Der magische Adventskalender & Das Licht der Weihnacht. Manuel Neff
immer gesagt: Man sieht das, an was man glaubt. Wir nehmen die Welt oft deshalb falsch wahr, weil wir sie hauptsächlich durch unsere Augen wahrnehmen, anstatt mit unseren Herzen«, erinnert sich Paolo und dann schließt er seine Augen. Er atmet tief ein und aus, so wie er es von Lara gelernt hat und spürt in sein Inneres hinein. Das macht er ein paar Mal. Er hört, wie sich das Besteck weiterhin vom Acker macht, aber mit einem Mal vernimmt Paolo auch noch ein anderes, viel leiseres Geräusch. Es klingt wie ein Glöckchen. Er öffnet die Augen und sieht einen Löffel vorbeiflitzen. Aber er fliegt nicht von alleine, sondern wird von etwas getragen. Etwas, das Paolo vorher nicht gesehen hat. Vielleicht, weil er es einfach nicht für möglich gehalten hat oder schlichtweg nicht daran geglaubt hat.
»Was ist das?«, fragt Paolo erstaunt und merkt zu spät, dass er laut gesprochen hat. Der Löffel macht eine Kehrtwende und rast nun in seine Richtung. Plötzlich klatscht das fliegende Etwas voll gegen das Tischbein. Der Löffel fällt auf den Boden und das kleine Wesen torkelt leicht benommen in der Luft herum, bis es sich wieder von dem Aufprall erholt hat. Dann bleibt es wie eine Libelle unmittelbar vor Laras Kopf in der Luft stehen.
Paolo hält den Atem an. »Eine Elfe«, denkt er. Die fast durchsichtigen Flügel schlagen wahnsinnig schnell und verursachen das kaum vernehmbare Glöckchenklingeln. Der Körper der Elfe sieht aus wie der einer jungen Frau. Sie trägt ein silbernes, kurzes Kleid, auf dem wunderschöne Schneekristalle in verschiedenen Größen und Formen glitzern. Ihr Haar ist weiß wie Schnee und auf ihrer Stirn wächst bereits eine große Beule, die von dem Aufprall gegen das Stuhlbein herrührt. Sie hat die Augen weit aufgerissen und ist offensichtlich erstaunt oder sogar erschrocken darüber, Lara hier zu sehen.
In Nullkommanix fliegt die kleine Elfe zum Löffel, hebt ihn auf, steuert auf den Kühlschrank zu wobei sie noch Schwierigkeiten hat, eine gerade Flugbahn zu finden. So als wäre sie leicht betrunken, düst sie im Zickzackkurs durch die Küche.
»Ojemine! Sie sind hier«, spricht sie mit einer wohlklingenden Mädchenstimme. Aber Paolo kann nur die Elfe hören und sonst nichts. Spricht sie mit sich selbst oder gibt es noch andere unsichtbare Wesen? Er liegt immer noch in seinem Versteck und rührt sich nicht von der Stelle. Jetzt beobachtet er, wie die Elfe die Kühlschranktür zuschiebt. Die Aufspürbrille wird unterdessen immer kälter und schmerzt bereits auf Paolos Gesicht.
»Ich muss mich beeilen! Beeilen. Beeilen«, summt die kleine Elfe und die Kühlschranktür schwingt zu. RUMMS!
Dann schwirrt die Elfe mit dem Löffel Richtung Ausgang und das ist der Moment, in welchem Paolo die Brille absetzen muss, weil sie eiskalt wird. Plötzlich ist es stockfinster und so sehr Paolo sich auch anstrengt, er kann überhaupt nichts mehr erkennen. Trotzdem steht er auf und will der Elfe folgen. Paolo tastet sich in der Dunkelheit voran und erreicht den Küchenausgang. Sein Herz schlägt ihm hoch bis zum Hals. Paolo ist sehr aufgeregt. Er lauscht und hört, wie der Klang der Glöckchen der kleinen Elfe leiser wird. »Sie ist nach oben geflogen«, denkt Paolo, als er versucht, das Geräusch zu orten. Paolo erreicht die Treppe und geht Stufe für Stufe nach oben. Seine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit und so kann er schon wieder Umrisse erkennen. Er kommt im ersten Stock an und lauscht erneut. Ganz leise kann er die Glöckchen ein letztes Mal hören und dann verstummen sie ganz. Wenn sich Paolo nicht täuscht, dann ist die Elfe hoch auf den Dachboden geflogen. Er wartet noch einen Augenblick ab. Es ist nun ganz still geworden im Haus und so entschließt er sich, erst einmal Lara und die anderen zu wecken.
»Bin ich schon dran mit Wache halten?«, fragt Lara müde und gähnt.
»Nicht nötig. Ich habe ihn schon gesehen.«
»Wen gesehen?«
»Den Dieb«, plappert Paolo.
Ruckartig richtet sich Lara auf.
»Wo bist du denn?«
»Hier«, flüstert Paolo und macht die Taschenlampe an.
»Oh je, ich bin ja gar nicht mehr unsichtbar«, stellt Lara erschüttert fest.
»Dafür ist die Elfe unsichtbar. Beziehungsweise, das war sie. Jetzt ist sie es nicht mehr.«
»Elfe? Unsichtbar? Was erzählst du denn da?«
Und dann erklärt Paolo seiner Schwester in Kurzfassung, was er alles beobachtet hat. Und wie er geatmet und sein Herz geöffnet hat und dass dadurch die Elfe sichtbar wurde.
»Du hast dein Herz geöffnet?«
»Na ja, ich habe es mir vorgestellt. Auf jeden Fall ist die Elfe geflüchtet. Ich glaube, sie ist sehr schüchtern oder sie hatte Angst entdeckt zu werden«, schließt er seinen Bericht ab.
»Vor wem?«
»Vor dir. Vor uns. Ich weiß nicht so genau.« Mittlerweile sind auch Lanzelot und Thomas aufgewacht.
»Was ist passiert? Ist Paolo wieder eingeschlafen?«, beschwert sich Lanzelot direkt. Paolo schaut den kleinen Hasen wütend an, aber dann wird sein Blick wieder sanft. Er kennt Lanzelot seit über einem Jahr und weiß, wie lieb der Hase im Grunde ist. Eigentlich können sich die beiden nicht ausstehen, trotzdem hat er ihn irgendwie gern.
»Paolo hat den Dieb auf frischer Tat ertappt«, erklärt Lara den beiden Stofflebewesen.
»Wo ist er?«
»Fort«, sagt Paolo.
»Du hast den Dieb entwischen lassen?«, motzt Lanzelot ihn an.
»Lanzelot, wir haben alle noch geschlafen«, beruhigt Lara den Hasen.
»Müde«, grunzt Thomas.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Lanzelot.
»Sie versteckt sich bestimmt noch irgendwo im Haus«, überlegt Lara.
»Ich weiß wo. Sie ist auf dem Dachboden.«
»Hast du sie mit der Aufspürbrille gefunden?«
»Nein, die Aufspürbrille ist so eiskalt geworden, dass ich sie absetzen musste.«
»So wie bei der Lavahalskette. Sie wurde auch frostig. Das liegt bestimmt an der Störung des Magiegleichgewichts«, ergänzt Lara. »Aber woher weißt du denn dann, wo sie jetzt ist?«
»Ich bin einfach dem Klang der Glöckchen gefolgt. Kommt mit!«
Kurz darauf befinden sich alle eine Etage höher und Paolo leuchtet mit der Taschenlampe in das schwarze, rechteckige Loch über ihnen, das hinauf zum Speicher führt. Er steigt die Treppe als erster hoch, gefolgt von Lara, Lanzelot und Thomas. Die Tür steht tatsächlich einen spaltweit offen. Paolo war schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf dem Dachboden. Er schiebt die Tür auf und dann betreten sie das oberste Stockwerk des Hauses.
»Ziemlich kalt hier«, stellt Paolo fest.
»Schau mal, da hängen sogar Eiszapfen«, flüstert Lara und gibt Paolo einen Stoß in die Rippen.
Sie blicken sich um. Die vier stehen mitten in der Museumskammer von Familie Maring. In Kisten und in löcherigen Schränken drängeln sich Generationen zersprungener Spiegel, farbiger Tücher, bemalter Leinwände, klobiger Holzrahmen, Bücher, Schallplatten, Mäntel, Hüte, Kleider und Anzüge aus alten Zeiten. Vasen und Geschirr stehen auf dem Boden, ein kaputter Holzschlitten lehnt an der Wand und Dinge, dessen Name Paolo nicht einmal kennt, tummeln sich in Regalen oder ruhen in dunklen Ecken. Das Licht der Taschenlampe strahlt durch die Reihen uralter Sachen. Neben einem hohen Kleiderständer, an dem ein brauner Wollschal lässig herunterbaumelt, steht eine dunkle Eichentruhe. Sie gehörte Oma Luise.
»Wir brauchen Jahre, um das alles zu durchsuchen!«, flüstert Paolo und seine Knie zittern vor Kälte.
»Paolo!«
»Was ist?«
»Leuchte mal dort hinüber, ich glaube, da war etwas.«
Paolo schwenkt den Lichtkegel der Taschenlampe nach links.
»Das ist nur ein alter verstaubter Mantel. Mehr nicht!«, sagt Paolo, doch kaum hat er es ausgesprochen, da erwacht der Mantel zum Leben. Paolo lässt