Verfluchtes Erbe Gesamtausgabe. T.D. Amrein
Erst danach hat sie mir eine Kopie gegeben.“
Merz war etwas in Fahrt geraten. Der Kommissar konnte doch nicht wirklich daran zweifeln, dass er Dornbach gefunden hatte?
„Beruhigen Sie sich bitte“, antwortete der Kommissar. „Ich gebe die Passnummer in den Computer ein, dann wird sich zeigen, ob das ein richtiger Pass ist.“
Reuter verließ sein Büro. Schon bald kam er wieder zurück. „Dieser Pass ist ein echtes Dokument. Aber er dürfte nicht im Umlauf sein. Vor etwa zehn Jahren wurden einige leere Pässe gestohlen. Bei normalen Kontrollen fällt das aber nicht auf.
Damit kann ich eine Zielfahndung einleiten. Sobald er irgendwo den Pass zeigt, werden wir benachrichtigt. Dann können wir zuschlagen. Gratuliere, Erich! Das haben sie gut gemacht.“ Anerkennend klopfte ihm Reuter auf die Schulter. „Sie müssen die Passagierlisten von Oslo nach Zürich verlangen, Alois. Er ist nach Zürich geflogen. Dort habe ich ihn doch gesehen“, drängte Merz.
„Ja, das werde ich. Darin finden wir vielleicht eine Spur“, entgegnete Reuter. „Den Rest können Sie uns überlassen. Ich benachrichtige Sie, wenn sich etwas ergibt.“
Merz sah abgrundtief enttäuscht aus. „Ich möchte dabei sein, wenn Sie ihn suchen!“, antwortete er trotzig.
Reuter lächelte. „Ich gehe ihn jetzt nicht suchen. Es ist der Apparat, der ihn sucht. Erst wenn ich eine Nachricht bekomme, leiten wir Schritte ein. So läuft das ab. Unser großer Vorteil ist, wir sind immer da. Ein Flüchtiger muss sich jederzeit vorsehen. Für uns spielt die Zeit keine große Rolle. Einmal macht er sich irgendwo bemerkbar, dann schnappen wir ihn.“
Merz schluckte. Er sah ein, dass der Kommissar Recht hatte. Aber so einfach wollte er sich doch nicht geschlagen geben.
„Ich kann ja weitersuchen. Vielleicht finde ich ihn, bevor er sich irgendwo verrät“, bot Merz an.
„Bloß nicht“, antwortete der Kommissar entsetzt. „Wenn er Sie zu Gesicht bekommt, dann schweben Sie in höchster Gefahr. Wissen Sie, er würde Sie sofort aus dem Weg räumen, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.
Außerdem wäre er dann gewarnt. Er würde sicher sofort wieder einen neuen Namen verwenden.
Fahren Sie jetzt nach Hause und warten Sie ab, was passiert. Wir brauchen nur etwas Geduld. Das ist eine unserer besten Waffen.“
Reuter sah ihn beschwörend an. Er traute Merz zu, weiterzusuchen. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit klein war, dass er Dornbach fand. Das musste er verhindern.
Merz gab auf. „Also gut, wenn Sie meinen. Aber Sie halten mich auf dem Laufenden!“
„Ja, natürlich“, sagte Reuter beruhigend. „Darauf können Sie sich verlassen.
„Ach ja“, erklärte Merz. „Ich habe in Norwegen auch noch eine Leiche gefunden. Haben Sie davon gehört?“
„Wie? Schon wieder eine?“ Reuter zog die Brauen hoch. „Ich habe nichts davon gehört. Erzählen Sie!“
Merz trug seine Geschichte vor. Als er geendet hatte, schüttelte der Kommissar den Kopf.
„Ihnen bleibt wirklich nichts erspart. Ein solcher Anblick ist auch für uns Profis immer wieder schlimm. Möchten Sie zu einem Psychologen, der Ihnen hilft, das zu verarbeiten?“
Merz fühlte sich extrem düpiert.
„Ja! Es war schlimm! Aber deshalb fehlt es mir nicht im Kopf!“
„Aber Erich! Es geht doch nicht darum, ob Ihnen etwas fehlt. Unsere Leute, die zum Beispiel Unfallopfer bergen müssen, gehen immer zur Therapie. Sonst kann man das nicht verarbeiten. Das ist ganz normal.
Ich wollte Ihnen auf keinen Fall zu nahe treten. Falls Sie in Schwierigkeiten geraten, überlegen Sie sich das einfach noch einmal. Diese Leute können Ihnen wirklich helfen. Und die gibt es auch in der Schweiz.“
Merz blieb ungehalten. Mit Seelenklempnern wollte er absolut nichts zu tun haben. Die sind doch alle nur zu faul, um etwas Richtiges zu arbeiten. So lautete seine Ansicht. Aber das er behielt für sich.
Er war so gelöst und voller Freude gekommen. Der Kommissar sollte über ihn staunen. Ihn bewundern.
Aber stattdessen wollte ihn dieser Blödmann zum Psychiater schicken. Merz wollte nur noch weg.
Sein Selbstvertrauen war jetzt nachhaltig zerstört. Er fühlte sich grottenschlecht. Dieser Idiot, dachte er. Dieser unglaublich arrogante Scheißkerl!
„Also, dann gehe ich, Herr Kommissar“, sagte Merz in dunklem Ton.
Er würde ihn nie mehr mit seinem Vornamen ansprechen. „Sie brauchen mich ja offenbar jetzt nicht mehr!“
Reuter wurde die Sache äußerst peinlich. Er wollte doch wirklich nicht…
Aber da ließ sich im Moment nichts mehr Reparieren, das fühlte Reuter. Die typische Reaktion einer Person mit starken Selbstzweifeln. Ganz klar.
Aber dass Erich Merz so empfindlich sein könnte? Das hatte er wirklich nicht erwartet.
„Ich danke Ihnen für alles!“, sagte Reuter mit ernster Stimme. „Sie haben wahrhaftig den entscheidenden Hinweis gebracht.“ Wenigstens ein Stück weit, versuchte er, ihn wieder aufzubauen. Merz tat ihm aufrichtig leid.
Er reichte ihm die Hand, die Merz nur noch flüchtig drückte. „Auf Wiedersehen!“, wünschte Reuter.
Aber Merz brummte nur noch undeutlich, bevor er das Büro verließ. Die Tür schloss er mit einem kräftigen Fußtritt.
***
Draußen suchte Merz als erstes ein Restaurant auf. Was nun, ging ihm durch den Kopf. Schlagartig war ihm jede Lust vergangen.
Er hatte sich auf eine spannende Jagd gefreut. Er wollte große Erfolge feiern, sich fast unbesiegbar fühlen. Der unbeirrbare Journalist sein, vor dem die Profiteure und Kriegsgewinnler zittern sollten. Und jetzt: Er wurde abgewiesen wie ein kleiner, dummer Junge.
Undankbar ist die Welt. Das wusste er bereits. Jedoch steigerte er sich gern in tiefstes Selbstmitleid hinein, wenn er sich verletzt fühlte.
Am liebsten wollte er in diesem Zustand irgendetwas gegen eine Wand werfen. Aber im Moment hatte er nichts Passendes zur Hand.
Später, als er am Main entlang spazierte, warf er einen faustgroßen Stein nach einem Schwan, den er auch traf. Der Vogel schrie schrecklich laut auf, sackte zusammen und trieb danach nur noch als lebloses, weißes Federbündel im Fluss.
Das brachte Merz wieder zur Besinnung. Was hatte ihm der Vogel getan? Der konnte doch nichts dafür. Und er hatte ihn umgebracht, nur um sich abzureagieren?
Unter Umständen hatte der Schwan Junge, die nun elend verhungern mussten?
Merz stand kurz davor, selbst in den Fluss zu springen. Aber er war ein zu guter Schwimmer um an dieser ruhigen Stelle zu ertrinken.
Er schämte sich grenzenlos. „Was bist du nur für ein nutzloser Dummkopf!“, sagte er laut zu sich. „Reuter hat doch Recht! Ich bin reif für die Klapsmühle!“
Er schlich sich ein Hotel, wo er sich vor allem vergraben konnte. In diesem Zustand nach Hause zu fliegen, kam auf keinen Fall in Frage.
6. Kapitel
Willhelm Dornbach saß im Zug nach Osnabrück. Auf dem Weg zu Hartmut Schulz, einem alten Kameraden.
Von ihm hatte Dornbach damals kurz vor Kriegsende die ersten falschen Pässe gekauft. Nur als Vorsichtsmaßnahme, für eine unerwartete, plötzlich notwendige Flucht. Schulz lieferte auch später zuverlässig weiter, wenn die Pässe „abgelaufen“ waren. Allerdings nur, wenn man persönlich bei ihm erschien.
Schulz war nur wenig älter als Dornbach. Deshalb konnte er davon ausgehen, auch ihn noch lebendig anzutreffen.
Zusammen