Internationales Privatrecht. Klaus Krebs
Der tschechische Lebensmittelhändler L beauftragt den belgischen Handwerker H mit der Dachsanierung seines im deutschen Breisach gelegenen Einkaufsmarktes. Bevor der H vor vier Wochen vorübergehend ins französische Mulhouse zog, hatte er jahrelang in Salzburg gelebt und gearbeitet. Zwei Monate nach Abschluss der Arbeiten tropft es im Einkaufsmarkt von der Decke. Daraufhin verklagt L den H auf Nachbesserung. Nach welchem Sachrecht würden deutsche bzw. französische Gerichte das Bestehen eines solchen Anspruchs beurteilen?
Der Fall spielt im Internationalen Vertragsrecht. Das Kollisionsrecht dafür ist europäisch einheitlich durch die Rom I-VO geregelt, die dem nationalen IPR Frankreichs und Deutschlands vorgeht. Sowohl deutsche wie auch französische Gerichte würden daher Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO heranziehen. Danach unterliegen Dienstleistungsverträge (= Anknüpfungsgegenstand) dem Recht des Staates, in dem der Dienstleister seinen gewöhnlichen Aufenthalt (= Anknüpfungsmoment) hat. Der Vertrag über die Dachsanierung ist zwar nach deutschem Recht ein Werk- und kein Dienstvertrag, doch ist der Begriff des Dienstleistungsvertrages wegen seines europarechtlichen Ursprungs europäisch autonom und in diesem Sinne – Art. 57 AEUV entsprechend – weit auszulegen. Auch die Erbringung von Werkleistungen wird davon erfasst.[9]
Auf Rechtsfolgenseite kommt es bei Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO weder auf die tschechische Staatsangehörigkeit des L noch auf die belgische des H an (lassen Sie sich in der Klausur von solchen Angaben nicht verwirren). Allein der gewöhnliche Aufenthalt des H entscheidet über das anwendbare Recht. Als gewöhnlicher Aufenthalt des H kommt hier entweder das österreichische Salzburg oder das französische Mulhouse, wo der H seit vier Wochen lebt, in Frage. Doch wann kann von einem gewöhnlichen Aufenthalt gesprochen werden? Nach zwei Tagen? Nach zwei Jahren? Für Fragen dieser Art ist Wissen um die Auslegung der Anknüpfungsmomente erforderlich.
a) Staatsangehörigkeit
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Das häufigste Anknüpfungsmoment im EGBGB ist die Staatsangehörigkeit (vgl. z.B. Art. 7, 9, 13 Abs. 1, 24).[10] Zu den zahlreichen Vorteilen[11] dieser Anknüpfung gehören insbesondere die einfache Feststellbarkeit der Staatsangehörigkeit (steht in jedem Personalausweis) und ihre relative Kontinuität (die Staatsangehörigkeit wechselt eher selten). Vermittelt wird die Staatsangehörigkeit grundsätzlich entweder nach dem sog. ius soli (lat.: Recht des Bodens) durch Geburt innerhalb des jeweiligen Landes oder nach dem sog. ius sanguinis (lat.: Recht des Blutes) durch Geburt von einem Elternteil, der die jeweilige Staatsangehörigkeit besitzt. Welchem dieser beiden Grundprinzipien gefolgt wird, entscheidet jeder Staat grundsätzlich selbst.[12] Deutschland folgt in § 4 Abs. 1 S. 1 StAG im Grundsatz dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis), sieht aber innerhalb der engen Grenzen des § 4 Abs. 3 StAG auch den Staatsangehörigkeitserwerb nach dem ius soli vor.
Hinweis
In der Klausur wird die Staatsangehörigkeit der Personen in aller Regel vorgegeben sein.
Schwierigkeiten können sich bei Personen ergeben, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten (Doppel- bzw. Mehrstaater) oder gar keine Staatsangehörigkeit haben (Staatenlose).
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Hier hilft der allgemeine Teil des EGBGB weiter: Nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 kommt es bei Doppel- und Mehrstaatern allein auf die Staatsangehörigkeit desjenigen Staates an, mit dem die Person am engsten verbunden ist (sog. effektive Staatsangehörigkeit), insbesondere durch ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder durch den Verlauf ihres Lebens. Wenn jedoch eine der Staatsangehörigkeiten die deutsche ist, so erklärt Art. 5 Abs. 1 S. 2 unabhängig von der effektiven Staatsangehörigkeit immer die deutsche für maßgeblich.[13]
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Für Staatenlose kommt es nach Art. 5 Abs. 2 auf deren (gewöhnlichen) Aufenthalt an, doch ist die Vorschrift weitgehend durch Art. 12 des New Yorker UN-Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen[14] verdrängt, das in ähnlicher Weise den Wohnsitz des Staatenlosen für maßgeblich erklärt.[15]
Hinweis
Art. 5 Abs. 1 und 2 sind – typisch für den allgemeinen Teil des IPR – bloße Hilfsnormen, die als unselbstständige Kollisionsnormen bezeichnet werden. Sie führen im Unterschied zu den sog. selbstständigen Kollisionsnormen (Verweisungsnormen) im besonderen Teil (z.B. Art. 7 Abs. 1, 13 Abs. 1) nicht zu dem letztlich auf den Sachverhalt anwendbaren Recht, sondern helfen nur bei der Konkretisierung der Verweisungsnormen.[16]
b) Gewöhnlicher Aufenthalt, Wohnsitz
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Der gewöhnliche Aufenthalt ist das wichtigste Anknüpfungsmoment im europäischen Verordnungsrecht und taucht seit der Reform von 1986 auch im deutschen IPR mehrfach auf.
Unter gewöhnlichem Aufenthalt wird der Ort des Lebensmittelpunktes einer Person verstanden.[17]
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Um zu klären, wo eine Person ihren Lebensmittelpunkt hat, ist auf die familiären, beruflichen und freundschaftlichen Bindungen (kurz: die soziale Integration) abzustellen.[18] Dabei liefert v.a. die Aufenthaltsdauer als objektives Merkmal ein wichtiges Indiz. Es gibt zwar keine feste Frist, nach deren Verstreichen auf den gewöhnlichen Aufenthalt geschlossen werden kann; doch wird nach einer Faustregel ab einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten die Gewöhnlichkeit des Aufenthalts vermutet.[19]
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Andererseits kann auch schon nach kurzer Aufenthaltsdauer von einem gewöhnlichen Aufenthalt auszugehen sein, wenn der Aufenthaltswille (sog. animus manendi) auf ein dauerhaftes Verweilen abzielt.[20]
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Da es letztlich auf die soziale Integration ankommt, führen zeitweise Abwesenheit, etwa durch Reisen oder vorübergehende Studienaufenthalte, nicht zu einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts.[21] Nur der (sog. schlichte) Aufenthalt (vgl. etwa Art. 5 Abs. 2 a.E.; Art. 24 Abs. 1 S. 2), der allein auf die tatsächliche Anwesenheit ohne Anforderungen an die soziale Integration oder Verweildauer abstellt, wechselt in diesen Fällen.
Beispiel
Für das obige Beispiel (Rn. 32) bedeutet dies, dass H, der erst vier Wochen und nur vorübergehend in Mulhouse verweilt, zwar schlichten Aufenthalt in Frankreich hat, der gewöhnliche Aufenthalt aber weiterhin in Salzburg liegt, wo er jahrelang gelebt und gearbeitet hat. Im Ergebnis richtet sich der Nachbesserungsanspruch daher nach österreichischem Recht.
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Der Wohnsitz als Anknüpfungsmoment ist zwar nicht vollständig identisch mit dem gewöhnlichen Aufenthalt,[22] wird aber mitunter nach den gleichen Kriterien bestimmt und fällt meist mit ihm zusammen. Ob ein Wohnsitz begründet wurde, entscheidet die jeweilige Rechtsordnung, deren IPR angewendet wird (für das deutsche Recht: § 7 BGB).[23]
Hinweis
Während die nicht immer einfache Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts gelegentlich in Klausuren verlangt wird, ist der Wohnsitz meist vorgegeben.
c) Parteiwille
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Etliche Kollisionsnormen lassen zu, dass die Parteien das anwendbare Recht selbst wählen (z.B. Art. 3 Rom I-VO; Art. 14 Rom II-VO; Art. 5 Rom III-VO; Art. 22 EuErbVO; Art. 22 EuGüVO). Wenn von diesen Rechtswahlmöglichkeiten Gebrauch