Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden. Kurt E. Böhme
Fahrer auf einer Autobahnabzweigung von der rechten auf die linke Fahrspur und fährt dann auf dieser mit geringer Geschwindigkeit, so verstößt er gegen das Rechtsfahrgebot.[216]
206
Auch bei Dunkelheit, Nebel, Schnee- und Eisglätte (s. Rn. 192 ff.) darf der Fahrer nur so schnell fahren, dass er innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten kann. Auf Hindernisse, die, gemessen an den jeweiligen herrschenden Sichtbedingungen, erst außergewöhnlich spät erkennbar werden, braucht der Fahrer seine Geschwindigkeit nicht einzurichten.[217] Fährt er auf ein unbeleuchtetes, langsam fahrendes Kfz auf, trifft ihn eine Mithaftung. Ebenso, wenn er auf ein querstehendes Kfz auffährt.[218] Fährt auf einer Steigungsstrecke ein Lkw mit 25 km/h, so muss der Fahrer den nachfolgenden Verkehr warnen oder in sonstiger Weise unfallverhütend reagieren.[219]
Wer auf der BAB einem Vorausfahrenden nachfährt, dessen Schlusslichter erkennbar sind, braucht nicht mit plötzlichem Auftreten von Hindernissen zwischen eigenem und vorausfahrendem Kfz (z.B. Reifen, Splitthaufen) zu rechnen. Der Nachfolgende ist nicht verpflichtet, den Abstand zu dem vorausfahrenden Kfz so zu wählen, dass er rechtzeitig vor einem durch den Vorausfahrenden zunächst verdeckten Hindernis anhalten kann, wenn dieser unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur wechselt.[220]
Gerät ein Fahrer bei leichter Unebenheit der BAB ins Schleudern, spricht dies für sein Verschulden.[221]
207
Bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h kann sich ein Fahrer nur dann auf Unabwendbarkeit berufen, wenn er nachweist, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.[222] Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Pkw auf der Autobahnzufahrt ins Schleudern gerät, nach links über die schraffierte Sperrfläche und sämtliche Fahrbahnen rutscht und auf der dritten Fahrbahn mit dem schnellfahrenden Kfz kollidiert.[223] Bei Unfällen im Hochgeschwindigkeitsbereich wird sich der Halter nach Ersetzung des Unabwendbarkeitsbeweises durch höhere Gewalt zwar nicht von der Haftung aus § 7 StVG entlasten können – er kann sich beim Innenausgleich jedoch in Ausnahmefällen – Nachweis der Unabwendbarkeit im oben beschriebenen Sinne – von der Ersatzpflicht befreien.
Eine erhebliche und unfallursächliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit führt zu einer erhöhten StVG-Haftung.[224] Wer durch eine an sich erlaubte Geschwindigkeit von 200 km/h einen Verkehrsunfall mitverursacht, hat allein wegen seiner Betriebsgefahr einen hohen Mithaftungsanteil zu tragen. Dies können 50 %[225] oder mehr[226] sein, wenn dem Unfallgegner ein Verschulden ebenfalls nicht nachzuweisen ist. Bei einer Geschwindigkeit von 160 km/h kann trotz erheblichen Verschuldens des Unfallgegners – unachtsamer Spurwechsel wenige Sekunden nach Einfahren auf die Autobahn – eine Mithaftung aus Betriebsgefahr angemessen sein.[227]
208
Überholen ist mit großer Sorgfalt durchzuführen.[228] Wer ohne sorgfältige Rückschau auf die Überholspur fährt und dadurch ein von hinten nahendes Kfz gefährdet, handelt grob fahrlässig.[229] Den Auffahrenden kann, insbesondere bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit eine Mithaftung treffen.[230] Ein Fahrer, der einen Vorausfahren- den durch zu schnelles und dichtes Auffahren bedrängt und mit dem Überholen beginnt, während der Vorausfahrende die linke Fahrspur noch nicht vollständig geräumt hat, haftet u.U. zu 100 %.[231] Ebenso kann die Betriebsgefahr eines Pkw, der einen Lastzug vorschriftsmäßig überholt, völlig zurücktreten, wenn ein Motorradfahrer nicht rechtzeitig in zumutbarer Weise reagiert und auffährt.[232] Andererseits kommt eine erhebliche Mithaftung in Betracht, wenn ein Lastzug, der 70 km/h fährt, mit 80 km/h überholt wird.[233]
Schert ein Lkw mit 80 km/h zum Überholen aus, so ist einem sich mit 140 km/h nähernden Pkw/Fahrer zuzumuten, sein Kfz leicht abzubremsen.[234] Nach § 4 Abs. 3 StVO müssen Lkw mit einem zulässigen Gesamtgewicht von über 3,5 t und Kraftomnibusse, wenn ihre Geschwindigkeit mehr als 50 km/h beträgt, stets von den Vorausfahrenden einen Mindestabstand von 50 m einhalten.
1. Kapitel Die Haftung des Kraftfahrzeughalters und -führers › V. Verhalten im Straßenverkehr › 13. Abbiegen (§ 9 StVO)
13. Abbiegen (§ 9 StVO)
209
Das Vorrecht des Längsverkehrs gegenüber den Abbiegern gehört, wie das Vorfahrtsrecht, zu den wesentlichen Grundlagen des Straßenverkehrs. Dies gilt auch für den Rechtsabbieger.[235]
210
Wer abbiegen will, muss dies rechtzeitig und deutlich ankündigen und hat dabei den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.[236] Unter Abbiegen ist auch das Einbiegen in ein Grundstück zu verstehen. Das Einbiegen aus einer Wendeschleife in den fließenden Verkehr ist einer Grundstücksausfahrt gleichzusetzen.[237] Muss der Fahrer eines überlangen (15,5 m) Gliederbusses die Gegenfahrbahn in Anspruch nehmen, wenn er einbiegen will, trifft ihn die besondere Sorgfaltspflicht, sofort anzuhalten, wenn Gegenverkehr auftaucht.[238] Muss der Abbieger zwei Gegenfahrspuren überqueren, so darf er erst dann einbiegen, wenn beide Fahrspuren frei sind.[239]
Die Ankündigung ist im Allgemeinen dann rechtzeitig, wenn die anderen Verkehrsteilnehmer sich auf die Absicht des Einbiegens in Ruhe einstellen können.[240] Von entscheidender Bedeutung ist die Zeitspanne, die zwischen der Zeichengebung und dem Abbiegen liegt.[241] Beim Linksabbiegen muss der Kraftfahrer in Rechnung stellen, dass hinter ihm fahrende Fahrzeuge mit größerer Geschwindigkeit fahren und das Richtungszeichen vielleicht nicht bemerkt haben.[242]Der Anscheinsbeweis bei einem Unfall mit einem Überholer spricht gegen den Abbieger[243] (s. auch Rn. 167).
211
Vor dem Abbiegen nach links ist der Fahrer eines Kfz verpflichtet, sich rechtzeitig bis zur Mitte der Straße, auf Fahrbahnen für eine Richtung möglichst weit links, einzuordnen. Diese Einordnungspflicht besteht schon bei einer Straßenbreite von 6 m.[244] Hat ein Fahrzeugführer sich zur Straßenmitte eingeordnet, so braucht ein nachfolgender Fahrer nicht damit zu rechnen, dass der Vorausfahrende ohne Fahrtrichtungsänderungsanzeige nach links abbiegt.[245] Etwas anderes kann bei Kolonnenfahrt im Stadtverkehr gelten.[246] Einen „Zweitüberholer“ trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht.[247]
212
Die Pflicht zur zweiten Rückschau vor Beginn des Linksabbiegens kann deshalb, abgesehen von den Fällen, in denen das Linksüberholen aus technischen Gründen unmöglich ist, nur dann entfallen, wenn ein Linksüberholen so grob verkehrswidrig wäre und daher so fern liegt, dass sich ein Linksabbieger trotz der von ihm geforderten höchsten Sorgfaltsstufe nicht darauf einzustellen braucht.[248] Nochmalige Rückschau auch stets dann, wenn der Fahrzeughalter unmittelbar vorher vom Straßenrand angefahren ist und sich gleich eingeordnet hat.[249] Abbiegen kurz nach Beginn einer unterbrochenen Leitlinie verpflichtet zur vorherigen nochmaligen Rückschau.[250] Die Haftung des Überholers kann sich auf 1/3 belaufen, wenn der Linksabbieger die Fahrtrichtungsanzeiger betätigt und sich bis zur Mitte einordnet, er aber die zweite Rückschau versäumt hat.[251] Kam der Linksabbieger seiner doppelten Rückschaupflicht nicht nach und setzte der andere Unfallbeteiligte trotz unklarer Verkehrslage zum Überholen an, kann eine hälftige Haftung gerechtfertigt sein.[252]
213
Beim Abbiegen in ein Grundstück muss sich der Fahrzeugführer darüber hinaus so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist (§ 9 Abs. 5 StVO).[253] Der Haftungsmaßstab wird dadurch nochmals erhöht.[254] Der in ein Grundstück Einbiegende trägt regelmäßig für das damit verbundene Verkehrsgeschehen allein die Verantwortung.[255]