Rette sich, wer kann!. Ekkehard Wolf
Disziplinarverfahren einbringen konnte.
Allein diese Haltung hätte seine Vorgesetzten bei genauerem Hinsehen dazu veranlassen müssen darüber nachzudenken, ob es tatsächlich noch vertretbar war, einem Mann mit dieser Dienstauffassung auch weiterhin Vorgänge von einiger Bedeutung anzuvertrauen.
Er war jedoch nicht defätistisch genug, um seine Dienstauffassung ständig nach außen zu kehren und so entband er seine Vorgesetzten auch von der Notwendigkeit, sich darüber allzu große Gedanken machen zu müssen.
Rogge hatte gerade sein Köfferchen zugeklappt, die Schreibtischschublade verschlossen und war im Begriff sich von seinem Sessel zu erheben, als sich die Klinke der Tür zu seinem Büro vorsichtig bis zum Anschlag senkte. Er lehnte sich zurück und blickte gespannt auf das Türblatt.
Die Klinke blieb gedrückt, aber die Tür wurde nicht geöffnet.
Rogge begriff, dass der oder diejenige, von der die Klinke betätigt wurde, wohl davon überrascht worden war, die Tür geöffnet vorzufinden.
Jetzt suchte die Person vermutlich händeringend nach einer Erklärung dafür, hier einfach eingedrungen zu sein, ohne zumindest geklopft zu haben. Also konnte es sich nur um einen Rangniederen handeln, machte sich der Oberrat klar und wurde im selben Moment eines Besseren belehrt.
Ausgerechnet seine neue Abteilungsleiterin steckte den Kopf durch die Tür, sah ihn mit ihren wachen Augen an und erkundigte sich mit ungewohnt umgänglicher Stimme danach, ob sie kurz hereinkommen dürfe.
Rogge hatte ganz ausgeprägt das Gefühl, dass ‚Madame’ eigentlich nur deshalb an seiner Tür gelandet war, um sich davon zu überzeugen, dass er das Büro bereits verlassen hatte - wieder einmal selbstverständlich vor Dienstschluss. Doch auch diesen Gedanken beschloss Rogge besser für sich zu behalten.
„Kommen Sie herein,“ forderte er die leitende Polizeidirektorin statt dessen auf und war ehrlich gespannt, welchen Grund für ihren plötzlichen Besuch sie sich zwischen Tür und Angel würde einfallen lassen.
Die Vorgesetzte ließ ihn nicht lange zappeln. Sie setzte sich - selbstverständlich unaufgefordert - an den runden Tisch, an dem Rogge seine kleinen Lagebesprechungen abzuhalten pflegte, lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich dazu zu gesellen, wartete ab, bis er es sich bequem gemacht hatte und überfiel ihn sodann mit der simplen Frage, wie weit er inzwischen gekommen sei.
Rogges gedehntes „äh, ja“ löste bei ihr ein verstehendes „aha“ aus.
Da die Dame Grafunder trotzdem keine Anstalten machte, das Büro umgehend wieder zu verlassen, sondern ihn statt dessen weiterhin mit fragendem Blick erwartungsvoll ansah, blieb diesem nichts anderes übrig, als sich zu einigen weiteren Ausführungen zu bequemen.
Viel hatte er nicht zu sagen und so musste sich seine Vorgesetzte mit der hochinteressanten Tatsache zufrieden geben, dass ihr Mitarbeiter sich die Unterlagen „bereits angesehen“ hatte und dabei auf „einige Ungereimtheiten“ gestoßen war, die jetzt zu erläutern „natürlich zu weit führen“ würde.
Dr. Andrea Grafunder erkundigte sich noch höflich danach, wie er weiter vorzugehen gedenke, bedankte sich dann ebenso höflich, entschuldigte sich im Gehen sogar noch für die Störung und wünschte ihm zum Schluss „viel Erfolg bei der Bearbeitung des Falles.“ Danach ließ sie ihn allein.
Rogge hatte sich erhoben, war aus Gewohnheit bereits auf dem Weg zur Tür gewesen, um ihr diese zu öffnen, doch sie hatte ihn mit den Worten daran gehindert: „Nein, lassen Sie mal, ich finde noch allein hinaus.“ Zurück blieb bei Rogge ein doch deutlich ungutes Gefühl.
Ihm war klar, dass er soeben nicht gerade einen besonders kompetenten Eindruck hinterlassen hatte und das wurmte ihn, auch wenn er wie üblich versuchte, diesen Anflug von kritischer Selbsteinschätzung mit einer kurz verbalisierten Trotzhaltung zu überspielen.
Er sah auf die Uhr, wartete noch die verbleibenden wenigen Minuten bis zum offiziellen Dienstschluss ab, ließ dann noch einige Minuten vergehen, die er damit verbrachte, in der Schublade seines Schreibtisches nach einem Memorystick zu suchen, der sich in Wirklichkeit bereits in seiner Hosentasche befand.
Als der Kriminaler schließlich doch noch den Weg heraus aus dem Dienstgebäude fand, war es bereits eine gute Viertelstunde nach Dienst – Schluss, wie Rogge diesen Zeitabschnitt pointiert zu bezeichnen pflegte.
Auf direktem Weg begab er sich zu seinem Audi, den er vor wenigen Monaten günstig von einem Bekannten erworben hatte. Ihm war nicht entgangen, dass es auch innerhalb des Dienstes böse Zungen gab, die behaupteten, bei dem Bekannten habe es sich um einen bekannten Kriminellen gehandelt, der sich über den Preis für das Auto des besonderen Wohlwollens des Polizisten vergewissern wollte. Rogge hatte eingeräumt, dass auch andere Menschen zu Wortspielen fähig waren, sich ansonsten hiervon nicht weiter beirren lassen.
Wenn man bereits dadurch zum Kriminellen wurde, dass man als Grieche auf die Idee kam, mit Autos zu handeln, dann war sein Bekannter sicher ein Krimineller.
Noch auf dem Weg zu seinem Wagen sah er auf die Uhr und erinnerte sich daran, welchem anderen Bekannten er noch einen kurzen Besuch abstatten wollte.
„Wenn einer weiß, wie und wo man anklopfen muss, um an solche Spielsachen heranzukommen, dann vermutlich der,“ machte sich der Polizist Mut und stellte alle Bedenken zurück.
Als Rogge es eine knappe Stunde später geschafft hatte, sich durch den Feierabendverkehr zu dem Uhrmacher durchzukämpfen, erwartete ihn dort eine kleine Überraschung.
Kapitel 2
Er wurde Augenzeuge eines handfesten Streits, in dessen Verlauf ein aufgebrachter Mann, der vielleicht Mitte dreißig sein möchte, dem altern Herrn vorwarf, wissentlich mit falschen Angaben beim Verkauf alter Uhren zu arbeiten. Nur dem Einschreiten Rogges hatte es der alte Herr zu verdanken, dass es nicht zu Handgreiflichkeiten kam. Trotzdem sah sich der Gescholtene entgegen der Erwartung Rogges nicht einmal ansatzweise dazu in der Lage, ihm in der Sache weiterzuhelfen.
„Ich bin Uhrmacher, Herr Rogge, nicht Waffenhändler,“ hatte dieser ihm so unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass selbst Rogge Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Aussage kamen.
Bei einer ausgiebigen Tasse Tee hatte er sich danach darauf beschränkt, seinen Bekannten mit einer spöttischen Bemerkung hierzu zusätzlich in Rage zu versetzen, indem er sich erstaunt darüber gab, dass es zwischen beiden einen Unterschied gäbe.
In der Sache brachte ihn diese Vorgehensweise selbstverständlich nicht wirklich weiter und so blieb ihm nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge wieder von dannen zu ziehen.
Der Lösung seines Problems war der ‚Rächer der Gerechten’, wie er von seinen Freunden gern verulkt wurde, damit allerdings keinen Schritt näher gekommen.
Auf dem Weg zu seinem nächsten Ziel hatte er in Gedanken immer wieder den merkwürdigen Fall gestreift, war aber zu keinem weiterführenden Ergebnis gelangt und hatte es daher vorgezogen, sich in der kommenden Woche intensiver in das Thema hineinzuknien. Bis dahin würde er das verlängerte Wochenende genießen, sich erst einmal richtig ausschlafen und keinen Schritt aus dem Haus machen. Tatsächlich kam es etwas anders, aber das soll ja vorkommen.
Das Vorkommnis dieses Wochenendes war jene kurzfristig anberaumte, kleine Feier, zu der es ihn gerade hinzog. Die Kurzfristigkeit ergab sich daraus, dass der jungen Profilerin mit dem schönen Vornamen Luise am Vormittag „spontan eingefallen war“, wie sie sich ausgedrückt hatte, ihren neuen Vorgesetzten zur kombinierten Einweihungs- und Einstandsparty in ihre neue Wohnung einzuladen und er entgegen seiner sonstigen Gewohnheit ebenso spontan zugesagt hatte. Da sich die Freunde der zu allem Überfluss auch noch schön anzuschauenden jungen Frau zur Einweihung einiges hatten einfallen lassen, hatte der Abend lustig begonnen. Bei den meisten der anderen Gäste hatte es sich überwiegend um recht junge Leute gehandelt, die kein Problem damit hatten, so richtig abzufeiern. An den weiteren, insbesondere späten Verlauf konnte er sich dagegen nur noch sehr vage erinnern. Seinem Kater nach zu urteilen, musste