Das Medaillon von Ofon. Jessica Giffard
nicht annehmen. Wir kennen uns doch gar nicht.«
Er lächelte mich an, nahm es und schob es in meine Richtung.
»Du kannst es annehmen, Sarah. Ich sagte doch: Es ist nicht von mir. Du hast doch gestern von deiner Mutter ein Geschenk bekommen, das du gerade trägst.«
»Ja, woher weißt du das?«
Ich umfasste unbewusst die Kette, die ich unter meinem Hemd trug.
»Sarah, die Kette ist von deinem Vater, genauso wie der Ring. Er gab ihn mir, damit ich ihn für dich aufbewahre, um ihn dir zwei Wochen vor deinem Geburtstag zu geben. Er hatte die Kette und den Ring getrennt, um sicher zu gehen, dass du wenigstens eins von den beiden Schmuckstücken erhältst, falls etwas schiefgehen sollte.«
Ich war sprachlos und schaute ihn stumm an. Wie kann es sein, dass ich zwei Geschenke am selben Abend bekam, und beide stammten von meinem Vater?
»Schau, die Kette und der Ring sind seit Generationen in der Familie und jetzt bekommst du sie als die letzte Nachfahrin der Familie. Dass es mehr als nur Schmuck ist, wirst du mit der Zeit erfahren. Einen kleinen Vorgeschmack hast du gestern Abend bekommen. Der Anhänger hat sich verändert, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das passiert nur, wenn der wahre Besitzer ihn trägt. Deine Mutter hat ihn auch getragen, aber es ist nichts passiert. Die Kette und der Ring kennen ihren wahren Besitzer. Später werde ich dir noch mehr darüber erzählen.«
»Warum nicht jetzt?«
»Alles zu seiner Zeit. Zuvor muss ich dir mehr über deinen Vater und darüber, was er machte und wer er wirklich war, erzählen. Dein Vater war nicht irgendein Mensch. Weißt du, was Cyrus bedeutet?«
»Nein.«
»Es bedeutet Sohn der Sonne, weitblickender Herrscher. Ja, Sarah, dein Vater besaß übernatürliche Kräfte, die jedem Angst einjagen konnten.«
»Wie meinst du das?«
»Versteh mich nicht falsch, natürlich nicht im negativen Sinne. Nicht die Menschen hatten Angst vor ihm, nein im Gegenteil. Die Menschen liebten ihn. Es waren die, die seine Macht fürchteten und alles dafür taten, ihn loszuwerden. Sie haben es nie geschafft, bis zu diesem einen Tag, an dem er seine Sachen packte und fortging.«
»Hat er uns deswegen verlassen?«
»Ja. Er musste gehen, um euch zu schützen.«
»Ja, aber wovor?«
»Sarah, es gibt Leben auf der Erde, das außerhalb deiner Vorstellungskraft liegt. Es besteht nicht nur aus dem, was du siehst. Es gibt Dinge, die normale Menschen nicht wahrnehmen können, so wie du es ab heute kannst. Du kannst es sehen, da du jetzt im Besitz des Ringes und des Anhängers bist. Du hast nicht mehr viel Zeit, in zwei Wochen hast du Geburtstag. Solange bist du noch sicher vor ihnen, denn diese Wesen wissen nicht genau, wer du bist.
Ich muss dir beibringen mit deinen Kräften umzugehen. Die Wesen, die du sehen wirst, sind nicht alle gut. Es sind einige darunter, die deinen Tod wollen, genauso wie sie zuvor den Tod deines Vaters gewollt hatten.«
»Aber warum? Ich habe denen doch nichts getan!«
»Noch nicht. Doch du hast die Kraft sie in ihrem Vorhaben aufzuhalten und das gefällt ihnen nicht.«
»Was haben sie vor?«
»Als Erstes dich und deine Mutter loszuwerden. Anschließend jene Menschen, die ihnen noch im Weg stehen. Sie kennen keine Gnade, sie wollen die Macht an sich reißen.
Das wollte dein Vater verhindern und jetzt liegt es an dir. Damit du vorbereitet bist, werde ich dich die Kunst des Kampfes lehren. Es ist schon 10.00 Uhr, du musst gleich gehen, doch vorher gehen wir nochmal kurz hinein.«
»Aber wir haben doch noch eine Stunde Zeit?«
»Du wirst die Zeit brauchen, bevor wir losfahren.«
Ben stand auf und ging hinein. Ich folgte ihm. Als wir im Flur waren, blieb er vor der Treppe stehen, die zum ersten Stock führte und schaute hinauf. Ich folgte seinem Blick, aber wusste nicht, warum er stehen blieb. Schließlich ging er weiter.
Als wir oben ankamen, sah ich einen Gang, von dem zu beiden Seiten viele Türen abgingen. An beiden Enden des Flurs erhoben sich jeweils zwei riesige Türen mit Flügeln. Ben bog rechts ab und ging zu der, die fast gigantisch schien, am Ende des Flures. Davor blieb er stehen.
»Sarah, ich war nicht mehr hier, seitdem dein Vater wegging. Es ist sein Zimmer. Es war niemand mehr drin, außer Albus, der es sauber hält, falls dein Vater doch zurückkehrt.«
Ben machte die Tür auf und trat zur Seite, ohne einen Blick hineinzuwerfen.
»Bitte, tritt ein und schau dich in Ruhe um. Sobald du fertig bist, kannst du hinunter kommen.«
»Kommst du nicht mit hinein?«
»Nein, es ist die Privatsphäre deines Vaters. Niemand durfte hier hinein und ich respektiere seinen Wunsch. Das habe ich all die Jahre. Er bat mich, es dir zu zeigen, falls er nicht zurückkehrt. Solltest du etwas brauchen, findest du mich unten.«
Ben drehte sich um und ging. Ich stand immer noch vor der Tür und konnte nicht eintreten. Es war mir unheimlich, nach so vielen Jahren zu erfahren, dass diese Villa meinem Vater gehörte und ich jetzt vor seinem Zimmer stehe.
BRIEF VON CYRUS
Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und ging hinein. Es war ein sehr großer, wunderschöner Raum. Er war in zwei Teile geteilt. Die eine Seite diente als Schlafzimmer und die andere Seite war zum Arbeiten. Der Ausblick aus dem Fenster war traumhaft. Ich konnte den Wald sehen und wie die Baumwipfel sich im Wind sanft bewegten. Ich ging zum Bett und stellte mir vor, wie mein Vater hier schlief. Mir war, als ob ich seine Anwesenheit spüren konnte. Dieses Zimmer sah nicht aus, als ob es Jahre ungenutzt geblieben war.
Gut, Ben hatte gesagt, dass Mr. Albus hier immer sauber machte. Doch das allein konnte nicht der Grund sein, denn das Zimmer fühlte sich irgendwie lebendig an. Ich öffnete die obere Schublade neben seinem Bett und sah einen Bilderrahmen mit der Fotografie eines kleinen Mädchens, das blonde lockige Haare hatte. Es musste wohl eine der Nichten meines Vaters sein, dachte ich und legte das Bild zurück in die Schublade neben dem Bett. Obwohl mir nicht sehr wohl dabei war, wollte ich so viel wie möglich über meinen Vater erfahren. Also ging ich zum Schreibtisch. Als ich davor stand, durchfuhr es mich heiß und kalt. Ich schaute mich verwundert um. Auf dem Schreibtisch lag ein Umschlag mit meinem Namen. Erst zögerte ich, aber nahm dann den Umschlag und schaute ihn mir genauer an. Ich spürte, wie meine Beine versagten und ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl, der vor dem Tisch stand. Vorsichtig hielt ich den ungeöffneten Umschlag in der Hand, bevor ich ihn langsam öffnete. Schließlich nahm ich den Brief aus dem Kuvert und faltete ihn auseinander.
Liebe Sarah,
wenn du diesen Brief liest, weißt du, dass ich es nicht geschafft habe, zurückzukehren. Es tut mir sehr leid, dass ich an eurem Leben nicht teilnehmen konnte, denn nichts auf der Welt war mir wichtiger als ihr.
Ich muss mich auch dafür entschuldigen, dass ich jetzt bei deinem Training nicht da sein werde, denn es wäre meine Aufgabe gewesen, dich darauf vorzubereiten, was auf dich zukommt und nicht die von Ben. Aber ich weiß, er wird seine Aufgabe gut machen, schließlich hat er alles von mir gelernt, und er wird es dir nun weitergeben. Ich hätte dir die vor dir liegende Aufgabe gerne erspart. Bitte verzeih mir, dass ich dir so eine große Verantwortung aufbürde.
Ich liebe dich und deine Mutter sehr.
Bitte, du kannst Ben vertrauen. Tue alles, was er sagt, denn er würde sein Leben dafür geben, damit dir nichts passiert. Seine einzige Aufgabe besteht darin, dich zu beschützen.
In Liebe, dein Dad.