Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden. Kurt E. Böhme
– Verbot nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage zu überholen – kann die Haftungsabwägung nach § 17 StVG dazu führen, dass die Betriebsgefahr des links abbiegenden Fahrzeugs vollständig hinter dem Verursachungsanteil des Motorradfahrers zurücktritt.[112]
d) Markierte Fahrstreifen
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Nach § 7 Abs. 3 StVO dürfen innerhalb geschlossener Ortschaften Pkw und Lkw bis 3,5 t auf Fahrbahnen mit mehreren markierten Fahrspuren auch ohne Verkehrsdichte den Fahrstreifen frei wählen und rechts schneller als links fahren. Fahrstreifen dürfen jedoch gem. § 7 Abs. 5 StVO nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.[113] Bei einer Kollision im Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel spricht der Beweis des ersten Anscheins für die Missachtung der Sorgfaltspflichten, die für den Spurwechsler gelten.[114] Fällt einer von zwei Fahrstreifen ohne Vorhandensein von Fahrstreifenmarkierung weg, so steht nach dem Reißverschlusssystem dem Fahrer, der sich auf dem weiterführenden Fahrstreifen befindet, Vorrang zu; erkennt er, dass sein Vorrang missachtet wird, muss er die Geschwindigkeit vermindern.[115] Das Fahrzeug, das sich auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindet, genießt Vorrang vor demjenigen, das sich auf dem blockierten Fahrstreifen dem Hindernis nähert. [116]
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Außerhalb geschlossener Ortschaften darf nach § 7 Abs. 2 StVO rechts schneller als links oder auf dem Mittelstreifen gefahren werden, wenn der Verkehr so dicht ist, dass sich auf dem Fahrstreifen für eine Richtung Fahrzeugschlangen gebildet haben. Eine Fahrzeugschlange liegt vor, wenn die einzelnen Kfz so nahe hintereinander fahren, dass der Abstand zwischen ihnen den gebotenen Sicherheitsabstand nicht wesentlich übersteigt. Dabei kommt es weniger auf die absolute Länge des Abstandes an als vielmehr darauf, dass bei natürlicher Betrachtung ein echter „Kolonnenverkehr“ vorliegt, also mehrere Fahrzeugreihen über eine längere Zeit nebeneinander fahren.[117] Dies gilt auch für BAB.
e) Überholen bei Gegenverkehr
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Mit dem Überholen darf nur begonnen werden, wenn sicher ist, dass es gefahrlos durchgeführt werden kann. Der Überholende hat bereits in hinreichendem Abstand von dem vorausfahrenden Kfz zu prüfen, ob er ohne Gefährdung oder auch nur Behinderung des Gegenverkehrs überholen kann.[118] Den Überholenden trifft die alleinige Haftung auch dann, wenn der Entgegenkommende gegen das Rechtsfahrgebot verstößt.[119] Ebenso, wenn ein Fahrer wegen Überholens eines Entgegenkommenden sein Kfz stark abbremsen muss und ins Rutschen gerät und mit dem fast wieder eingescherten Unfallgegner zusammenstößt.[120] Bei überhöhter Geschwindigkeit des Entgegenkommenden ist dessen Mithaftung anzunehmen.[121] Bei unklarer Verkehrslage (z.B. bei Straßenkrümmung) ist Überholen unzulässig.[122] Mit einem unbeleuchteten entgegenkommenden Kfz braucht der Überholer nicht zu rechnen.[123]
f) Sorgfalt des Überholenden
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Vor dem Ausscheren nach links muss der Fahrer sich durch einen Blick in den Rückspiegel vergewissern, dass er keinen von rückwärts nahenden schnelleren Verkehrsteilnehmer gefährdet.[124] Er darf nicht so knapp vor einem nach hinten kommenden schnelleren Kfz auf die Überholfahrbahn wechseln, dass dessen Fahrer sein Fahrverhalten nicht mehr darauf einstellen kann.[125]
Das Ausscheren zum Überholen und das Wiedereinordnen sind rechtzeitig durch Fahrtrichtungsanzeiger (§ 5 Abs. 4a StVO) anzukündigen.
Ein bereits eingeleiteter Überholvorgang ist bei unklarer Verkehrslage[126] oder angesichts einer ununterbrochenen Leitlinie abzubrechen.[127] Außerhalb geschlossener Ortschaften darf das Überholen durch kurze Schall- oder Blinkzeichen angekündigt werden.
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Der Abstand beim Überholen muss so groß sein, dass der Überholte nicht gefährdet wird. Auch bei erheblicher Geschwindigkeit dürfte ein Abstand von 1 bis 1,5 m grundsätzlich als ausreichend anzusehen sein.[128] Der Beweis des ersten Anscheins spricht für ein Verschulden des Überholenden, wenn dieser ohne ersichtlichen Grund mit dem zu überholenden Kfz kollidiert.[129]
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Wenn mehrere hintereinander fahrende Kfz überholen, so darf als Erstes dasjenige überholen, das sich dem Vordermann so genähert hat, dass er zwecks Überholens ausscheren muss.[130] Nicht stets ist dem Vorausfahrenden der Vortritt zum Überholen eines langsam fahrenden Fahrzeuges zu überlassen.[131] Das Vorrecht hat das Fahrzeug, das zuerst erkennbar und ordnungsgemäß zum Überholen ansetzt.[132] Hat ein Nachfolger ca. 3 Sekunden früher den Überholvorgang eingeleitet, so muss der Vordermann vom Überholen Abstand nehmen. Tut er es nicht, kann er vom „Nachfolgenden“ 1/3 seines Schadens ersetzt verlangen.[133]
Der Überholende muss seine Geschwindigkeit so einrichten, dass er sich noch rechtzeitig auf eine Richtungsänderung des zu Überholenden einstellen kann oder dass er vor einem unvorsichtig durch eine Lücke in der Kolonne „Hindurchfahrenden“ anhalten kann.[134]
Wer bereits nach einem leichtsinnig Überholenden auch überholt, kann dem Entgegenkommenden keine Mithaftung entgegenhalten.[135]
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Wer an einer „stehenden Autoschlange“ vorbeifährt, muss als Vorfahrtsberechtigter auf den Querverkehr achten, und zwar insbesondere auf erkennbare Verkehrslücken an Kreuzungen und Einmündungen.[136]
g) Sorgfalt des Überholten
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Der Überholte muss als langsam Fahrender rechts fahren (§ 2 Abs. 2 StVO). Während des Überholvorgangs muss er die Straße sorgfältig beobachten, um plötzlich auftauchenden Hindernissen gerecht werden zu können. Er darf seine Geschwindigkeit nicht erhöhen[137] und muss sie u.U. an geeigneter Stelle ermäßigen; notfalls warten, wenn nur so mehreren unmittelbar folgenden Kfz das Überholen möglich ist (§ 5 Abs. 6 S. 2 StVO). Er ist jedoch nicht verpflichtet, den äußeren rechten Rand seiner Fahrbahn einzuhalten, um vorschriftswidrige Manöver zu ermöglichen.[138] Kommt der Überholende von der Fahrbahn ab, spricht der Anscheinsbeweis keineswegs für ein Fehlverhalten des Überholten.[139] Ein leichtes Fehlverhalten des Überholten kann bei grob fahrlässigem Verhalten des Überholers unberücksichtigt bleiben.[140]
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Der Überholende braucht jedoch nicht damit zu rechnen, dass er durch den Überholten während des Überholvorgangs gefährdet wird, wenn er sein Überholvorhaben rechtzeitig angekündigt hat und einen ausreichenden Sicherheitsabstand einhält.[141] Das gilt auch, wenn der Überholte plötzlich stark nach links abweicht.[142]
Kommt der Überholte von der Straße ab, kann ihn eine Mithaftung von 30 % treffen.[143]
h) Zweitüberholung
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Schwere Unfälle ereignen sich insbesondere bei der Zweitüberholung im Schnellverkehr. Diese liegt vor, wenn ein Fahrzeug ein anderes überholt, das seinerseits ebenfalls ein Kfz überholt. Das Zweitüberholen ist grundsätzlich nicht verboten, jedoch ist der Zweitüberholende zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet.[144]
Zweitüberholung liegt nicht vor, wenn zwei entgegenkommende Kfz gleichzeitig ein vor