Rette sich, wer kann!. Ekkehard Wolf
gegen morgen war er dann aufgewacht, hatte benebelt festgestellt, dass er offenbar im Bett seiner Kollegin gelandet war, hatte sodann aber beruhigt registriert, dass das von ihm benutzte Bett wohl im Gästezimmer stand, hatte bei dem Versuch, sich zu orientieren die Türen zu zwei weiteren Zimmern geöffnet und dabei feststellen müssen, dass er offenkundig nicht der einzige Partygast war, der hier übernachtete, hatte sich nach dem Gang zur Toilette ein Taxi bestellt und war schließlich auf leisen Sohlen aus der Wohnung geschlichen. Er war so dicht gewesen, dass er noch auf dem Weg zu sich beschlossen hatte, am Montag nicht zum Dienst zu erscheinen. Um nicht aufzufallen, nahm er sich zugleich vor, sich zu Wochenbeginn gleich für drei Tage krank zu melden. In seinen vier Wänden angekommen, war er noch immer so mitgenommen, dass er es vorzog, sofort wieder ins Bett zu gehen. Als er am frühen Nachmittag wieder erwachte, fiel ihm auf, dass er ja ohne sein Auto hier gelandet war. Also bestellte er sich erneut ein Taxi, ließ sich zurück zur Wohnung der schönen Luise fahren, wie die Profilerin intern bereits genannt wurde und wunderte sich beim Anblick des Hauses der jungen Beamtin ein weiteres Mal darüber, dass sie in der Lage war, sich ein solches Anwesen zu leisten; denn der Ausdruck „Wohnung“ war für dieses großzügige Etablissement wahrhaftig eine ziemlich Untertreibung
Um sich ein wenig abzureagieren trat der Endvierziger anschließend erst einmal kräftig auf das Gaspedal. Allerdings nur, um von der nächsten roten Ampel schon wieder gestoppt zu werden. Rogge war nahe daran, seinen Frust freien Lauf zu lassen und das Stoppsignal einfach zu übersehen. Dass er dieser Eingebung nicht Folge leistete war allein dem gerade noch rechtzeitigen Blick in den Rückspiegel zu verdanken.
Unmittelbar hinter ihm hatte sich ein Streifenwagen positioniert, dessen Besatzung vermutlich nur darauf wartete, den Fahrer des flotten POLOS bei dieser Verkehrsregelübertretung auf frischer Tat stellen zu können.
Rogge tat seinen Kollegen von er Verkehrspolizei diesen Gefallen nicht. Das bewahrte ihn gleichwohl nicht davor, wenig später in eine Fahrzeugkontrolle wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verwickelt zu werden. Dass die Kollegen noch einmal von einer kostenpflichtigen Verwarnung abzusehen bereit waren, hatte der Kriminaloberrat an diesem Tag dann schließlich nur dem Respekt zu verdanken, den seine Kollegen dem Dienstausweis entgegenbrachten, den Rogge ihnen unter die Nase rieb.
Seine Laune besserte sich durch dieses Erlebnis trotzdem nicht nachhaltig. Er zog es daher vor, auf die Autobahn auszuweichen und seinem Wagen dort einmal so richtig die Sporen zu geben. Als er gegen 23 Uhr schließlich wieder vor seiner eigenen Haustür landete, hatte er laut Tacho mehr als 300 Kilometer zurück gelegt. Wo er in der Zwischenzeit überall gewesen war, hätte er aber auch unter der Folter nicht mehr angeben können.
Als er gegen neun Uhr am Donnerstag der Folgewoche sein Büro betrat, war er immerhin so weit wieder hergestellt, dass er sofort wild entschlossen daran ging, dem Fall die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Dass es erst einmal wieder bei dem Vorsatz blieb, war dem an sich nicht unerfreulichen Umstand einer Geburtstagsfeier geschuldet.
Ausgerechnet die junge Profilerin hatte es sich nicht nehmen lassen, aus Anlass ihres xxxten Geburtstages erneut „die Puppen tanzen“ zu lassen. Auf die Gepflogenheiten der Dienststelle herunter gebrochen, bedeutete dies immerhin ein kleines aber ausgesprochen leckeres Frühstück, dass die Kollegin liebevoll vorbereitet hatte und dem sich folglich auch Rogge aus Gründen der Höflichkeit nicht hatte verweigern können. Irgendwie hatte er zwar das Gefühl, dass ihre augenzwinkernd vorgetragene Frage, ob er heute auch „ein wenig Appetit habe“ von einem ein ganz klein wenig anzüglichen Unterton getragen war, doch er war sich nicht sicher und zog es vor, das zu überhören. Da sich der Imbiss zugleich ein wenig hinzog, musste leider auch die fest eingeplante intensive Vorbereitung der Lagebesprechung entfallen und dementsprechend unstrukturiert verlief dann auch die Sitzung.
Dies allein war so ungewöhnlich nicht. Ledigleich der Umstand, dass es sich die neue Abteilungsleiterin in den Kopf gesetzt hatte, ausgerechnet an dieser Sitzung teilnehmen zu müssen, ließ das kleine Debakel in den Augen Rogges ein wenig bedenklicher erscheinen, als ihm das sonst erschienen wäre. Immerhin verhärtete sich im Verlauf der Sitzung der Verdacht, wonach die beiden Personen, die vor wenigen Tagen nach einen schweren Verkehrsunfall auf der B-11a nach einem Frontalzusammenstoß mit einem auf die falsche Spur geratenen LKW ums Leben gekommen waren mit diesem Fall in Verbindung gebracht werden mussten. Auch diese Erkenntnis änderte indes nicht wirklich etwas an der trüben Stimmung, die an diesem Tage herrschte. Das lag auch daran, das trotz den in den Resten ihres ausgebrannten Fahrzeuges aufgefundenen Aufrufen keine Verbindungen zu anderen Personen hergestellt werden konnten. Immerhin hatten sich die Teilnehmer der Besprechung daraufhin auf eine gewisse grobe Aufgabenverteilung bei der weiteren Bearbeitung des Falls verständigt und auch darauf, sich mit frischen Kräften bereits am kommenden Tag in dieser Sache erneut zusammen zu setzen.
Rogge nutzte die Zeit nach der Mittagspause, um sich die verfügbaren Exemplare der Kurierpost noch einmal zu Gemüte zu führen. Das abgefangene Dossier bestand aus einem neutralen Anschreiben, das sich an eine Person richtete, die weder unter der angegebenen Adresse noch sonst irgendwo ausfindig zu machen war. Darin bedankte sich der Absender für das Interesse an dem beigefügten Material und bat darum, für dessen weitere Verbreitung Sorge zu tragen. Der eigentlich interessante Teil des „Materials“ bestand in der unmissverständlichen Aufforderung an „Jeden, den es angeht“ zum gewaltsamen „Widerstand gegen die fortschreitende Globalisierung“. Beunruhigend war dieser Aufruf nicht zuletzt unter dem Blickwinkel der aufgeführten Zielperspektiven für entsprechende Anschläge. Jedes der empfohlenen Zielobjekte hatte irgendwie Symbolcharakter.
So wurden etwa Wasserwerke und Speicher, aber auch Rückhaltebecken, wie Stauseen als wirkungsvolle Demonstrationsobjekte für den gedankenlosen Umgang der westlichen Welt mit dem kostbarsten aller Rohstoffe angepriesen. Selbstverständlich durften auch Kraftwerke nicht fehlen. „Schließlich,“ so hieß es zur Begründung, „wird durch das Verheizen von Kohle, Öl und Gas nicht nur sinnlos CO2 produziert, sondern zugleich auch dem Rest der Welt mit diesem tollen Vorbild die fixe Idee vorgegaukelt, man müsse es nur genauso machen, und schon breite ich der Wohlstand überall auf der Welt aus.“ Dass damit auch Bahnen und Bahnhöfe ebenso wie Schiffe und Häfen sowie Flughäfen und Flugzeuge als Zielobjekte mit besonderer Symbolkraft nicht fehlen durften, verstand sich, wie Rogge mit leicht zynischem Einschlag einräumte, dabei fast schon wie von selbst. Was die Aufzählung ein wenig unübersichtlich machte, war der an sich nicht wirklich neue Hinweis, dass sich geeignete Zielobjekte „in allen Staaten der nördlichen Halbkugel in Hülle und Fülle“ finden ließen.
Die damit unterschwellig verbundene Botschaft sollte wohl lauten, sucht euch ein passendes Ziel, baut euch eure Haftladungen und jagt das ganze möglichst medienträchtig in die Luft.
Perfekterweise richtete sich die Botschaft damit an jede/n, der irgendwie in der Lage war, Buchstaben zu Worten zusammen zu setzen und bereit war, für eine solche Aktion ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen.
Der Absender selbst war hier mit gutem Beispiel voraus gegangen. Wie die Nachforschungen ergaben, hatte er die Post ausgerechnet von einem Briefkasten aus in die Welt versandt, der sich beinahe in Sichtweite des Amtes befand.
Rogge kannte dieses Überbleibsel aus den Zeiten der gelben Post. Wie auch andere Mitarbeiter des Amtes benutzte er ihn gelegentlich, um auf dem Weg zum Dienst noch eben schnell Sendungen auf den Weg zu bringen, die auf dem Postweg befördert werden mussten.
Die Inkaufnahme der damit notwendigerweise verbundenen Risiken stellte, wie sich auch Rogge eingestehen musste, ebenfalls solch eine merkwürdige Besonderheit dieser Botschaften dar. Da der oder die Verfasser/innen die konkrete Umsetzung der vielfältigen Anregungen ebenso wie die Auswahl der konkreten Zielobjekte großzügig dem oder der sowie den Attentatswilligen überließ, ergab sich „erfreulicherweise eine gut eingrenzbare und auch jederzeit zu kontrollierende Gemengelage von allerhöchstens einigen zehntausend gefährdeten Objekten,“ wie Rogge seinen „verehrten Kollegen“ in nicht minder zynischem Unterton bereits während der Lagebesprechung zu verstehen gegeben hatte.
Immerhin, und das war aus Sicht des Kriminalers positiv zu werten, bot der Fall wegen seiner internationalen Dimension die Aussicht auf die eine oder andere Dienstreise ins mehr oder weniger benachbarte Ausland. Erfahrungsgemäß