Gesellschaftsrecht II. Recht der Kapitalgesellschaften. Ulrich Wackerbarth
Gesellschaft rechtzeitig Insolvenzantrag zu stellen. Wird diese Pflicht verletzt, so bestehen im Gläubigerinteresse Schadensersatzpflichten der Geschäftsleitung, entweder in Form einer Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft, d.h. vom Insolvenzverwalter geltend zu machen (dazu Rn. 191 ff.), oder aber in Form einer unmittelbaren Außenhaftung gegenüber den Gläubigern (dazu Rn. 189 f.). Die bisherigen gesellschaftsrechtlichen Regelungen gem. §§ 64 Abs. 1 GmbHG, 92 Abs. 2 AktG wurden mit Wirkung zum 1.11.2008 aufgehoben und über den erwähnten § 15a InsO ins Insolvenzrecht verlagert. Diese Verlagerung in das Insolvenzrecht diente auch dazu, eine Anwendung der gläubigerschützenden Regeln des Kapitalgesellschaftsrechts auf Gesellschaften sicherzustellen, die in einer ausländischen Rechtsform gegründet, aber in Deutschland tätig sind.
c) Insoweit: keine Folgepflicht
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Für a) und b) gilt: die Geschäftsleitung darf sich, wenn sie durch einzelne Gesellschafter oder Beschlüsse der Gesellschafterversammlung zu einem Verstoß gegen diese Pflichten aufgefordert wird, diesen Aufforderungen oder Weisungen widersetzen, ohne ihre Treuepflicht zu verletzen. Wenn sie es nicht tut, so haftet sie der Gesellschaft im Interesse der Gläubiger auf Schadensersatz. Liegt dem Verstoß gegen die Pflichten allerdings ein entsprechender Beschluss der Gesellschafterversammlung zugrunde, so hat dieser immerhin eine Wirkung im Innenverhältnis: er befreit den Geschäftsleiter insoweit von seiner Haftung gegenüber der Gesellschaft, so dass der Geschäftsleiter von den Gesellschaftern verlangen kann, von seiner Haftung im Interesse der Gläubiger freigestellt zu werden!
a) Die Business Judgment Rule im amerikanischen Recht
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Soweit es nicht um die eben dargestellten besonderen Pflichten der Geschäftsleiter geht, sondern vielmehr um die alltägliche Geschäftsführung, haben die Geschäftsleiter zwar ebenfalls sorgfältig zu handeln. Doch ist ihr Spielraum für Entscheidungen hier deutlich weiter. Am besten kann man das anhand der aus dem amerikanischen Recht stammenden sog. Business Judgment Rule (BJR) erläutern. Nach amerikanischem Recht besteht nämlich die Regel, dass eine Entscheidung der Geschäftsführung sorgfaltsgemäß ist, wenn sie
– | in good faith, d.h. in gutem Glauben getroffen wird, |
– | auf Informationen basiert |
– | und im Interesse der Gesellschaft getroffen wurde. |
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Noch darüber hinaus besteht zugunsten der Geschäftsleiter eine Vermutung, dass sämtliche drei erforderlichen Elemente sorgfaltsgemäßen Verhaltens bei jeder Entscheidung vorgelegen haben. Kann diese Vermutung nicht im konkreten Fall widerlegt werden, so besteht keine Haftung der Mitglieder der Geschäftsleitung. Das ist der wesentliche Inhalt der sogenannten Business Judgment Rule (BJR).
b) Deutsches Recht
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Im deutschen Recht gilt letztlich das Gleiche wie in den Vereinigten Staaten, es wird aber etwas anders formuliert. Man lese dazu die Entscheidung des BGH im Fall ARAG/Garmenbeck.[18] Der Grundgedanke einer Einschränkung der Geschäftsleiterhaftung liegt in der Natur unternehmerischer Entscheidungen, nämlich den ihnen typischerweise innewohnenden Risiken. Der Richter soll nicht aus dem Eintritt eines Schadens auf seine schuldhafte Verursachung durch diejenigen zurückschließen, die zuvor entscheiden mussten und die Zukunft ja nur begrenzt vorhersehen können. Eigentlich eine einleuchtende Regel – oder? Das Problem ist nur, dass sich das einfacher schreibt (und liest) als es in der Praxis ist.
Beispiel:
Gewährt etwa der Vorstand einer AG einem Lieferanten einen ungesicherten Kredit, indem er Vorkasse für die gelieferten Waren leistet, dann kräht kein Hahn mehr danach, wenn die Lieferung anschließend tatsächlich eintrifft. Wird der Lieferant hingegen noch vor der Lieferung insolvent, so dass die Vorkasse verlustig geht, dann ist man schnell mit dem Vorwurf bei der Hand: „Das hättest Du, lieber Vorstand, doch vorhersehen müssen… Warum hast Du keine Sicherheiten verlangt?“ usw.
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Es ist also ganz wichtig, den Unterschied zwischen der sogenannten „Ex-ante-Perspektive“ und der „Ex-post-Perspektive“ zu verstehen. Der Richter handelt, wenn ihm ein Schadensfall zur Beurteilung vorgelegt wird, in Kenntnis eines tatsächlich eingetretenen Schadens. Er ist stets der Gefahr ausgesetzt, die Entscheidungssituation des Vorstands im Nachhinein wegen dieses Wissens verzerrt zu sehen. Seine nachträgliche Beurteilung leidet unter dem sogenannten hindsight bias, also der Gefahr einer verzerrten Wahrnehmung der Geschehensabläufe, wenn man sie erst aus der Rückschau und im Wissen um den Eintritt eines Schadens betrachtet.
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Wegen dieser Gefahr einer verzerrten Wahrnehmung besagt die Business Judgment Rule, dass der Richter gar nicht erst versuchen sollte, ex post zu beurteilen, wie der Geschäftsleiter ex ante hätte entscheiden sollen. Vielmehr soll er sich darauf beschränken zu untersuchen, ob der Geschäftsleiter sich ausreichend über die Gefahren der Entscheidung informiert hatte und die Entscheidung selbst nicht durch eigene Interessen des Geschäftsleiters unzulässig beeinflusst wurde. Die unternehmerische Entscheidung selbst aber wird – jedenfalls im amerikanischen Recht – gerade nicht überprüft.
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Das Urteil des BGH im ARAG/Garmenbeck-Fall hat den Gesetzgeber dazu veranlasst, die Business Judgment Rule nun auch im deutschen Aktiengesetz zu verankern. Dabei hat er ursprünglich geplant, die Haftung des Vorstands einer AG auf grob fahrlässiges Handeln zu beschränken. Eine solche Regelung ist glücklicherweise nicht Gesetz geworden. Die Geschäftsleitung haftet nicht nur dann, wenn sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt.[19]
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Es hängt vielmehr vor allem von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, welche Sorgfaltspflichten den Handelnden treffen. Nicht im Maß des Verschuldens, sondern in der Frage, welches die konkreten Anforderungen an den Handelnden waren, ist das Instrument einer Anpassung des Verschuldensmaßstabs an den Einzelfall zu sehen. Wichtiger als die neue Regelung sind daher zwei im deutschen Recht seit jeher geltende Rechtssätze, nämlich (1) dass aus dem Eintritt eines Schadens nicht auf die Pflichtwidrigkeit der schadenverursachenden Handlung zurückgeschlossen werden darf (§ 823 BGB, weil die Vorschrift eben Rechtsverletzung und Verschulden verlangt), sondern allenfalls auf die Kausalität einer Pflichtverletzung (§ 287 ZPO) für den eingetretenen Schaden. (2) Ferner ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Frage der Pflichtverletzung sich nach dem Zeitpunkt und den Umständen der Handlung oder Unterlassung des Vorstandsmitglieds bestimmt, nicht nach dem des Schadenseintritts. Aus diesen beiden Sätzen ergibt sich ebenso gut wie aus § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, dass es keine Erfolgshaftung der Geschäftsleitung für unternehmerische Entscheidungen geben kann.
c) Die Regelung der BJR in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG
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Mit der Regelung in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG (bitte lesen!) wird – ähnlich wie im amerikanischen Recht – der Entscheidungsfindungsprozess