Kartellrechtliche Schadensersatzklagen. Fabian Stancke
sei die Einbeziehung von Ansprüchen nach Art. 102 AEUV in den Anwendungsbereich einer allgemein gefassten Gerichtsstandsklausel nicht überraschend und nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil die Klausel nicht explizit Schadensersatzklagen wegen eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht nennt.215
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Teilweise wird die Unterscheidung zwischen Art. 101 und 102 AEUV aufgrund der jeweils unterschiedlichen Deliktsnaturen als gerechtfertigt angesehen.216 Andere meinen, die Differenzierung sei jedenfalls mit der Begründung des EuGH nicht überzeugend. Auch ein Kartell i.S.v. Art. 101 AEUV könne sich im Inhalt des zwischen einem Kartellbeteiligten und seinem Vertragspartner abgeschlossenen Vertrags manifestieren.217 Feststeht jedenfalls, dass die Entscheidung einen klaren Bezug zu Art. 102 AEUV aufweist und daher die Rechtsprechung des EuGH zu Gerichtsstandsklauseln bei Art. 101 AEUV nicht berührt.
(3) Konsequenzen für die gerichtliche Praxis und offene Fragen
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Vorab ist zu beachten, dass die Bedeutung von Gerichtsstandsklauseln bei Kartellschadensersatzklagen geringer sein dürfte, als es zunächst erscheint. Denn Gerichtsstandsklauseln sind nur gegenüber Vertragspartnern und ihren Rechtsnachfolgern wirksam, weshalb sich Kartellteilnehmer nur begrenzt auf Gerichtsstandsvereinbarungen berufen können. Schon bei der gesamtschuldnerischen Inanspruchnahme durch einen Nicht-Abnehmer helfen sie nicht. Auch im regelmäßig anzutreffenden Fall der Weitergabe eines kartellbedingten Schadens innerhalb einer Lieferkette kann sich ein beklagter Kartellteilnehmer gegenüber Folgeabnehmern nicht auf eine Gerichtsstandsklausel berufen, weil diese nicht als Rechtsnachfolger des unmittelbaren Abnehmers klagen, sondern gegenüber dem Kartellteilnehmer einen Direktanspruch aus eigenem Recht geltend machen.218 Ebenso wenig kann sich ein Kartellteilnehmer im Falle einer Regressklage eines anderen Kartellteilnehmers auf eine Gerichtsstandsklausel berufen.
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Für die Praxis kann die folgende Differenzierung für kartellrechtliche Schadensersatzklagen festgehalten werden: Vorbehaltlich einer abweichenden Ausgestaltung der Klausel sind vertragliche Gerichtsstandsvereinbarungen auf kartellrechtliche Schadensersatzansprüche anwendbar, die sich auf eine Verletzung von Art. 102 AEUV, nicht aber auf solche, die sich auf einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV stützen.
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Sollen auch Letztere von Gerichtsstandsklauseln umfasst sein, müssen die weiten Standard-Gerichtsstandsklauseln („alle Ansprüche aus und im Zusammenhang“) angepasst werden. Es empfiehlt sich, etwaige kartelldeliktische Ansprüche mit aufzunehmen (ggf. durch einen „including but not limited to“-Zusatz wie: „einschließlich aber nicht beschränkt auf kartelldeliktische Schadensersatzansprüche“). Ob der Verwender einer solchen Klausel damit bereits seine eigene Täuschungsabsicht offenlegt, erscheint zweifelhaft.219 Dies gilt umso mehr, als der konkret kartelldeliktisch Handelnde in den allermeisten Fällen jemand anderes sein wird als derjenige, der den Vertrag samt Gerichtsstandsklausel geschlossen hat. Eng damit verbunden ist die Frage, ob nicht – konsequenter- und überzeugenderweise – auch weitere deliktische Ansprüche (Produkthaftung, Umwelthaftung usw.) in die Klausel mit aufgenommen werden sollten.
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Ungeklärt ist die Frage, wie es sich verhält, wenn in den vertraglichen Bedingungen bzw. den AGB pauschalierte Schadensberechnungen für Kartellschäden vorgesehen sind. Oder wenn die Vertragsvereinbarung einer oder beiden Parteien Compliance-Schulungen zur Verhinderung von Kartelldelikten auferlegt. In einem solchen Fall ließe sich auch nach der Auslegung des EuGH kaum argumentieren, dass den Parteien die Gefahr eines Kartelldelikts nicht vorhersehbar gewesen sei. Denn dann hätten sie entsprechende Klauseln nicht vereinbart. Konsequenterweise müssten dann auch nach Auffassung des EuGH die angesprochenen weiten Klauseln kartelldeliktische Ansprüche umfassen.
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Dem nachträglichen Abschluss von Gerichtsstandsvereinbarungen stehen ebenso wie der rügelosen Einlassung nach Art. 26 EuGVVO keine Wirksamkeitshindernisse entgegen.220
bb) Schiedsvereinbarungen
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In (grenzüberschreitenden) Lieferverträgen finden sich häufig Schiedsklauseln. Lieferant und Abnehmer einigen sich darauf, die staatliche Gerichtsbarkeit auszuschließen und einen alternativen Weg zur Streitbeilegung einzuschlagen. Beschreitet eine der Parteien (dennoch) den Rechtsweg zu einem staatlichen Gericht, kann die Gegenseite die Schiedseinrede erheben. Sofern eine wirksame221 Schiedsvereinbarung vorliegt, welche die konkrete Streitigkeit umfasst, ist die Klage von den staatlichen Gerichten gem. § 1032 Abs. 1 ZPO als unzulässig abzuweisen.
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Schiedsklauseln folgen in der Praxis regelmäßig Musterklauseln der jeweiligen Schiedsinstitution. Dabei lassen sich zwei Phänotypen von Schiedsklauseln unterscheiden: die häufigere sog. weite und die seltenere sog. enge Schiedsklausel. Von einer engen Schiedsklausel wird gesprochen, wenn vertragliche Streitigkeiten durch ein Schiedsgericht geklärt werden sollen. Beispiele für solche Klauseln sind Formulierungen wie:
– „Streitigkeiten aus diesem Vertrag“
– „any potential disputes regarding the performance or the interpretation of this Contract“
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Von weiten Schiedsklauseln spricht man, wenn das Schiedsgericht umfassender zur Entscheidung berufen ist. Beispiele für solche Klauseln sind Formulierungen wie:
– „alle Streitigkeiten aus oder in Zusammenhang mit diesem Vertrag“
– „all disputes arising out of or in connection with the contract“
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Die grundsätzliche Schiedsfähigkeit von kartellrechtlichen Schadensersatzstreitigkeiten ist inzwischen anerkannt.222 Das angerufene Schiedsgericht in einem Mitgliedstaat hat die wettbewerbsrechtlichen Normen in gleicher Weise wie das staatliche Gericht zu berücksichtigen. Dies ergibt sich für nationale Vorschriften aus der Bindung des Schiedsgerichts an das anwendbare Recht, für das europäische Wettbewerbsrecht aus der Stellung der Art. 101f. AEUV als Bestandteil des ordre public.223
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Mit Anerkennung der Schiedsfähigkeit dem Grunde nach geht jedoch noch nicht zwingend einher, dass jede Schiedsklausel stets auch kartellrechtliche Streitigkeit umfasst. Vielmehr muss eine Auslegung der Schiedsklausel den Schluss rechtfertigen, dass die Parteien auch Kartellrechtsstreitigkeiten vor Schiedsgerichten austragen wollten. Die Ermittlung der Reichweite einer Schiedsvereinbarung richtet sich dabei nach dem Recht des voraussichtlichen Schiedsorts (lex arbitri), wenn eine ausdrückliche oder konkludente Parteivereinbarung über das Schiedsstatut fehlt.224
(1) Reichweite und Auslegung von Schiedsvereinbarungen
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Aus deutscher Sicht ist eine Schiedsklausel anhand des (hypothetischen) Willens der Parteien beim Vertragsschluss auszulegen.225 Dabei gilt grundsätzlich, dass weite Schiedsklauseln auch deliktische Ansprüche umfassen, die in Anspruchskonkurrenz zu vertraglichen Ansprüchen stehen.226 Danach wären kartellrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Vertragspartner regelmäßig umfasst, weil bei einem Verstoß gegen Art. 101 AEUV regelmäßig auch ein konkurrierender Anspruch aus vertraglicher Pflichtverletzung und vorvertraglicher Aufklärungspflichtverletzung besteht.227 Andere begründen die Nähe zum Vertrag damit, dass einer Kartellvereinbarung erst durch ihre Durchführung in Folgeverträgen schädigende Auswirkungen zukommen. Ohne vertragliche Durchsetzung des kartellbedingt überhöhten Preises bliebe das Kartell „ja wirkungslos“.228
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Dagegen lässt sich vorbringen, dass Verstöße gegen Art. 101 AEUV nicht aus dem Lieferverhältnis folgen, sondern auf ein „Delikt einer außerhalb dieser Verhältnisse stehenden Kartellvereinbarung“