Nela Vanadis. Nina Lührs

Nela Vanadis - Nina Lührs


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wird es Odin und Freya sehr erzürnen, wenn sie erfahren, dass Ihr die letzte Vanadis an Hel verloren habt. Hier ist mein Rat: Geht nach Midgard. Sucht dort nach dem Vanadis-Tor.“ Mit einem Nicken verabschiedete sich der Wächter der Schicksalstore. Mehr würde Jarick von ihm nicht erfahren.

      „Ich danke Euch.“

      Als Jarick auf Samru die Himmelsburg verließ, entluden sich die grauen Wolken. Strömender Regen nässte die Straßen und Gebäude Asenheims. Kein Bewohner der Stadt streifte durch die Straßen und Gassen. Jeder suchte vor diesem Unwetter Schutz im Innern der Paläste und Häuser. Nur Jarick ritt durch die verlassenen Straßen, die in dem grauen Licht trostlos wirkten. Das lausige Wetter passte hervorragend zu seiner Gemütsverfassung. Das Einzige, was ihn nicht verzweifeln ließ, war die Tatsache, dass seine Nela noch lebte. Sie war klug, stark und eine Überlebenskünstlerin. Sie würde die Zeit auch ohne Balder lebend überstehen, die er benötigte, um zu ihr zu gelangen. Doch wie sollte es ihm nur gelingen, Nela aus Hel zu befreien, ohne selbst dort zu stranden? Sollte er keinen anderen Weg finden, würde er sich nach Hel verbannen lassen. Dann wäre er an ihrer Seite. Am liebsten hätte er sich sogleich selbst verbannt, denn er trug die Schuld, dass seine Nela in Hel war. Regen peitschte ihm ins Gesicht, strafte ihn für seine Unachtsamkeit.

      Vor Breidablik, dem Palast seines Vaters, stoppte er Samru, hielt sein Gesicht dem prasselnden Regen entgegen. Das Wasser nässte seine Gewandung, Kühle umhüllte seinen Leib, kroch in seine Glieder. Eine ungewohnte Kälte befiel seine Gefühle, ließ ihn zittern. Der Regen verbarg seine sorgenvollen Tränen.

      „Nornen, gebt mir einen Hinweis! Gebt mir irgendetwas, wo ich mit der Suche nach dem Vanadis-Tor beginnen soll“, flehte er die Schicksalsfrauen an. Angespannt wartete er auf ein Zeichen, doch die Nornen erbarmten sich nicht, ihm die Suche nach seiner Nela zu erleichtern.

      „Verfluchte Nornen“, machte Jarick seinen ohnmächtigen Ärger Luft. „Warum tut Ihr uns das an? Habt Ihr Euch noch nicht genug an unserem Leid ergötzt?“

      Natürlich antworteten sie nicht, hüllten sich wie stets in Schweigen. Jarick konnte sich nur auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen.

      In einem beeindruckenden Gleitflug trotzte Winifred dem Unwetter, landete auf Jaricks Schulter und lehnte ihren Kopf mitfühlend an seine Wange. Winifred störte sich nicht an ihr durchnässtes Gefieder, blieb an der Seite ihres Ansus und besten Freundes. Seine weise Beraterin stand ihm in dieser vermaledeiten Situation zur Seite.

      Vanadis-Tor? Welches Tor meinte Heimdal? Jarick konnte sich nicht vorstellen, dass es sich dabei um das Schicksaltor handelte, das von dem Palast Folkwang in Asgard zum Hauptordenshaus der Elhazen in Midgard führte. Unentwegt grübelte er über Heimdals Worte nach.

      In seinen Gedanken betrachtete er das Denkspiel, ließ Winifred daran teilhaben: Ein Schicksalstor, das den Vanadis gehört und es mir ermöglicht, nach Hel zu gelangen. Plötzlich durchfuhr ihn ein Geistesblitz, angeregt von seiner Beraterin: das Neunweltentor. Dieses besondere Schicksalstor war in Midgard und die Vanadis waren die Wächter wie Heimdal über Asbru. Das Neunweltentor war genauso wie Asbru ein Schicksalstor, von dem aus man in jede der neun Welten reisen konnte.

      Nur wo in Midgard befand sich das Neunweltentor? Jarick wusste es nicht, hatte keinen Anhaltspunkt, wo es sich befinden könnte. Auch Winifred kannte den geheimen Ort nicht. Es war ein sehr gut behütetes Geheimnis, das nur der Großprior des Ordens Elhaz kannte, aber es musste Hinweise geben. Die Suche würde eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Viel zu lange für Jaricks strapazierte Geduld. Jede Minute, die verstrich, beunruhigte ihn zusehends. Seine Minamia war in Hel gefangen, an einem Ort, an dem Schurken, Verbrecher und Meuchelmörder lebten.

      ‚Wir müssen nach Midgard.‘ Hastig trieb er Samru an, galoppierte auf den schnellsten Weg zu seinem Palast. Noch heute mussten er und seine Freunde nach Midgard aufbrechen.

      ‚Zu Johanna Bonengel‘, riet ihm Winifred mental.

      Audienz bei Hel

      Die Tage glichen einer nie endenwollenden Nacht. Es gab keine Sonne, die den Anbruch eines neuen Tages verkündete, die verriet, wie viele Tage Nela bereits in Hel verweilte. Waren es Monate, Wochen, Tage oder gar erst wenige Stunden? Nela erschien es gleich einer Ewigkeit. In jedem Augenblick, der verging, sehnte sie sich mehr nach ihrem Wikinger; ihrer großen Liebe, den sie nicht lieben durfte, da es der Alvarencodex drakonisch untersagte. Zumindest war sie in seiner unmittelbaren Nähe gewesen, doch jetzt hatte sie auch noch seine Gegenwart und jegliche Möglichkeit, mit ihm zu sprechen, verloren.

      „Verfluchte Nornen“, stieß sie verzagt aus und schlug mit der Faust auf die Steinbank vor Balders Wohnhöhle, „was habe ich Euch getan, dass Ihr mich so sehr quält?“

      „Mag es uns auch noch so grausam erscheinen“, Nela fuhr erschrocken zu Balder herum, als dieser ihr anstelle der Angesprochenen eine Antwort gab, „verbirgt sich oft ein triftiger Grund, weshalb die Nornen uns auf einen bestimmten Weg schicken.“

      „Und welchen Grund haben die Nornen, mich nach Hel zu verbannen?“, entfuhr es Nela zornig.

      Mitfühlend sah Balder sie an, setzte sich neben sie und erwiderte nachdenklich: „Ich kann es nur vermuten.“

      „Und wie sieht deine Vermutung aus?“ Nela kreuzte ihre Arme vor der Brust. Bestraften die Nornen sie für ihre Liebe zu Jarick? War das der Grund? Zürnten die Nornen ihr, weil Jarick und sie vor nicht allzu langer Zeit einen gemeinsamen Pfad erwirkten, indem sie gemeinsam, Hand in Hand, durch ein Schicksalstor gingen?

      „Es kann kein Zufall sein, dass ich dich gefunden habe“, sagte Balder hintergründig.

      „Nein, aber aus welchem Grund?“, hakte Nela nach.

      „Vielleicht ...“, Balder hielt inne, sah die Schülerin seines Sohnes erwägend an. „Nein“, änderte er anscheinend seine Meinung. „Du kannst es nicht sein“, fügte er flüsternd hinzu.

      „Was kann ich nicht sein?“, forschte Nela augenblicklich nach, bevor Balder sich von ihr entfernen konnte.

      „Eine weise Dise, die die Nornen in Rätseln sprechen lassen, hat mir vor sehr vielen Jahren prophezeit, wie ich aus meiner Verbannung erlöst werde.“

      „Was sagte sie?“ Nela wollte Balder nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, aber sie musste es wissen, wenn diese Prophezeiung auch sie mit einschloss. Doch bevor Balder ihr antworten konnte, traten Wachen Hels an die beiden heran.

      Grimmig verlangten sie: „Lunela Vanadis, Hel erwartet Euch! Kommt!“

      Unschlüssig verharrte Nela, denn die Wachen erweckten alles andere als einen vertrauenswürdigen Eindruck. Der Harnisch bestand aus Rippenknochen und der Helm war aus Schädeln zusammengesetzt. Anstatt der Schwerter und Dolche trugen sie die unritterlichen Morgensterne und die harnischzerstörenden Streithämmer. Gewiss legten es diese Wachen auf keinen fairen Kampf an, nein, sie wollten schnellstmöglich ihrem Kontrahenten schwere Wunden zufügen. Leider hatte Nela bisher nicht gelernt, wie man einen Morgenstern oder einen Streithammer abwehrte. Und sie bezweifelte, dass sie schon gut genug mit dem Schwert kämpfen konnte, um gegen diese barbarischen Waffen zu bestehen. Allerdings mit Pfeil und Bogen bewaffnet und aus sicherer Distanz hätte sie eine Chance, wenn es zu einem Angriff kommen würde.

      „Kommt!“, bellte einer der Wachen, der sie mit einem kaltblütigen Blick musterte. Eiskalter Schweiß lief ihren Rücken hinunter. Instinktiv wollte Nela vor den Wachen zurückweichen, doch sie konnte die Chance nicht verstreichen lassen, mit Hel zu sprechen. Ihre Aussicht die Unterwelt wieder zu verlassen, aber nicht ohne Emma und Balder. Ihrer intuitiven Abwehr trotzend, stand Nela dennoch zögerlich auf, sogleich griff Balder nach ihrem Arm. „Sei vorsichtig! Wähle deine Worte mit Bedacht.“ Hastig nickte sie, verstand seine Warnung. Sodann ließ er sie ziehen.

      Zwei Wachen gingen voraus, wiesen ihr den Weg zu der Göttin der Unterwelt. Ein mahnendes Unbehagen lief über ihren Rücken, warnte sie vor den Wachen, die hinter ihr folgten. Viel zu nah drangen sie in ihre intime Distanzzone ein, die sich bei diesen Gestalten erheblich ausgedehnt hatte. Der Schauder erschien ihr unerträglich, verstärkte sich mit jedem Schritt.

      „Schneller“,


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