Rette sich, wer kann!. Ekkehard Wolf

Rette sich, wer kann! - Ekkehard Wolf


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zivilisierten Welt er bei dieser Gelegenheit seine Nachforschungen zu dem gewünschten Ergebnis würde führen dürfen. Naheliegenderweise hatte er diesen Gedanken im Verlauf der Lagebesprechung nicht ausgebreitet. Doch diese Entscheidung über das wann und wohin wurde ihm durch den Fortgang der Ereignisse zunächst einmal ohnehin abgenommen, wie im Verlauf einer Dienstbesprechung erfuhr, die einige Zeit später im Büro seiner Vorgesetzten anberaumt wurde.

      Kapitel 3

      Ausgerechnet aus Tallin hatten sich die zuständigen Behörden mit einem Amtshilfeersuchen an das BKA gewandt.

      Hier hatte sich anscheinend jemand hingesetzt und den Aufruf zur Tat ins Estnische übersetzt und diesen Text dann an einem windigen Tag per Flugblattaktion in der Innenstadt per Luftpost verteilen lassen.

      „Die Kollegen dort möchten nun gern wissen, was wir davon halten,“ hatte ihm der mit der Beobachtung des internationalen Umfeldes beauftragte Kollege nicht ohne eine gewisse Schadenfreude mitgeteilt und zugleich auch angefragt, ob er schon mal einen Flug buchen sollte. Rogge hatte in diesem Fall erst einmal dankend abgelehnt und den „lieben Kollegen“ gebeten, zunächst doch noch ein „wenig mehr Informationen“ über das zu beschaffen, was den Kollegen in der Hauptstadt der Baltenrepublik anscheinend so viel Kopfzerbrechen bereitete.

      Das Ergebnis hatte nicht lange auf sich warten lassen. Bereits am übernächsten Tag hatte Rogge eine Kopie des Papiers, einschließlich einer Übersetzung ins Deutsche auf dem Schreibtisch. Und diese verhieß nichts gutes; denn während in der bisherigen Kurierpost mehr allgemein dazu aufgerufen wurde, zur Tat zu schreiten, hatte es sich der oder die estnische Verbreiter/in offenkundig in den Kopf gesetzt, ein entsprechendes Signal zwar nicht möglichst bald dafür aber höchst spektakulär in die Welt zu setzen.

      Für die „Großtat“ auserkoren hatte er oder sie sich ausgerechnet das Atomkraftwerk, das in Litauen das bestehende Kraftwerk Ignalina ersetzen soll. Perfiderweise enthielt das Papier die konkrete Aufforderung, einen entsprechenden Zündmechanismus im Verlauf der Bauarbeiten so in die Anlage zu implementieren, dass diese punktgenau an einem nicht näher bestimmten Tag nach Inbetriebnahme des Kraftwerkes den GAU auslösen würde.

      Rogge lehnte sich in seinem Sessel zurück.

      Er musste sich eingestehen, dass ein solches Vorhaben im Rahmen der Vorgaben aus Sicht eines möglichen Attentäters Sinn machen könnte. In das Kontrollzentrum oder die Außenhülle eines Atomkraftwerkes, in die Unmengen von Stahl eingearbeitet werden, einen altertümlichen Sprengmechanismus aus Metall einzubauen, dürfte kaum zu identifizieren sein. Da in diesem Fall zudem die Detonation von außen nach innen angelegt sein würde, dürften auch die konzeptionellen Sicherungen zu überwinden sein, da diese das Kraftwerk in erster Linie gegen eine Detonation schützen sollen, die von außen einwirkt.

      Zudem könnte der Zeitfaktor ein solches Vorhaben begünstigen. Wenn es möglich sein sollte, den Zündmechanismus etwa durch eine bestimmte Umgebungstemperatur mit einer Vorlaufzeit von zwei Tagen zu aktivieren, so bliebe für den oder die Täter/in/nen sogar noch ausreichend Zeit, sich mit Familie und Freunden so rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu bringen, dass der GAU keine unmittelbare Gefahr für ihn oder sie mehr darstellt.

      Als besonders ärgerlich war zudem zu werten, dass die Kollegen in Estland dem Anschein nach keine rechte Vorstellung davon hatten, wie viele dieser Aufrufe verbreitet worden sind.

      Noch während Rogge sich auszumalen versuchte, welche Folgen ein solcher Anschlag für die Debatte um die Sicherheit von Nuklearanlagen haben dürfte, erreichte ihn bereits eine Mitteilung, die einer Entwarnung sehr nahe kam. Der estnischen Polizei war eine junge Frau ins Netz gegangen, die nach Aussagen ihres früheren Freundes als Urheberin und Verteilerin des Attentatsaufrufes angesehen werden musste.

      In den Augen Rogges lieferte genau dieser Sachverhalt allerdings die unabweisbare Notwenigkeit für eine unaufschiebbare Dienstreise, die zu buchen er dann auch gleich in die eigenen Hände nahm.

      Wenn er gegenüber sich selbst etwas selbstkritischer eingestellt gewesen wäre, hätte er sich zweifelsfrei eingestehen müssen, dass seine Bereitschaft diesen Flug umgehend zu buchen weniger mit dem aktuellen Fall als mit der vagen Hoffnung zu tun hatte, bei dieser Gelegenheit eine Spur der Frau zu finden, die ihm in der Glovico Sache so unversehens den Rücken gekehrt hatte, obwohl sie ein Kind von ihm erwartete.

      So kam es, dass sich noch am selben Abend eine dreiköpfige Delegation aus Wiesbaden auf den Weg zu den estnischen Ermittlern aufmachte und, dort angekommen, darum bat, in die laufenden Untersuchungen einbezogen zu werden.

      Dem Wunsch wurde umgehend entsprochen und bei dieser Gelegenheit wurden die drei angereisten Beamten mit der erhebenden Einsicht vertraut gemacht, dass die Festgenommene tatsächlich lediglich als Übersetzerin und Verteilerin tätig geworden war, nicht jedoch als Urheberin des Textes in Frage kam. Das freundliche Angebot der estnischen Kollegen, die junge Dame trotzdem erneut zu befragen, hatten die Angereisten freudig angenommen.

      Als die junge Frau in den Raum geführt wurde, stutzte Rogge kurz und zog die Stirn in Falten. Die Festgenommene war mittelgroß und trug ihre hellblonden Haare in einem Knoten zurück gesteckt. Diese Aufmachung erinnerte Rogge irgendwie an die Haartracht, die er häufig bei Landfrauen im Baltikum hatte beobachten können und folglich speicherte er sie für sich sogleich unter als die „Baltin“ ab, Bekleidet war sie mit einem dunklen Rock und einer hellen Bluse. Der Oberrat registrierte, dass die Dame fast ein wenig schamhaft den Blick senkte. Spontan kam es ihm so vor, als ob er die junge Frau kennen würde. Aber er wusste nicht, wo er sie hinpacken sollte.

      Erst auf den zweiten Blick hin machte er sich klar, dass das wohl daher rührte, dass die Dame eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau hatte, deren Verschwinden dem Oberrat seither keine Ruhe mehr ließ, nur eben etwas jünger.

      Dem Anschein nach mochte die Festgenommene Anfang bis höchstens Mitte Zwanzig sein. Die Tage in der U-Haft hatten sie sichtbar mitgenommen. Ihr Gesicht war blass und sie wirkte müde. Anscheinend war sie aus dem Stand heraus festgenommen worden und hatte seither keine Gelegenheit gehabt, sich frisch einzukleiden. Die helle Bluse machte einen leicht zerknitterten Eindruck und der Beschuldigten war dies bewusst und anscheinend unangenehm. Mit den Fingerspitzen zupfte sie zunächst an den Ärmelbündchen und versuchte dann, den Stoff mit den Händen ein wenig zu glätten. Wie zufällig zeichneten sich die Konturen Ihres Oberkörpers dabei für einen Moment lang sehr deutlich ab. Es war nur ein ganz kurzer Blick, den sie Rogge dabei zuwarf, doch der ließ ihn aufmerksam werden. Es sprach etwas ausgesprochen Provozierendes aus ihren Augen und das hatte so gar nicht zu tun mit dem niedergeschlagenen Eindruck, den sie beim Hereinkommen vermittelt hatte.

      Um sich zu vergewissern blickte Rogge auf das vor ihm liegende Datenblatt und zog die Augenbrauen hoch. Er hatte sich verschätzt, die Frau würde in wenigen Monaten ihren dreißigsten Geburtstag feiern.

      Um dem oder der Täter/in auf die Spur zu kommen konnte die kleine Germanistikstudentin, namens Julia Enkell, als welche sich die vermeintliche Attentäterin in spe laut den Eintragungen ihres Ausweises entpuppt hatte, bedauerlicherweise bis jetzt keine wirklich weiterführenden sachdienlichen Hinweise machen.

      Sie hatte die Gelegenheit wahrgenommen, sich ein paar Dollar zu verdienen und das Ganze zudem für eine der üblichen Szeneaktionen gehalten, mit denen verschiedene Gruppen seit geraumer Zeit versuchten, das Problembewusstsein in Sachen Atomenergienutzung in den postsowjetischen, baltischen Staaten auf internationales Niveau zu bringen.

      Immerhin war sie in der Lage, vergleichsweise konkrete Angaben zu den Auftraggebern zu machen.

      Ein Mann mittleren Alters hatte sie unter Vermittlung eines Kommilitonen angesprochen, der gelegentlich Touristen bei Stadtführungen begleitete und ihr den Auftrag erteilt, das Papier zu übersetzen, zu vervielfältigen und dann in den Cafes im Universitätsviertel auszulegen.

      Die junge Frau war sich daher ganz sicher, den Auftraggeber als Touristen identifizieren zu können. Und sie war sich ebenfalls sicher, dass dieser Tourist der Aussprache nach aus Deutschland oder vielleicht noch Österreich stammen musste.

      Er


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