Nela Vanadis. Nina Lührs

Nela Vanadis - Nina Lührs


Скачать книгу
zu seinem Palast Glitnir zu reiten. Nur widerwillig fügten sie sich, als sie Jaricks entschlossenen, kalten Blick bemerkten. Unbarmherzig trieb Jarick Samru an, denn er musste schleunigst mit Heimdal unter vier Augen sprechen. Gewiss vertraute der Wächter der Schicksalsbrücke ihm umfangreiche Informationen über Nelas Verbleib und die Schicksalstore an, wenn sie von Asengott zu Asengott miteinander sprachen.

      Ihm graute bei dem Gedanken, wenn Nela mit ihrem Entführer in einer feindlich gesinnten Welt festsaß und ihr noch mehr Leid widerfahren könnte. Die Nornen spannten für seine Minamia einen leidvollen Pfad, der endlich eine andere Richtung einschlagen musste. Seit ihrem Verschwinden war es für Jarick unmöglich, Nela länger nur als seine Schülerin zu betrachten. Denn es war trotz seiner Forderungen an sich und auch an Nela ausgeschlossen, seine wahre Liebe zu leugnen. Vor allem, wenn sie durch sein eigenes Unvermögen in Gefahr geraten war.

      Zügig erreichte Jarick den Fuß des Berges, auf dem sich Heimdals Palast mit der Schicksalsbrücke Asbru befand. Rücksichtslos trieb er Samru den gefährlichen Pfad hinauf. Nicht nur seine Sorge um Nela machte ihn fahrig, sondern auch seine Unachtsamkeit. Kälte durchfuhr Jarick. Unbedacht bewirtete er die unwillkommenen Gäste Gersimi und Syn und unterhielt sie, obwohl es unüblich war, einem Meister in der ersten Zeit der Kenning einen Besuch abzustatten. Doch Jarick wollte um jeden Preis verhindern, dass jemand argwöhnisch wurde, und damit seine Liebe zu Nela entdecken könnte. Wie außerordentlich dumm von ihm! Damit hatte er seine Nela in Gefahr gebracht, sie der Obhut anderer anvertraut, die kläglich versagten. Nein, er hatte versagt. Unbedingt wollte er den Anschein wahren, dass seine Sebjo sich nach den gesellschaftlichen Normen verhielt. Hätte er Nelas Bitte gestattet, Till und Bado in ihre Kemenate zu lassen, wäre sie nicht abermals entführt worden. Wo war sein angeborenes Misstrauen geblieben? Die Angst um die Enthüllung seiner Liebe hatte ihn blind werden lassen. Das würde ihm nie wieder passieren, durfte nie wieder geschehen.

      Endlich erreichte er das große Tor der Himmelsburg. Sogleich wurde Jarick von Heimdals Hausmeier Raik in Empfang genommen. „Mein Ansu erwartet Euch bereits.“

      „Bringt mich zu ihm.“

      „Gewiss“, nickte Raik. Jarick folgte dem Hausmeier den langen Korridor entlang zu dem Salon, in dem Heimdal stets seine Gäste empfing.

      Bei seinem letzten Besuch in der Himmelsburg hatte er diesen Raum zusammen mit Nela betreten. Er erinnerte sich daran, als Nela eingehend die Wandteppiche mit den neun Welten betrachtete. Nun befand sie sich in einer dieser Welten. Inständig hoffte Jarick, dass Heimdal ihm gleich mitteilte, dass seine Nela in Midgard auf ihn wartete. Doch sein beunruhigtes Bauchgefühl verriet ihm, dass seine Hoffnung sich nicht erfüllen würde. Das Schicksal war äußerst selten gnädig.

      „Gervarus, ich erwarte Euch bereits“, begrüßte Heimdal den Asen.

      Ohne sich lange mit höflichen Begrüßungsfloskeln aufzuhalten, fragte Jarick geradewegs: „Wo befindet sich meine Schülerin, und wie ist es möglich, dass aus heiterem Himmel ein Schicksalstor auf meinem Land auftaucht?“

      „Meine Antwort wird Euch nicht erfreuen“, begann Heimdal unheilvoll, „Eure Schülerin fiel durch ein natürlich auftretendes Schicksalstor. Das sich hin und wieder öffnet. Allerdings führt es nur in eine Richtung. Sie kann es also nicht für ihren Rückweg nutzen.“

      „Wo ist sie?“, unterbrach Jarick ihn ungeduldig.

      „In Hel.“

      „Wo?“, konnte Jarick es nicht glauben. Er musste sich verhört haben, seine Ohren spielten ihm einen Streich. Unmöglich konnte seine Nela in der Unterwelt festsitzen. Lass sie in Vanaheim, Jötunheim oder auch im Zwergenreich sein, flehte Jarick innerlich. An diese Orte konnte er problemlos gelangen.

      „Eure Schülerin Lunela Vanadis befindet sich in Hel.“

      Fassungslos starrte Jarick den Wächter der Schicksalsbrücke Asbru an. Das durfte einfach nicht wahr sein! Verfluchte Nornen! Jarick nahm Nela als seine Schülerin in seine Sebjo auf, damit er von Odin nicht nach Hel verbannt wurde, und nun befand sich seine Minamia dort?

      „Bring mich unverzüglich dorthin!“, forderte Jarick unüberlegt.

      „Nein“, lehnte Heimdal seine Forderung konsequent ab. „Hel ist keine Welt, der man einfach einen Besuch abstatten kann. Hel ist die Unterwelt. Dorthin schicke ich nur verbannte Schurken und Gesetzesbrecher. Kommt jetzt nicht auf den Gedanken, Euch verbannen zu lassen. Das bringt weder Euch noch Eure Schülerin zurück in die anderen Welten. Denkt an Euren Vater. Auch er hat bisher keinen Ausweg aus seiner Verbannung gefunden. Hofft darauf, dass Hel diesen Irrtum erkennt und Eure Schülerin wieder entlässt.“

      Balder, bitte kümmere dich um meine Minamia, flehte Jarick in Gedanken. Ein Fünkchen Hoffnung keimte in ihm, dass er seinen Vater mental erreichte. Doch Jarick wusste, dass seine mentalen Fähigkeiten nicht über die Grenzen der Welten hinausreichten. Nornen, ich fehle Euch an, führt meine Minamia und meinen Vater zueinander. Die Vorstellung, Balder würde sich seiner Nela annehmen, beruhigte sein aufgewühltes Herz, ließ ihn seine Gefühle beherrschen.

      „Hel. Es ist schon sehr viel Zeit vergangen, seit ich mit ihr sprach“, dachte Jarick an die Herrin der Unterwelt. Niemals würde sie ohne Gegenleistung seine Bitte akzeptieren, seine Schülerin freizugeben. Egal, wie jemand nach Hel gelangte, gehörte in ihre Welt, betrachtete sie als ihren Untertanen. Sobald jemand jedoch die Unterwelt verließ, wie auch immer dies geschah, gab sie jeglichen Anspruch auf ihn auf. Er musste einen Weg finden, Nela ohne die Herrin der Unterwelt aus Hel zu befreien, denn Jarick war sich bewusst, dass die Göttin verlangen würde, dass jemand Nelas Platz einnahm, nicht irgendjemand, sondern der, der die Bitte aussprach.

      „Ja, äußerst selten verlässt sie ihre Welt, um sich mit anderen Göttern auszutauschen“, wusste Heimdal.

      „Gibt es viele geheime Tore, die sich plötzlich in den neun Welten öffnen?“, forschte Jarick nach.

      „Ja, die gibt es. Allerdings führen sie nicht alle nach Hel.“

      „Weshalb gibt es sie?“

      „Stellt Euch Yggdrasil als einen Palast vor und die Welten als Zimmer. Es gibt Türen, durch die man von einem Raum in den anderen gelangen kann. Und es gibt zwei Türen, die es möglich machen, jeden Raum zu betreten. Natürlich gibt es auch geheime Türen, die im Verborgenen liegen. Diese Geheimgänge sind die natürlichen Tore. Einige von ihnen stehen immer offen, führen in beide Richtungen, andere schließen sich wieder und führen nur in eine Richtung. Euer Schicksaltor war ursprünglich ebenfalls ein natürliches.“

      „Woran erkennt man, dass man durch ein Tor auch wieder zurückkehren kann?“, hakte Jarick nach.

      „An den Fäden“, war Heimdal nicht bereit, mehr zu verraten.

      „Woher weiß man, in welche Welt das Tor führt?“, wollte Jarick nun wissen.

      „An den Fäden. Allerdings besitzen wenige Tore auch ein Symbol.“

      Heimdals Antworten brachten Jarick nicht weiter. „Bisher merkte ich keinen Unterschied bei den Fäden, wenn ich von einer Welt in die andere gelangte.“

      „Weil Ihr nicht darauf geachtet habt, Gervarus. Selbst Asbru unterscheidet sich sehr zu Eurem Schicksalstor.“

      Jarick dachte über Heimdals Worte nach. Doch konnte er sich an keinen Unterschied erinnern. Jedes Mal empfingen ihn die Fäden und zogen ihn in die andere Welt. „Worauf muss ich achten?“

      Heimdal lächelte verneinend. „Ich bin untröstlich, aber ich kann es Euch nicht anvertrauen.“ Selbstverständlich verriet er nicht jedes Geheimnis der Schicksalstore.

      „Heimdal, ich kann meine Schülerin nicht in Hel lassen. Bitte gebt mir einen Rat, wie ich es bewerkstelligen kann, sie ohne Hels Beteiligung zurückzuholen“, bat Jarick eindringlich, denn es war keine Lösung, mit Nela den Platz zu tauschen. Zwar wäre Nela dann zurück, aber nicht in Sicherheit. Jarick wäre dann unfähig, sie vor ihren Feinden zu beschützen. Zudem wären sie dann weiterhin getrennt. Jarick konnte und wollte nicht von seiner Minamia getrennt leben. Er musste sie in seiner Nähe haben. Auch wenn


Скачать книгу