Du weißt doch, Frauen taugen nichts. Berthold Kogge
Carola meinen kritischen Blick gemerkt hatte, aber als ich mich mit einem „Hallo“ gesetzt hatte, und die unbekannte Frau, nachdem sie ihr Glas mit einem Zug ausgetrunken hatte, gegangen war, kam von Carola gleich, mit einem Kopfnicken auf das Glas weisend: „Ich musste mir ein bisschen Mut antrinken.“
„Wieso denn das?“
„Nur so.“
Nur so - hmm. Ein komischer Grund sich Mut an zu trinken, dachte ich mir im Stillen.
Später, viele Monate später grübelte ich darüber nach, worüber wir uns in den zwei Stunden unterhalten haben, bis sie von Freunden abgeholt wurde, um zur Geburtstagsfeier zu fahren. Mir fiel es nicht mehr ein. Sicher, Carola versuchte mich noch einmal zu überreden, doch noch zur Geburtstagsfeier mitzukommen. Schließlich waren Peter und ich lange Zeit dicke Freunde gewesen, und er hatte wohl auch am Abend zuvor gegenüber Carola so etwas angedeutet, dass er sich über meinen Besuch freuen würde. Mag sein, dass wir uns auch noch über das „Mutantrinken“ unterhielten. Carola hatte auch kurz erzählt, dass sie jetzt in Hannover wohnt, und nur wegen Peters Geburtstag, über das Wochenende nach Lübeck gekommen sei. Aber diese Themen waren spätestens in fünfzehn Minuten abgehakt. Trotz alledem waren auf einmal zwei Stunden vorbei, und Carola wurde von den Freunden, unter anderem auch von Carmen und Hans, bei denen sie an diesem Wochenende übernachtete, zur Geburtstagsfeier abgeholt. Und ich hatte irgendwie, obwohl es ein harmonisches Treffen gewesen war, das Gefühl, dass Carola immer noch nicht das gesagt hatte, was sie mir eigentlich hätte sagen wollen, und warum sie sich mit mir hier im „Sachers“ verabredet hatte. Was auch immer es gewesen sein mochte, es war etwas, wozu man bei brüllender Hitze, um sich Mut an zu trinken, schon um vierzehn Uhr Starkbier braucht.
„Darf ich dich morgen früh zum Frühstück einladen“, kam es noch, mit einem auffordernden und gleichzeitig zweifelnd fragenden Blick, als sie bereits vom Stuhl aufgestanden war, um zum Wagen ihrer wartenden Freunde zu gehen. „Zehn Uhr, wieder hier, gleicher Ort?“
Ich nickte. „Jo, das geht klar.“ Obwohl mir eigentlich nicht klar war, was eigentlich klar geht. Was wollte sie?
Sechs Jahre vorher waren wir, bevor wir uns überhaupt näher kennenlernen konnten, schon im E-Mail-Streit auseinandergegangen. Die Beendigung einer Beziehung wurde damals sozusagen dem Beginn vorangestellt, was, so wie die Beendigung damals abgelaufen war, wohl auch viel Ärger erspart hat. Danach waren wir uns nie wieder begegnet. Jetzt kam sie, nur für ein kurzes Wochenende, wegen einer Geburtstagsfeier nach Lübeck, wollte die Gelegenheit gleich nutzen, um alte Bekannte zu treffen, und verabredete sich dann mit mir zuerst für den Samstagnachmittag, und da das ihr anscheinend nicht genug war, gleich noch für den nächsten Morgen, statt, den doch nur sehr begrenzten Zeitraum, der ihr hier in Lübeck zu Verfügung stand, mit ihren Freunden, wozu ich nun einmal eindeutig nicht zählte, zu verbringen.
Egal. Ich hatte zugesagt, und ein Frühstück im Freien, von jemand anderem bezahlt, war nicht zu verachten. Und auch wenn ich Monate später nicht mehr wusste, was wir uns an dem Nachmittag alles erzählt haben, waren die zwei Stunden, ohne dass Langeweile aufgetaucht war, ja nun wirklich schnell vorbei gegangen. Ich ging nach Hause, nahm „Den vilden svensken“, einen Roman auf Schwedisch von Ernst Brunner, eine Flasche Multi-Vitamin-Saft, ich hatte bereits im „Sachers“ nur ein Spezi getrunken, da ich irgendwie nicht das Gefühl gehabt hatte mir Mut antrinken zu müssen, und setzte mich an den Kanal unter den Schatten eines Baumes. Ernst Brunner, mit seinen verschachtelten Sätzen, machte mir das Lesen auf Schwedisch wirklich nicht leicht, sodass ich mir über Carola schon bald keine Gedanken mehr machte.
Am nächsten Morgen traf ich pünktlich mit leerem Magen, ausgenommen einem Becher Kaffee, wieder auf der Terrasse vom „Sachers“ ein. Carola saß schon, allerdings ohne Starkbier, sondern diesmal der Tageszeit angepasst, mit einem Becher Kaffee, am gleichen Platz wie gestern.
Auch von diesem Gespräch weiß ich, viele Monate später, keine Einzelheiten mehr. Carola erzählte wohl, dass sie in Hannover dabei war, mit einer Freundin zusammen eine Praxis für Physiotherapie aufzumachen. In den nächsten Tagen sollte sich klären, ob sie die entsprechenden Räume anmieten konnten. Ich erzählte wohl von meiner Firmenpleite und davon, dass nächste Woche ein großes Event von der ARGE sein sollte, bei dem man sich mit vielen potenziellen Arbeitgebern treffen konnte, und man sich dort an einem Sonderstand der ARGE, auch für Bewerbungen ins Ausland erkundigen konnte. Ich wollte versuchen in Schweden, bei irgendeiner Firma, die für ihre deutschen Kunden einen Ansprechpartner mit Deutschkenntnissen suchte, einen Job zu bekommen. Angeblich sollten die Möglichkeiten für so einen Job in Schweden nicht schlecht sein, und da meine Deutschkenntnisse, was für Geschäftsverbindungen von Schweden nach Deutschland ja wichtig war, doch ganz ordentlich waren, sah ich da doch eine große Zukunftschance für mich. Mit meinem Schwedisch war es zwar nicht so toll, aber da ich regelmäßig schwedische Bücher las, und Lern-CDs mir anhörte, entwickelte sich auch das so langsam. Und ich war davon überzeugt, dass, sollte ich erst einmal in Schweden arbeiten und wohnen, die Routine in die schwedische Sprache schnell kommen würde.
Ansonsten? Keine Ahnung mehr worüber wir redeten, aber es war auf jeden Fall nicht langweilig. Kein Herumgestotter, kein verzweifelter Blick auf die Uhr, wann denn die Anstandszeit vorbei wäre, und man sich, ohne einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, verabschieden konnte.
Als das Frühstück verputzt war, schaute Carola mich herausfordernd an: „Hast du Lust an den Strand zu fahren, dort spazieren zu gehen?“
„Klar warum nicht.“
So klar war es eigentlich nicht, aber bei dem Wetter sich einmal wieder eine frische Meeresbrise durch die Haare wehen zu lassen, das klang nicht schlecht. Auch hatte ich die Ostsee, obwohl Lübeck nur ein paar Kilometer von ihr entfernt lag, lange nicht mehr gesehen. Und bis zu diesem Zeitpunkt war das Frühstück ja nun wirklich sehr harmonisch gelaufen.
Wobei in mir abermals die Frage auftauchte, warum Carola, nachdem sie in Lübeck eingetroffen war, am Freitagabend nur kurz in der Kneipe mit Peter zusammen gesessen hat, nur kurz den Samstagmorgen bei Carmen und Hans, viel mehr als gemütlich gemeinsam frühstücken konnte es eigentlich nicht gewesen sein, verbracht hatte, bevor sie sich mit mir am Nachmittag, vor der Geburtstagsfeier, getroffen hat, nun den Sonntagnachmittag, nachdem sie ja schon den Vormittag mit mir verbracht hat, auch noch mit mir verbringen wollte. Und sie somit ihre ganzen, seit Monaten nicht gesehenen Bekannten und Freunde, regelrecht versetzte.
Und auch wenn Carla bei unserem gemeinsamen Frühstück kein Starkbier getrunken hatte, um nicht nervös zu sein, hatte ich immer noch das Gefühl, dass sie mir nicht alles gesagt hatte, was sie eigentlich hätte sagen wollen.
Auf der Fahrt zum Strand dachte ich wieder über das Geschehnis von vor sechs Jahren nach. Damals hatte sie etwas von mir gewollt. Anstatt aber in der Kneipe, in der sie damals bediente, und ich regelmäßig Gast gewesen war, mich einfach anzusprechen, oder, sollte ihr die Kneipe zu öffentlich gewesen sein, mich zu Hause per Telefon anzurufen, hatte sie eine E-Mail an meine Firma geschickt. Ohne zu wissen, ob ich alleine im Büro sitze und die E-Mails selbst öffnen würde, oder, wie es ja dann auch geschehen war, meine Sekretärin die Mails sortierte. Carola hatte eine angedeutete Liebeserklärung an eine E-Mail-Adresse geschickt, ohne zu wissen, welche Person diese lesen würde.
Ein paar Wochen später, als wir ein Paar waren und über das Thema redeten, beichtete sie mir, dass sie damals sogar die Hilfe eines Freundes benötigt hatte, damit sie überhaupt die E-Mail-Adresse meiner Firma heraus bekommen konnte. Sie hatte sich damals richtig Mühe gegeben, um mir, oder genauer gesagt meiner Firma, etwas per E-Mail zu schicken, was man viel einfacher per Telefon, ich stand immerhin im Telefonbuch, oder wenn es romantischer sein sollte, als Brief, in dem Telefonbuch stand auch meine Wohnadresse, in den Briefkasten hätte werfen können.
Das war vor sechs Jahren gewesen. Was wollte sie jetzt, ging es mir durch den Kopf, als wir, nachdem wir in verschiedenen Nebenstraßen, Carola wusste nicht mehr, in welcher sie ihren Wagen geparkt hatte, ihr Auto gesucht hatten, Richtung Strand fuhren.
Carola hatte was, keine Frage. Sie hatte etwas, was sie wahnsinnig anziehend machte. Obwohl ich nicht einmal genau sagen konnte, was es war. Aber da war auch etwas, was sie mir jetzt verheimlichte.