Palmer :Exit 259. Stephan Lake
„Wessen Mutter?“
„Von wem reden wir?“
„Palmer? Gehört von wem?“
„Meinen Brüdern. Sein Stiefvater war einer von uns, ein echter Navajo, aber seine Mutter? Dein Kerl ist der Sohn einer Hure, Ruth.“
„Er ist nicht mein Kerl, du bist mein Kerl“, sagte Ruth schnell.
Sie durfte es nicht übertreiben. Ihrem Kerl konnte schon mal die Hand ausrutschen. Oder, wenn er schlecht gelaunt war, die Faust.
Trotzdem sah sie wieder aus dem Fenster. Eine Hure?
Und sie sah ihren Nachbarn mit dem Graben aufhören, mitten in der Bewegung, und in ihre Richtung gucken.
Sie machte einen schnellen Schritt weg vom Fenster. Er konnte sie nicht gesehen haben, unmöglich. Oder? Auf diese Entfernung?
Sie hörte Mark zurückkommen und ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür. „Wir brauchen Fleisch, Gemüse, wir haben kein Bier mehr.“ Warf die Tür wieder zu und drehte sich um. „Die Vorratskammer ist auch fast leer. Fährst du in die Stadt oder nicht?“
Mark hielt seine Uniform in der Hand und den Hut.
Sie sagte, „Was hat das zu bedeuten?“
„Ich habe zu tun, hat das zu bedeuten, was sonst. Chad holt mich ab. Du hast also den Truck und kannst selbst fahren. Fahr ihn nicht zu Schrott.“
„Chad? Heute? Das sollte dein erster freier Tag sein. Der verdammte erste freie Tag seit drei Wochen, Mark.“
Mark warf Uniform und Hut auf den Küchentisch und legte seine Arme um sie und drückte. „Shh, nicht fluchen, Sugar Pie, du weißt, dass ich das nicht mag. Deine Apachenbrüder machen uns viel Arbeit, und das Rez ist groß. Das Department braucht jeden Mann, so ist das eben. Und wir können meine Überstunden gut gebrauchen. Dein Job bringt ja nichts ein.“
„Du tust mir weh.“ Sie hasste es, wenn er sie drückte, immer viel zu fest, immer mit seiner Kraft protzend. Und sie hasste es, wenn er sie Sugar Pie nannte.
Mark ließ sie los. „Nehm ich dich nicht in den Arm, beschwerst du dich, nehm ich dich in den Arm, ist es auch falsch.“ Er griff nach seiner Uniform.
„Du bist eben sehr stark, das vergisst du manchmal.“ Sie versuchte ein aufrichtiges Lächeln und glaubte, es wieder ganz gut hinzubekommen.
„Wenn du nicht nach Santa Fe willst, dann guck, was du bei Gloria bekommst“, sagte Mark, bereits in der Tür. „Ich zieh mich um.“
„Du weißt, was ich bei Gloria bekomme, Mark.“
Mark blieb stehen. „Dann fahr halt nach Santa Fe, es ist noch früh. Was für ein Problem hast du denn heute schon wieder?“
„Ich wollte mit dir in die Stadt fahren, nicht alleine. Ich wollte mal wieder bummeln gehen, in ein paar Geschäfte, vielleicht in die neue Galerie neben dem Museum. Freunde treffen, irgendwo etwas essen. Mit dir. Wir machen nichts mehr gemeinsam.“
„Weil ich arbeiten muss. Und deine Freunde sind nicht meine Freunde. Und Santa Fe, merk dir das endlich mal, Santa Fe ist keine Stadt für uns. Es sei denn, du sitzt am Plaza und verkaufst blöden Schmuck.“
Draußen hörten sie das Tuckern des Tahoe.
Mark sagte, „Chad ist da. Geh raus ihn begrüßen und gib ihm von deinem Saft, dann wird das Zeugs wenigstens nicht schlecht, wenn du schon nichts davon verkaufst.“
„Woher hast du das erfahren?“
„Was?“
„Das mit der Mutter unseres Nachbarn.“
„Das interessiert dich also, huh?“
Mark rückte seine Sonnenbrille zurecht und sagte, „Fahr mal links.“
„Warum?“, sagte Chad.
„Ich muss mit meinem Nachbarn reden.“
Chad guckte ihn an und, ohne ein Wort, lenkte den Tahoe nach links.
5
Palmer legte die Schaufel zur Seite und nahm den Stock und hielt ihn in das Loch und überprüfte die Markierung.
Tief genug.
Er schritt drei Meter ab und nahm die Hacke und begann von vorne. Hacken, schaufeln, die groben Steinbrocken von Hand herausnehmen, hacken, schaufeln. Auf diese Weise hatte er bereits an die neunzig Löcher gegraben, jedes Loch ein Meter tief und ebenso breit für einen Balken von gut zweieinhalb Metern Länge. Balken in die Erde, Steine wieder ins Loch und mit dem Zuschlaghammer fest verkeilt, Erdreich dazu und mit dem Hammer verdichtet. Achtzig Balken hatte er bis jetzt gesetzt, jeder so fest, als wäre er einbetoniert. Immer im selben Rhythmus: zehn Löcher graben, zehn Balken setzen. Eineinhalb Meter ragten die Balken heraus, hoch genug für einen Pferdezaun. Die Balken, Bohlen eigentlich, hatte er von der Santa Fe Railroad Company bekommen, ausgemustert von alten Schienenstrecken, hart wie Stahl und genauso schwer. Das sollte ausreichen gegen die Winterstürme.
Ihm gefiel das Bild, fünfhundert Eisenbahnbohlen aufrecht aus der Erde ragend. Andere würden das als Kunst verkaufen.
Der Boden war fest in den Ortiz Mountains, zum Teil purer Fels, aber das war für ihn okay. Er mochte die Arbeit. Sie gab ihm etwas zu tun und lenkte ihn ab von schlechten Gedanken.
In den vergangenen Wochen hatte er sein Haus gebaut, zusammen mit Handwerkern aus der Umgebung; das Haus ganz aus Holz, die Stämme bereits zugeschnitten angeliefert, vor Ort haben sie dann gemeinsam alles zusammengesetzt. Anschließend Isolierung und Innenausbau mit Bad und Küche, dann noch ein paar Möbel und fertig. Kein Haus mit Keller und Decken aus Stahlbeton und die Mauern ganz aus Stein, wie er sie in seiner Jugend in Deutschland gesehen hatte. In Deutschland bauten sie für die Ewigkeit. Ihm erschien das anmaßend. Warum sollte er etwas bauen, das ihn überdauern würde? Warum der Nachwelt etwas überlassen, was die vielleicht gar nicht wollte?
Der Umzug war schnell gegangen. Seine Habseligkeiten aus dem Trailer auf den Truck werfen und hundert Meter weiter wieder abladen und ins Haus bringen, das dauerte keine zwei Stunden. Dann hatte er sich umgesehen, alleine in diesem großen Haus, und einen Becher Kaffee später war er wieder nach draußen gegangen und hatte mit dem Zaun begonnen.
Er mochte das freie Land lieber, aber er hatte sich entschlossen, Pferde zu kaufen; Pferde, Plural, drei oder vier, obwohl er alleine lebte und daher nie mehr als ein Pferd zur selben Zeit reiten konnte. Aber Pferde waren Herdentiere, die brauchten Gesellschaft. Und Pferde brauchten einen Zaun. Also hatte er die Bohlen gekauft, fünfhundert Stück.
Dreihundert Acre Land gehörten ihm, die musste er auf drei Seiten einzäunen. Unten am Camino, hinten am Highway und auf der anderen Seite an der Ortiz Apache Reservation. Die rückwärtige Seite musste er nicht einzäunen, Buschwerk und dreißig Meter hohe Felsen bildeten eine natürliche Grenze. Pferde konnten klettern, aber so gut dann doch nicht.
Palmer legte die Hacke zur Seite und griff gerade zur Schaufel, als er den Coyote wieder sah. Er hatte ihn in den vergangenen Tagen bereits mehrmals beobachtet, zwischen den Büschen hinter seinem Haus oder gegenüber bei den Nachbarn. Nur ein kurzes Huschen in der Dunkelheit, auf der Jagd nach etwas Essbarem.
Jetzt sah er das Tier zum ersten Mal bei Tageslicht und zum ersten Mal so nahe, dass er es erkennen konnte. Und er sah, dass er sich geirrt hatte. Das war kein Coyote. Graues Fell und stark abgemagert stand das Tier fünfzig Meter entfernt neben einer Hecke und schien ihn zu beobachten. Es war deutlich größer als ein Coyote und sah mit seinen langen Beinen und dem länglichen Kopf eher aus wie ein Wolf, trug aber ein schweres Lederband um seinen Hals. Ein Hund also, der wohl jemandem weggelaufen war.
Dann drehte der Hund den Kopf zum Camino.
Palmer guckte ebenfalls hin und hörte einen Moment später