Der Milliardär und der Mechaniker. Julian Guthrie
Als Gertrude plötzlich nach Deutschland zur Beerdigung ihrer eigenen Mutter fliegen musste, hatte sie Madeleine gebeten, in ihrem Haus zu wohnen und darauf aufzupassen. Als Madeleine mit ihrem Sohn ankam, funktionierte das heiße Wasser nicht. Also rief sie Gertrudes Sohn an. Norbert kam, zündete die Flamme, und – so formulieren es beide gern – der Rest sei Geschichte. Ihr erstes Date hatten sie im Benihana. Dort unterhielten sie sich, bis die Lichter ausgingen und die Angestellten bereits in der Tür standen und auf sie warteten. Sie sprachen über Kinder, alleinerziehende Eltern und die Arbeit. Norbert hatte mit seiner ersten Frau zwei Kinder: Heidi und Nicholas. Beide Kinder waren schon aus dem Haus und an einem College. Madeleines Sohn aus ihrer ersten Ehe war ebenfalls aus dem Haus.
Madeleine empfand Norbert als stark und zuverlässig. Er war aber auch redseliger als sie, hatte Zeit in Europa verbracht, Kroatien und Deutschland besucht. Meistens allein, auch schon in jungen Jahren. In ihren Augen war er ein großartiger Typ: Er konnte Autos reparieren und ihre großen Koffer auf Flughäfen umherwuchten. Er tolerierte ihre Lippenstifte, ihre Rüschengardinen und ihre Wandschränke, die mit Kleidern vollgestopft waren, von denen er sagte, dass sie die gar nicht brauchte.
Vom ersten Tag ihrer Begegnung an war sich Madeleine sicher, dass ein Leben mit Norbert ein Abenteuer sein würde. Er war eine seltene Mischung aus
Beständigkeit und Zuverlässigkeit, hatte dabei aber diesen tollkühnen Charakter. Es war kurz vor sieben Uhr morgens. Die Bucht von San Francisco erschien als ruhiges Schiefergrau mit ein paar weißen Kritzeln darin – wie Kreide auf einer Tafel. Der Himmel war blassblau, und es gab keine Spur von Nebel. Die Insel von Alcatraz lag direkt voraus, die Bay Bridge thronte zur Rechten und war schon mit Autos bepackt. Die majestätische Golden Gate Bridge auf der linken Seite, die sich vom Presidio von San Francisco imposant zum Zentrum der abfallenden Marin Headlands erstreckt, legten Norbert und sein Vater mit Jozos Boot CROATIA im Westhafen der Marina von San Francisco ab, ein 30 Fuß langer Sea Ray Sundancer von 1978 mit zwei Motoren und einer Radarhalterung. In der Kühltasche waren Käse, Salami, Brot, Wein und Bier. Außerdem hatten sie Lachskaviar und frische Sardellen als Köder für den Stör dabei.
»Verdammt noch mal, fahr geradeaus!«, bellte Norberts Vater, »wir sind nicht auf Touristenfahrt. Mit deiner Fahrerei werden wir erst zum Sonnenuntergang dort sein.« Norbert schüttelte seinen Kopf, sein feinsäuberlich getrimmter Schurrbart hob sich, während er lachte. Immerhin zeigte sich das Wetter heute kooperativ. Norbert dachte an die Zeit, als er 14 Jahre alt war und Jozo darauf bestanden hatte, dass sie hinaus hinter die Golden Gate Bridge fuhren, um dort Streifenbarsche zu angeln. Norbert fuhr das fipsige 16-Fuß-Boot mit dem alten 30-PS-Johnson-Motor. Schnell waren sie draußen in der turbulenten See und der frostigen Kälte. Die Wellen schubsten sie umher, doch an Rettungswesten wurde kein Gedanke verschwendet.
Norbert schaute nach vorn auf die Gewässer bei der San Rafael Bridge und jene auf dem Kurs in die Bucht von San Pablo mit ihrem reichen Fischvorkommen inklusive der Streifenbarsche, Sardellen, Stinte, Butte und Störe.
Die CROATIA erreichte die Bucht von San Pablo, ein seichtes Gewässer mit einer tiefen Rinne in der Mitte der Bucht. Die Männer montierten ihre Köder auf die Haken und warfen auf der Suche nach den gründelnden Stören dickere Angelschnüre zum Testen aus. Sie zogen ihre Jacken aus und machten sich das erste Bier auf. Es war ein warmer Tag, und Norbert war klug genug, das Gespräch auf Minimalniveau zu halten. Die CROATIA war Jozos Hafen, sein Zufluchtsort nach dem Kirchgang, wo er heimlich ein Schlückchen Brandy trinken und vielleicht ein Nickerchen halten konnte. Vom Frühjahr bis in den Herbst angelten sie Lachse und Streifenbarsche. Die Wintermonate und der Frühlingsbeginn waren gut für Störe, obwohl es schon als respektabler Fang galt, wenn man einen oder zwei erwischte. Sie liebten es, Barsche zu fangen und daraus einen Gemüseeintopf mit großen Stücken des weißen Fisches zu machen. Während des Sommers ließen sie sich ohne Motor treiben und widmeten sich dem Schleppangelfischen. Der größte Lachs, den Norbert je gefangen hatte, war ein strammer Bursche von 20 Kilogramm. Diese großen Fische nannten sie Geschosse.
Langsam entspannten sie sich. Norbert verstand, dass die wichtigste Sache beim Angeln Geduld war. Die Stille zwischen ihnen beiden war angenehm. Nach einer Weile begann Jozo Geschichten auf Kroatisch zu erzählen, hin und wieder auch einen unanständigen Witz. Sie sprachen auch über die Nachrichten des Tages: Der Skandal um Bill Clintons Amtsenthebungsverfahren und den Freispruch des Senats im Jahr zuvor, im Frühwinter 1999, erstaunte Jozo immer noch. So wie der große Konflikt im Kosovo, der seiner Heimat so nah war.
Von Zeit zu Zeit sprach Norberts Vater über seine Kindheit im von Tito beherrschten kommunistischen Jugoslawien. Jozos Fischerdorf Hodilje lag an der Küste Dalmatiens an der Adria. Hodilje bedeutete in der kroatischen Sprache »kleiner Dornhai«. Das Dorf war ein Ort, an dem Kinder lernten, einen Fisch zu bestimmen, bevor sie einen Fuß in die Schule setzten. Im Alter von 18 Jahren, am 22. Mai 1952 und nach vier Monaten angstvoller Planung, verließen Jozo und vier Freunde Hodilje in einer dunklen Nacht. Sie marschierten viele Kilometer bis zu einem steinigen Strand. Dann schwammen sie nach Olepi. Dort wartete etwas ganz Außergewöhnliches auf sie: ein motorisiertes Segelboot, das einem kommunistischen Arzt gehörte. Die jungen Männer – Jozo, Bendo, Rafo, Dani und Ante – flohen aus ihrem Leben, das von Unterdrückung und Armut geprägt war. Jozos älterer Bruder war derjenige gewesen, der auf dem Boot des kommunistischen Arztes hätte sein sollen. Doch er war geblieben. Zwonkos Jugendliebe Maria, die seine Frau und Mutter seiner Tochter geworden war, konnte ihre Familie nicht verlassen und hatte ihn gebeten zu bleiben. Also nahm Jozo Zwonkos Platz an Bord ein. Sie verbrachten fünf Tage ohne Wasser und Nahrung auf dem nur 4,20 Meter langen Holzsegelboot, denn die Vorbereitung von Proviant hätte jemanden misstrauisch machen können. Nur wenige Wochen zuvor war Jozos Cousin bei einem ähnlichen Fluchtversuch geschnappt und ins Gefängnis gesteckt worden. Als Jozo und seine vier Freunde im Seehafen Bari von der italienischen Polizei aufgegriffen wurden, sorgte ihre mutige Flucht vor dem Kommunismus für einige Schlagzeilen in Italien – und zu Hause in Hodilje.
Von Italien wurden Jozo und die anderen jungen Männer zum Arbeiten nach Deutschland geschickt. Jozo lernte Gertrude in einer Tanzhalle in Kaiserslautern im Südwesten Deutschlands kennen. Die beiden begannen sich öfter zu treffen. Jozo war ein Romantiker und umwarb Gertrude. Sie war beeindruckt von seinem guten Aussehen und seiner Arbeitsmoral. Sie hatten Verwandte in San Francisco, die ihnen erzählten, dass Amerika ein Land war, in dem sich mit harter Arbeit ein gutes Leben führen ließe. Jozo und Gertrude Bajurin und ihr kleiner Junge namens Norbert kamen am 14. Februar 1957 in Amerika an. Sie waren an Bord eines US-Navy-Truppentransporters, der USS GENERAL LANGFITT, von Bremerhaven in die Vereinigten Staaten gefahren. Norbert und seine Mutter blieben im Frachtraum unter Deck, während die Männer weiter oben untergebracht waren. Jozo und Gertrude trafen sich mit Norbert im Schlepptau zu den Mahlzeiten und zu Spaziergängen an Deck. Als das Schiff in den Hafen von New York einlief, schickte Jozo ein kleines Gebet gen Himmel. Boote waren gut zu den Bajurins gewesen. »Wir kamen mit dem Boot hierher«, pflegte sein Vater jetzt zu sagen, »und haben es hier ohne Hilfe geschafft.«
Jozo hatte damit begonnen, tagsüber Gräben auszuheben und nachts Pizza zu backen. Heute gehörte ihm die Werkstatt Alouis Auto Radiator in San Francisco. 1965 hatten er und Gertrude in Marin County ein kleines Haus für 35 000 Dollar gekauft. Seinem Sohn erzählte Jozo immer wieder: »Als ich noch ein Junge war, trug ich meine Schuhe auf dem Weg zur Schule immer über der Schulter, um die Sohlen vor Abnutzung zu bewahren.« Hodilje war ein Ort, an dem die Väter ihren Söhnen das Fischerhandwerk beibrachten und dabei Netze benutzten, die alt und begehrt wie ein Erbstück waren. Doch Norbert hatte das Fischen von den Freunden seines Vaters gelernt. Jozo konnte sehr schnell ungeduldig werden und war niemals wirklich richtig zufrieden mit seinem einzigen Sohn gewesen, den er über Tage, Wochen oder auch Monate mit seinem typischen Schweigen bedachte.
Es war sonderbar, dachte Norbert nun, dass er sich nicht an einen einzigen Tag in seinem Leben erinnern konnte, an dem sein Vater auf ihn stolz gewesen zu sein schien. Er war als Kind ein guter Fußballspieler gewesen, doch Jozo hatte sich nicht ein einziges Spiel angesehen. Er war auch ein pflichtbewusstes Kind gewesen. Da seine Eltern beide arbeiteten, kam er von der Schule in ein leeres Haus, machte ihre Betten und seines, den Abwasch und deckte den Tisch. Sogar noch bei Tisch klagte der europäisch geprägte Vater, wenn er riesige Mengen Milch trank: »Wann hörst du endlich mit