Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden. Kurt E. Böhme
Es kann aber grundsätzlich darauf vertraut werden, dass derjenige, der einer abknickenden Vorfahrtsstraße folgt, die damit verbundene Richtungsänderung anzeigt.[326] Der Fahrer, der dem Verlauf einer nach links abknickenden Vorfahrtsstraße nicht folgt, sondern geradeaus weiterfährt, hat in dem gesamten Kreuzungsbereich Vorfahrt gegenüber dem von rechts kommenden Verkehr.[327] Sind bei einer Kreuzung zwei Straßen durch die vorgeschriebene Beschilderung zu einer abknickenden Vorfahrtstraße verbunden, so gilt für die beiden anderen Straßen der Grundsatz „rechts vor links“; die in ihnen aufgestellten Wartegebotszeichen regeln lediglich die Wartepflicht in Bezug auf die abknickende Vorfahrt.[328]
e) Kreuzungen
230
Ein Wartepflichtiger muss an jede unübersichtliche Kreuzung mit einer Geschwindigkeit heranfahren, die ein rechtzeitiges Anhalten gestattet.[329] Kann er an unübersichtlichen Straßenstellen nicht übersehen, ob er den Vorfahrtsberechtigten behindert oder nicht, so darf er sich in die Kreuzung hineintasten, bis er die Übersicht hat (§ 8 Abs. 2 StVO). Zum „Kreuzungsbereich“ s. Rn. 221 f.
231
Bei Kreuzungszusammenstößen spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass die Vorfahrt schuldhaft verletzt worden ist, nicht aber dafür, dass der Unfall für den Vorfahrtsberechtigten unabwendbar war. Konnte das Herannahen des Vorfahrtsberechtigten nicht rechtzeitig erkannt werden, kann der Anschein entfallen.[330]
232
An einer Kreuzung gleichberechtigter Straßen ist die Geschwindigkeit so einzurichten, dass vor einem von rechts kommenden und damit bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer rechtzeitig angehalten werden kann. Fährt der Fahrer zu schnell, so kann sich der von links in die Kreuzung einfahrende Wartepflichtige auf diese verkehrswidrige Fahrweise berufen,[331] und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich von der einen oder anderen Seite ein Fahrzeug naht.[332] Kann er jedoch an einer Kreuzung gleichberechtigter Straßen, also bei „halber Vorfahrt“, in die von rechts einmündende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen und nähert sich von dort kein Fahrzeug, demgegenüber er wartepflichtig wäre, so braucht er seine Geschwindigkeit noch nicht herabzusetzen, wenn die Sicht in die von links einmündende Straße versperrt ist.[333]
233
Der auf einer Vorfahrtstraße an einer Kolonne gestauter Fahrzeuge Vorbeifahrende muss auch als Vorfahrtsberechtigter auf Querverkehr achten, und zwar insbesondere auf von ihm erkennbare Verkehrslücken an Kreuzungen und Einmündungen.[334]
f) Kreisverkehr
234
Ist an der Einmündung in einem Kreisverkehr Zeichen 215 (= Kreisverkehr) unter Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren) angeordnet, hat der Verkehr auf der Kreisbahn Vorfahrt (§ 8 Abs. 1a StVO). Bei der Einfahrt in einen solchen Kreisverkehr ist die Benutzung des Fahrtrichtungsanzeigers unzulässig. Der Beweis des ersten Anscheins spricht grundsätzlich für einen Vorfahrtsverstoß des Verkehrsteilnehmers, wenn sich die Kollision in seinem Einmündungbereich ereignet hat.[335]
g) Seitenstraßen
235
Ein aus einer Seitenstraße kommender Fahrer ist grundsätzlich berechtigt, in die bevorrechtigte Straße einzufahren, solange er auf dieser kein Kfz herankommen sieht.[336] Eine Vorfahrtsverletzung ist dann nicht gegeben.[337]
Ein Wartepflichtiger, der wegen der Straßenführung die auf der Vorfahrtstraße herannahenden, von einem vorausfahrenden Fahrzeug verdeckten Verkehrsteilnehmer nicht sehen kann, muss mit dem Einbiegen in die bevorrechtigte Straße nach rechts solange warten, bis er den Verkehrsraum dort ausreichend übersehen kann. Er kann sich nicht darauf verlassen, dass hinter einem die Sicht verdeckenden Fahrzeug keine Verkehrsteilnehmer zum Überholen ansetzen.[338]
236
Der Fahrer eines landwirtschaftlichen Gefährts bzw. eines schwerfälligen Fahrzeugs, der außerorts nach links in eine bevorrechtigte Straße einbiegen will, die bis zu einer 80 m entfernten Kurve einsehbar ist, braucht bei normalen Lichtverhältnissen keinen Einweiser. Kann er wegen der Kurve einen auf der Vorfahrtstraße Herannahenden nicht sehen, so erlischt das Vorfahrtsrecht des Herannahenden. Die beiderseitigen Verhaltenspflichten richten sich nach § 1 StVO. Der Einbiegende muss jedoch i.d.R. anhalten, sobald ein auf der Vorfahrtstraße Herannahender für ihn sichtbar wird. Den Einbiegevorgang darf er nur dann fortsetzen, wenn er nach der Verkehrslage darauf vertrauen kann, dass er die Fahrbahn für den Herannahenden rechtzeitig frei machen kann.[339]
h) Feld- oder Waldwege
237
Das Vorfahrtsrecht „rechts vor links“ gilt nicht für Fahrzeuge, die aus einem Feld- oder Waldweg auf die Straße kommen. Für den Wegbenutzer besteht Wartepflicht. Eine volle Haftung des Einfahrenden[340] kommt nicht immer in Betracht. So braucht, wer mit seinem Kfz aus einem Waldweg kommend nach links in die bevorrechtigte Straße einbiegen will und nach dort eine Sicht von 75 m hat, keinen Einweiser. Insbesondere braucht er i.d.R. nicht damit zu rechnen, dass ein sich ihm von links nähernder Fahrer die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/h um 30 km/h überschreiten werde.[341]
238
Entscheidendes Kriterium für die Einstufung eines Weges als Feld- oder Waldweg ist seine Verkehrsbedeutung, gegenüber der das äußere Erscheinungsbild und die Art der Wegbefestigung zurücktreten.[342] So hat ein für alle Kfz gesperrter Weg die Bedeutung eines Feld- oder Waldweges.[343] Bei nicht eindeutiger Vorfahrtsregelung ist vom Fahrer von der für ihn ungünstigeren Rechtsbedeutung auszugehen.[344]
i) Grundstücksausfahrt/Überführte Zufahrt/Verkehrsberuhigte Straße
239
Nach § 10 StVO hat, wer aus einem Grundstück, aus einem Fußgängerbereich, aus einem verkehrsberuhigten Bereich auf die Straße oder von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren will, sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen.
Äußerlich erkennbare Merkmale und die Verkehrsbedeutung sind dafür maßgebend, ob ein Weg als ein öffentlicher Verkehrsgrund oder als Grundstücksausfahrt anzusehen ist.[345] Bei Ausfahrten aus Grundstücken ist die Grundregel des § 10 StVO zu beachten. Muss der Verkehr abbremsen oder ausweichen, so handelt der Ausfahrende verkehrswidrig.[346] Bei Vorliegen besonderer Umstände, so z.B. Länge und Schwerfälligkeit eines Fahrzeugs, ist ein Einweiser heranzuziehen. Die Wartepflicht des Ausfahrenden besteht auch gegenüber einem Radfahrer.[347] Der Grundsatz, dass der Wartepflichtige, dem die Sicht verwehrt ist, in die Straße hineinfahren darf, bis er Einblick in sie gewinnt, gilt nicht beim Herausfahren aus einem Grundstück.[348]
j) Verkehrsampeln/Polizeibeamte
240
Die Verkehrsregelung durch Farbzeichen (Verkehrsampeln) dient dazu, an besonders verkehrsreichen Kreuzungen den Geradeaus- und den Abbiegeverkehr zu regeln. Die Ampelanlage schützt den Verkehr hinter dem roten Lichtsignal. Wer also die Ampel „umfährt“ (z.B. über einen Parkplatz), verstößt nicht gegen den Schutzzweck des § 37 StVO.[349] Ein Fahrer, der nach links in eine bevorrechtigte Straße einbiegen will, darf darauf vertrauen, dass der von rechts Herannahende