Nela Vanadis. Nina Lührs

Nela Vanadis - Nina Lührs


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über den unebenen Steinboden, konnte aber ihr Gleichgewicht wieder finden. Hämisch lachte die Wache hinter ihr auf. Ihren Pulsschlag fühlte sie in der Kehle. Es glich einem Gang zur Hinrichtung. Was würde sie erwarten?

      Vor ihr ragte eine massive Felswand auf. Neben dem gigantischen Tor, das aus unzähligen Menschenknochen gefertigt worden war, waren zwei riesige brennende Fackeln in den steinernen Boden eingelassen. Über dem Tor prangte ein in den Stein gemeißeltes Wappen, das ein Frauengesicht zeigte, das zur einen Hälfte lebend und zur anderen tot wirkte.

      Knarrend öffnete sich ein Flügel des Knochentores. Schwacher Feuerschein erhellte die Finsternis in dem gruftartigen Palast. Nela musste sich einen Ruck geben, um Hels Haus zu betreten, denn alles in ihr schrie danach, umzukehren. An diesem Ort erwartete sie nichts Gutes. Hier herrschte der Tod.

      Abermals stieß die Wache gegen ihren Rücken. Nela konnte sich glücklich schätzen, dass er nicht die Spitze seines Hammers dafür benutzte. Allerdings wollte sie ihm keinen weiteren Grund geben, sie auf seine rüde Art aufzufordern, weiter in die Finsternis hineinzugehen.

      Sie folgten einem langen Gang, der alle paar Meter mit hohen Feuerkörben gesäumt war. Das Metallgestänge der Körbe hatte die Formen unterschiedlicher Knochen. Der Fuß bestand aus vier Fußknochen, die in die vier Himmelsrichtungen zeigten, gefolgt von vier Beinknochen, die in einer aus Beckenknochen geformten Unterschale endeten. Daran schloss ein Korb aus Rippenknochen an, der das Feuer umschlossen hielt, doch hin und wieder rieselten Funken und Glut aus dem durchlässigen Knochengitter.

      Die hohen Felswände verschluckten das rot-orange Licht des Feuers, ließen nicht zu, Nela zu zeigen, wie hoch das Gewölbe lag. Die schweren Schritte der Wachen hallten durch den Gang. Ansonsten war es totenstill in dem Palast. Hin und wieder konnte Nela weitere Gänge erkennen, die ins Schwarze führten. Schließlich erreichten sie ein weiteres großes Knochentor, an dessen Flügeln zwei Wachen mit Piken standen. Stoisch betrachteten sie die Ankömmlinge.

      „Lunela Vanadis“, verkündete eine Wache frostig. Sodann öffneten die Wachhabenden das Tor, hinter dem sich der Saal des Palastes Eljudnir offenbarte. Zu Nelas Erstaunen strahlte der Saal eine anheimelnde Wärme aus. Holzfackeln hingen an den grauen Felswänden, die das Licht nicht verschluckten, sondern es noch verstärkten. Wandteppiche, die vergangene Schlachten erzählten, hingen an den Felsen und schluckten den Hall des großen Saales. Tische, Bänke und gemütliche Sessel aus Holz machten diesen Ort behaglich. Am Ende des Saales erhob sich eine Empore, auf der Hels Thron stand. Zu Nelas Überraschung war er nicht aus Knochen gefertigt, sondern aus Stein. Doch glich er einem aufgerichteten Sarg, dessen Flügel weit geöffnet waren. Hel saß erhaben auf ihrem Thron.

      Ungläubig schaute Nela die Herrscherin der Unterwelt an. An ihrem langen, schwarz-weißen Gewand hingen an ihrem Armen und am Rücken lange Tücher herunter. Zudem erinnerte Nela die Farbverteilung auf ihrem Gewand an das Yin-und-Yang-Symbol. Ihre linke Körperhälfte besaß eine rosige Hautfarbe, ein junges, hübsches Gesicht, dunkelblonde, volle Haare, während ihre rechte Seite eine schwarz-bläuliche Hautfarbe, ein altes, runzeliges Gesicht und graue, ausgedünnte Haare zeigte. Hel war sowohl jung und alt als auch lebendig und tot.

      „Lunela Vanadis“, begrüßte Hel sie freundlich, „Nachfahrin Freyas, Tochter von Gilbert Vanadis und Insa Albat, zukünftige Großpriorin des Ordens Elhaz in Midgard, Alvarenschülerin von Gervarus Balderson von Asgard, seid mir willkommen.“

      „Hel, Herrscherin der Unterwelt“, erwiderte Nela demütig und verneigte sich, „es ist mir eine Ehre, dass Ihr mich empfangt.“

      „Was ist Euer Begehr?“

      „Irrtümlich bin ich in Euer Reich gelangt, und ich bitte Euch ...“, begann Nela, aber wurde sogleich von Hel tadelnd unterbrochen. „Nichts ist irrtümlich! Die Nornen wollten das Ihr in mein Reich gelangt. Somit seid Ihr nun meine Untertanin. Jeder in Hel, ob in der lebenden Welt oder im Totenreich ist mein Untertan. Und ich lasse nur äußerst ungern meine Schutzbefohlenen gehen.“

      „Ich bitte Euch, lasst mich nach Asgard zurückkehren, damit ich meiner Berufung folgen kann. Falls es nicht zu viel verlangt ist, möchte ich Euch auch bitten, dass Emma Elfenberg und Balder Odinson von Asgard mich begleiten.“

      „Das ist in der Tat sehr viel verlangt, Walküre.“ Ihre Stimme war schneidend.

      „Ich weiß, aber wir haben jeweils eine Aufgabe in den anderen Welten zu erfüllen. Emma ist die zukünftige Großpriorin der Elfen in Midgard und Balder ist ein hochrangiger Ase.“

      „Habt Ihr Aufgaben?“, zweifelte Hel.

      „Ja, ich bin die letzte Vanadis und ich muss ...“ Hel hob einhaltegebietend die Hand.

      „Lunela, ich verstehe Eure Verzweiflung durchaus. Ihr seid weder gestorben noch wurdet Ihr hierher verbannt. Es ehrt Euch, dass Ihr nicht nur für Euch ein Gnadengesuch erbittet. Allerdings verweilen Balder und Emma zurecht hier. Sie wurden hierher verbannt. Eigentlich gehört Ihr, Lunela, nicht nach Hel. Das weiß ich sehr wohl, doch die Nornen schickten Euch zu mir; machten mir Euch zum Geschenk, das ich nicht gewillt bin, zurückzugeben.“

      „Gilt eine Verbannung lebenslang?“ Nela musste einfach wissen, ob es vielleicht eines Tages eine Chance gab, dass Emma und Balder diese furchtbare Welt wieder verlassen konnten.

      „Ja und nein. Es ist abhängig von dem Vergehen und meiner Gnade.“

      „Ihr wollt mir und meinen Freunden also nicht die Güte erweisen, uns zu begnadigen? Warum?“, konnte Nela ihre Verzweiflung nicht länger zurückhalten.

      „Ich finde es äußerst kurzweilig, dass Freya ihre letzte Vanadis an mich verloren hat. Ein Gnadengesuch für Euch von Freya könnte mich durchaus erweichen. Allerdings bezweifle ich, dass Ihr für Freya den Wert besitzt, dass sie Euren Platz hier bei mir einnimmt. Eher wird sie ein neues Vanadis-Geschlecht begründen.“

      „Neu?“

      „Ja, eine Nacht zur rechten Zeit mit einem Menschen genügt, um eine Walküre oder einen Walkür zu zeugen. Damit unterstünden die Vanadis mit einem direkten Nachkommen auch wieder mehr ihrem Einfluss.“

      „Sie hat immer noch ...“

      „Lunela“, unterbrach Hel sie erneut, „Freya hat sehr viel Einfluss auf ihre Vanadis-Abkömmlinge verloren. Es begann, als die gesamte Walkürenfamilie Vanadis ohne Freyas Zustimmung nach Midgard ging, um sich ihrer Macht und denen ihrer Töchter zu entziehen. Allerdings vermute ich, dass die Ränkespiele Germinis den Ausschlag gegeben haben. Gersimi Vanadis, eine Meisterin des Ränkespielens. Zwar ist das für Euch unerheblich geworden, da Ihr nun in meine Welt gehört, aber Ihr hättet ein sehr schweres Leben in ihrer Gegenwart geführt. Zumal Euer Meister ihr ehemaliger Geliebter war. Soweit ich weiß, hat Gervarus die Affäre beendet. Ein Umstand, der an Gersimis Ehre gekratzt haben muss. Kein Mann verlässt Gersimi. Nun, Gervarus hat es gewagt, und er wird häufig ihren Intrigen ausgesetzt sein. Und dann seid Ihr, eine Vanadis, auch noch seine Schülerin. Eine äußerst ungünstige Konstellation für Euch.“

      „Ich flehe Euch an, Hel. Gewährt mir meinen Wunsch. Ich habe hier keine Perspektive, keine Zukunft.“

      „Doch, die habt Ihr. Es gibt nur sehr wenige Alvaren in Hel. Gesetzeshüter werden überall gebraucht.“

      „Ich habe gerade erst meine Kenning begonnen. Wenn ich es recht verstanden habe, dauert die erste Phase meiner Alvarenzeit noch 168 Jahre, bis ich kein Kenniger mehr bin. Ohne meinen Meister kann ich meine Kenning nicht vollenden.“

      „Doch, das könnt Ihr. Balder wird sich Eurer mit Gewissheit annehmen. Immerhin gehört Ihr auch im weitesten Sinne zu seiner Sebjo.“

      „Ich bin die letzte Vanadis. Ich bin die Großpriorin des Ordens der Walküren und Walkür in Midgard. Ich muss meinen Platz einnehmen. Ich kann den Orden nicht im Stich lassen.“

      „Euer Kampfgeist und Euer Ehr- und Pflichtgefühl rührt mich. Ich verstehe, weshalb Euch Gervarus als Schülerin annahm. Ihr passt hervorragend zu Forseti. Dennoch werde ich mich nicht erweichen lassen, Lunela.“

      „Ich ...“,


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