern? Schließlich hab´ ich bei der Hälfte seiner Automatenaufbrüche Schmiere gestanden.«
»Naja, aber doch sicher nicht freiwillig. Das gibt mildernde Umstände. Hast du eine Ahnung, wer ihn erpresst?«
»Ich weiß nur, dass es mit den Automatenaufbrüchen zu tun hat, dass der Erpresser ab und zu hierherkommt, und dass er Dieter hier wiedererkannt hat.« Chantal hob die Schultern und zuckte zusammen, als die Stelle, die seit gestern Abend ein großer blauer Fleck zierte, dabei den Außenspiegel traf. Obwohl die Stoßzeit seit Stunden vorbei war, blieb sie auf dem Straßenstrich, bis Kälte, Dunkelheit und Hunger sie doch heimzwangen.
»Also morgen um 16 Uhr im Biergarten der Schleißheimer Schlosswirtschaft. Und vergiss die 5.000 nicht!«
»Und wie erkenn ich dich?«
»Gar nicht. Ich erkenne dich. Schließlich habe ich ja die Fotos.«
Das Gespräch war beendet. Dieter hatte den Lautsprecher seines Smartphones angeschaltet, so dass Chantal von der Küche aus das Telefonat mit anhören musste, ob sie wollte oder nicht.
Ihr kam ein Gedanke. Morgen war Samstag, schönes Frühlingswetter war angesagt, die Leute würden den Biergarten nur so stürmen. Vielleicht hatte sie ja eine Chance, Dieter zu helfen. Dann wäre alles wieder gut, er würde sie nicht mehr schlagen! Sie lächelte still. Aber wie würde sie es anstellen? Sie rief sich den Biergarten ins Gedächtnis, es half. So spielte sie mehrere Szenarien durch, bis sie sich für eine Taktik entschloss. In der Überzeugung, eine Lösung für alle Fälle gefunden zu haben, stellte sie die Teller vom Abendessen in die Spüle und stopfte die Einwegflasche von ihrem Bier in die Plastiktüte, in der sie beide die Pfandflaschen sammelten. Ein entspanntes Lächeln, das ihre Zufriedenheit widerspiegelte, spielte um ihre Lippen, als sie danach zu Bett ging. Der Schlaf jedoch ließ auf sich warten. Würde ihr Plan aufgehen?
Ihren ausgeleierten Volvo Kombi mit dem heutzutage verpönten Dieselmotor parkte sie auf dem Kiesplatz vor dem linken Seitenflügel des neuen Schleißheimer Schlosses, dem nördlichen Teil des Max-Emanuel-Platzes mit der direkten Ausfahrt auf die B471. Von hier aus hatte sie nur noch fünf Minuten Fahrt bis zu ihrem Arbeitsplatz. Niemand würde ihre kurze Abwesenheit zur Kenntnis nehmen. Zögernd stieg sie aus ihrem Fahrzeug.
Am Automaten zog sie den Parkschein und legte ihn gut sichtbar auf das Armaturenbrett in die Windschutzscheibe. Sie wollte auf keinen Fall, dass das Fahrzeug wegen unerlaubten Parkens auffiele und sie deswegen eine Anzeige riskierte, einen Beweis für ihr kurzes Hiersein. Die gebührenpflichtige Parkzeit erstreckte sich über 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche.
Sie reckte sich, sprach sich selbst Mut zu. Was hatte sie zu verlieren? Auch, wenn es nicht klappte? Mit einem Seufzer drückte sie ihr Kreuz durch und machte sich auf den Weg. Auf dem Kiesweg marschierte sie durch die Grünanlage zielstrebig auf die Schlosswirtschaft zu. Als sie sich am Ende des Weges nach links abbog, hatte sie das alte Schloss zu ihrer Rechten. Nun musste sie sich zwischen den ungezählten Fahrrädern durchschlängeln, und schon hatte sie den Rand des Biergartens erreicht. Hinter der Blockhütte, in der die Wirtschaft wieder anfing, Veranstaltungen mit kulinarischer Untermalung anzubieten, blieb sie stehen, beobachtete, wollte sich ein Bild machen. Sie war die Erste, beschloss, hier Deckung zu beziehen. Die Bänke bis zu der Speisen- und Getränkeausgabe am gegenüberliegenden Rand hatte sie von hier aus gut im Blick. Die großen Kastanien mit ihren ausladenden, den gesamten Biergarten überdachenden Kronen gewährten ihr mit ihrem Schatten zusätzlichen Sichtschutz. Es war Viertel vor vier.
Nochmals überdachte sie ihr geplantes Vorgehen. Reichte ihre Verkleidung? Von Silvia hatte sie sich deren »Zivilkleidung« ausgeliehen. Sportschuhe aus weißem Stoff mit Strassbesatz, normale, eng anliegende Jeans, die auffallend rote Bluse unter einer kurzen Jeansjacke fast verdeckt. Ihr Haar schaute als Pferdeschwanz durch die rückwärtige Lücke der schwarzen Schirmmütze. Die spiegelnde Sonnenbrille hatte Ausmaße, die ihr halbes Gesicht dahinter verschwinden ließen. Sie setzte ein trotziges Lächeln auf. Ihre Vorbereitungen hatte sie getroffen, so gut es ihr möglich war. Nicht einmal Dieter würde sie erkennen, auch wenn sie direkt vor ihm stünde.
Dieter kam pünktlich. Mit der halben Radlermaß, die er an der Ausgabe abgeholt und dann am Kassenhäuschen bezahlt hatte, schob er sich auf eine halbleere Bank und setzte den Glaskrug mit Schwung auf den Tisch. Unauffällig, zumindest glaubte er das, schaute er sich um, hatte die durch nichts genährte Hoffnung, seinem Erpresser mit dem Erkennen zuvorzukommen. Er zog ein Taschentuch hervor, wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Auch seinen nervösen Blick konnte er vor Chantal nicht verbergen.
Das zynische Grinsen verkniff sie sich nicht. Ihr Lude hatte es verdient, im eigenen Saft zu schmoren. Sie drückte sich etwas weiter hinter die Wand der Blockhütte, beobachtete, wie ein Typ mit schlurfenden Schritten zielstrebig auf Dieters Bank zuschlenderte. Ungefähr 30 Jahre alt, schlank, blonde, strähnige Haare, die über den Kragen gereicht hätten. Wenn seine Kleidung einen hätte aufweisen können. Er aber trug zu Turnschuhen und Jeans einen Kapuzenpulli mit einem übergroßen, schwungvoll ausgeführten Haken auf der Brustfläche, dem Logo eines bekannten Sportartikelherstellers.
Offensichtlich ohne ein Wort des Grußes nahm er gegenüber von Dieter Platz, hatte sich mit dem Rücken zum Tisch hingesetzt und dann die Beine über die Bank nach innen geschwungen. Seine kleine Tasche, die Chantal an die Schutzhülle für einen Tablett-PC oder ein Netbook