Die Regulierung innovativer Finanzinstrumente. Thomas Weck
aufsichtsrechtlicher Gefahren weit vorgelagert ist. Dieses Konzept verfolgt offenbar auch der deutsche Gesetzgeber im nationalen Aufsichtsrecht.
Abweichend ist die Situation im Bereich des Wertpapierhandels. Denn die Verordnung 600/2014 (MiFIR) und das Wertpapierhandelsgesetz enthalten weit gefasste Aufgaben- und Befugnisnormen, welche die Behörden zum Eingreifen in Gefahrensituationen („Missständen“) ermächtigen.588 Diese Befugnisse werden in den besagten Rechtsakten in Bezug auf bestimmte Missstände weiter spezifiziert. Allerdings gibt es darin auch viele Regelungen, die Verhaltenspflichten vor allem im Verhältnis der Marktteilnehmer zueinander ausgestalten. Die Rechtsakte bilden damit ein zentrales Regelwerk sowohl für die ordnungsbehördliche Gefahrenabwehr als auch für die Gefahrenvorsorge.
IV. Aufbau dieses Kapitels
Dieses Kapitel der Untersuchung definiert die Perspektive, aus der heraus die Finanzmarktregulierung im Anschluss gewürdigt wird. Es geht hierbei – wie einleitend dargelegt wurde – von der Überlegung aus, dass das Aufsichtsrecht auf allgemeinen ordnungsrechtlichen Prinzipien basiert. Dies gilt trotz des Umstands, dass das Aufsichtsrecht mittlerweile Besonderheiten aufweist und dass die Notwendigkeit, es in die ordnungsrechtliche Systematik einzuordnen, zum Teil angezweifelt wird.
Auf dieser Basis soll im Folgenden zunächst genauer untersucht werden, was überhaupt die Schutzgüter sind, denen die aufsichtsrechtliche Gefahrenabwehr dient (Abschn. B). Außerdem soll herausgearbeitet werden, welche Merkmale eine Gefahr für diese Schutzgüter aufweisen muss, um einen aufsichtsrechtlichen Regelungsbedarf zu Zwecken der Gefahrenabwehr oder -vorsorge auslösen zu können (Abschn. C), und welche Grenzen auf Rechtsfolgeseite in dem Falle, dass aufsichtsrechtliche Maßnahmen getroffen werden, zu beachten sind (Abschn. D).
In einem weiteren Schritt soll das Finanzaufsichtsrecht von anderen Regelungsbereichen abgegrenzt werden. Dabei handelt es sich zum einen um andere Regelungsbereiche des Sonderordnungsrechts, in denen das Risiko – anders als auf den Finanzmärkten – nicht neutral, sondern stets im Zusammenhang mit Schadenspotenzialen gesehen wird, die mit der Verfolgung eines davon abtrennbaren Nutzens verbunden sein können (Abschn. E).589 Zum anderen handelt es sich um marktbezogene Regelungen, die Gefahren für die Funktionsfähigkeit der Märkte ohne zwingenden Risikobezug abwehren (Wettbewerbsrecht) oder die bestimmte Marktteilnehmer ungeachtet der Interessen anderer Marktteilnehmer schützen sollen (Verbraucherschutzrecht; Abschn. F).
Die Sinnhaftigkeit, der weiteren Untersuchung eine derart abgeschichtete Einordnung des Finanzaufsichtsrechts voranzustellen, mag sich dem Leser nicht ohne Weiteres erschließen. Sie wird aber deutlich, wenn man in Betracht zieht, welche Anforderungen das Aufsichtsrecht bei der Gefahrenvorsorge und der Gefahrenabwehr in der Rechtspraxis („im Ernstfall“) ganz konkret und zwingend erfüllen muss. Deshalb soll anhand der Finanzkrise 2008-2012 schließlich beispielhaft dargestellt werden, welcher Art die Situationen sind, in denen Transaktionen mit Finanzinstrumenten einen aufsichtsrechtlichen Regelungsbedarf auslösen (Abschn. G).
569 Siehe z.B. Fischer in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 107), Einf KWG, Rz. 1ff. (zur Bankenaufsicht); Körnert, ZHR 176 (2012), 96 (speziell zur Eigenkapitalregulierung); Koch, VW 2001, 1466 (zur Versicherungsaufsicht); Weber-Rey, ZGR 2010, 543 (allgemein) für einen Überblick. 570 Zum Charakter als Sonderordnungsrecht vgl. Gramlich in: R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 1, Berlin u.a., 1995, S. 421 (467) zur Bankaufsicht; Thiele, Finanzaufsicht, 1. Aufl. 2014, S. 477f.; Dreher in: Prölss/Dreher, Versicherungsaufsichtsgesetz, 13. Aufl. 2018, Einl. Rz. 33ff.; Schwark in: Schwark, Börsengesetz, 1. Aufl. 1976, Einl. Rz. 51ff., sowie Beck in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 3 BörsG, Rz. 1ff. zur Börsenaufsicht (dort jeweils auch zu Besonderheiten aufgrund des den Börsen zustehenden Selbstverwaltungsrechts); Dreyling/Döhmel in: Assmann/Schneider, WpHG, 5. Aufl. 2009, § 4 Rz. 2 – siehe aber, stärker differenzierend, nun auch Döhmel in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, § 6 WpHG, Rz. 1, 5, 7ff.; weiterhin siehe Giesberts in: Hirte/Möllers, Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 4 Rz. 19 (zur Wertpapieraufsicht; diese hat daneben einen „fördernden“ Charakter); Mülbert/Böhmer, WM 2006, 985 (995ff.: Annexkompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zur ordnungsrechtlichen Regulierung von Finanztermingeschäften). Zum Charakter des Gewerberechts als besonderes Ordnungsrecht siehe schließlich auch BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1976, 2 BvR 930/75, BVerfGE 41, 344 (355). 571 § 6 KWG, § 81 VAG i.V.m. §§ 146ff. VAG; § 5 Abs. 1 KAGB, § 6 (= § 4 a.F.) Abs. 1 WpHG, ferner zum Betrieb von Handelsplätzen § 3 Abs. 1 BörsG. 572 Siehe die in der vorigen Fn. zitierten Vorschriften; ferner § 139b Abs. 8 Nr. 6 GewO (zur Zulassung finanzgewerblicher Tätigkeiten) und z.B. § 12 OBG NW, § 61 Abs. 2 PolG BW (als Landesrecht). 573 Canzler/Hammermaier, AG 2014, 57 (zur Kapitalmarktaufsicht). Zum Begriff des Gewerbes siehe z.B. Tettinger/Enuschat in: Tettinger/Wank/Enuschat, Gewerbeordnung – GewO, 8. Aufl. 2011, Einl. Rz. 1. 574 Vgl. Zimmermann, GPR 2008, 38 (zur Kapitalmarktaufsicht). 575 Lang, ZBB 2004, 289 (293); siehe auch Assmann, AG 2015, 597 (601) zur Abgrenzung von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht (dort als „Verbandsrecht“ bezeichnet). 576 Siehe unten Kap. 5.A.II, insb. Abschn. II.2.a) (S. 246). 577 Siehe im deutschen Recht aber z.B. §§ 6 Abs. 2, 46 KWG. 578 Im Bereich des Verbraucherschutzes siehe z.B. Art. 7 VO 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 31 vom 1. Februar 2002, S. 1; dazu EuGH, Urteil vom 19. Januar 2017, C-282/15 – Queisser Pharma, ECLI:EU:C: 2017:26, Rz. 54ff.; zur Umsetzung in der deutschen Verbraucherpolitik z.B. Belz/Bilharz, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2005, 261 (265). Im Umweltrecht siehe Art. 191 Abs. 2 AEUV, Art. 20a GG; im Gesetzesrecht z.B. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG; dazu BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2003, BVerwG 7 C 19.02, BVerwGE 119, 329 (332f.); VGH BW, Urteil vom 8. Februar 2017, 5 S 1049/14, Rz. 36 (zit. nach Juris). 579 Siehe Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rz. 22ff.; Ossenbühl, NVwZ 1986, 161 (162). 580 Kloepfer (Fn. 579), § 4 Rz. 33ff. 581 Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), 113 (136ff.); Thiele (Fn. 570), S. 484; einschränkend Kaufhold, Systemaufsicht, 1. Aufl. 2016, S. 207f. Vgl. auch allgemein für das deutsche Gewerbeordnungsrecht: Wormit in: Pielow (Fn. 6), § 139b GewO Rz. 6; siehe auch näher unten Abschn. E.II (S. 196; zur Risikosteuerung). 582 Siehe ausführlich unten Abschn. E (S. 195) zur Abgrenzung von Finanzaufsichtsrecht und anderen Bereichen des Ordnungsrecht, in denen eine Gefahrenvorsorge vorgesehen ist. 583 G 20, Action Plan to Implement Principles for Reform, angehängt an: G 20, Declaration at the Summit on financial markets and the world economy, 15. November 2008, S. 3; abrufbar: https://www.g20.org/profiles/g20/modules/custom/g20_beverly/img/timeline/Washington/G20-declaration-washington-2008-en.pdf: „respond rapidly to evolution and innovation in financial markets and products“ (eigene Übersetzung). 584 Hochrangige Expertengruppe für Finanzaufsicht (The High-level Group on Financial Supervision in the EU), Bericht über die Finanzaufsicht in der EU (Larosière-Bericht), 25. Februar 2009; abrufbar: http://ec.europa.eu/finance/general-policy/docs/de_larosiere_report_de.pdf.