Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden. Kurt E. Böhme
1. Kapitel Die Haftung des Kraftfahrzeughalters und -führers › V. Verhalten im Straßenverkehr › 15. Vorfahrt (§ 8 StVO)
a) Grundsätze
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An Kreuzungen und Einmündungen gilt der Grundsatz „rechts vor links“. Dieser wird durch Verkehrszeichen (z.B. Zeichen 205 und 206 zu § 41 StVO, bzw. 301 oder 306 zu § 42 StVO), Verkehrsampeln (§ 37 StVO) und Weisungen eines Polizeibeamten (§ 36 StVO) durchbrochen. Er gilt nicht nur auf öffentlichen Straßen, sondern auch im Bereich der der Öffentlichkeit zugänglichen Verkehrsflächen.[295]
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Die Vorfahrt erstreckt sich auf die gesamte Breite der bevorrechtigten Straße.[296] Das Vorrecht gilt auch für die linke Fahrbahnseite des Bevorrechtigten, gleichwie, aus welchem Grund er sie befährt.[297] Das Rechtsfahrgebot des § 2 StVO dient in erster Linie dem Schutz des Gegenverkehrs und der Erleichterung des Überholens. Ein Verstoß gegen dieses Gebot lässt das Vorfahrtsrecht nicht entfallen, führt jedoch zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr.[298]
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Zwar bildet grundsätzlich das sog. „Einmündungsviereck“ den Vorfahrtsbereich. Eine Vorfahrtsverletzung kann aber auch gegeben sein, wenn Kfz sich nicht im eigentlichen Kreuzungs- und Einmündungsbereich begegnen und dort kollidieren, sondern auch, wenn ihre Fahrlinien infolge der Vorfahrtsverletzung außerhalb des Kreuzungs- und Einmündungsbereichs einander tangieren oder bedrohlich nähern und dadurch der Vorfahrtsberechtigte in seiner Weiterfahrt behindert wird.[299] Bei einer trichterförmig erweiterten, vorfahrtberechtigten Einmündung hat der Linksabbiegende berechtigte Vorfahrt auf der gesamten, bis zu den Endpunkten des Trichters erweiterten Fahrbahn der Vorrechtsstraße.[300] Die Wartepflicht gilt bis zur vollständigen Eingliederung des Wartepflichtigen auf der Vorfahrtstraße.[301] Die Vorfahrtsregel greift auch ein, wenn ein Verkehrsteilnehmer in eine nach rechts abzweigende Straße einbiegt, von der ein anderer Verkehrsteilnehmer kommt, um nach links einzubiegen (§ 8 Abs. 2 S. 4 StVO).[302]
Kommt es nach dem Einbiegen in die bevorrechtigte Straße dort zu einer Kollision mit dem bevorrechtigten Verkehr, spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine Vorfahrtsverletzung des Einbiegenden.[303]
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Das Vorfahrtsrecht ist bereits dann verletzt, wenn der Wartepflichtige den Vorfahrtsberechtigten an der zügigen Weiterfahrt hindert und zu gefährdenden Maßnahmen veranlasst.[304] Wird z.B. der Vorfahrtsberechtigte zum starken Bremsen gezwungen, so liegt eine Vorfahrtsverletzung auch dann vor, wenn er gar nicht mehr bis an die Kreuzung gelangt, sondern infolge Schleuderns vorher verunglückt.[305]
Das Vorfahrtsrecht wird nicht verletzt, wenn der Wartepflichtige mit dem Einfahren in die Vorfahrtstraße beginnt und der Vorfahrtberechtigte – z.B. wegen einer Kuppe – noch nicht sichtbar war. Hier gilt die Grundregel des § 1 StVO.[306]
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Wer auf seine Vorfahrt verzichtet, schafft eine atypische Verkehrslage, die ihn zu erhöhter Vorsicht gegenüber Nachfolgenden zwingt.[307] Der Wartepflichtige darf von einem Vorfahrtsverzicht des Berechtigten nur ausgehen, wenn dieser in unmissverständlicher Weise den Verzicht zum Ausdruck bringt; auf ein betätigtes Blinklicht und deutlich verminderte Geschwindigkeit darf er vertrauen.[308] Jedoch kann aus dem Betätigen der Lichthupe oder Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers ohne weitere Anhaltspunkte nicht auf einen Vorfahrtsverzicht geschlossen werden.[309]
b) Vertrauensgrundsatz
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Nach dem Vertrauensgrundsatz[310] kann der Vorfahrtsberechtigte sich darauf verlassen, dass sein Vorrecht beachtet wird.[311] Kommt es im Bereich einer Einmündung oder Kreuzung zu einem Verkehrsunfall, spricht der Anscheinsbeweis für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Wartepflichtigen.[312] Der Vorfahrtberechtigte darf an Kreuzungen und Einmündungen mit gleich bleibender Geschwindigkeit vorbeifahren.[313] Andererseits darf ein Wartepflichtiger darauf vertrauen, dass ein rechts blinkender Vorfahrtsberechtigter auch nach rechts abbiegt.[314] Einen mit überhöhter Geschwindigkeit (s. Rn. 228) oder bei Dunkelheit oder Nebel fahrenden Vorfahrtsberechtigten kann eine Mithaftung treffen.[315]
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Selbst verkehrswidriges Verhalten eines anderen räumt den Vertrauensgrundsatz nicht ganz allgemein aus, sondern nur insoweit, als entweder aus dem Verhalten des anderen eine generelle Verkehrsuntüchtigkeit erkennbar ist oder gerade in Bezug auf den begangenen Fehler eine damit zusammenhängende weitere Verkehrswidrigkeit erwartet werden muss.[316] Der Vorfahrtsberechtigte hat sich auf solche Verkehrswidrigkeiten anderer einzustellen, die er rechtzeitig wahrnimmt oder bei gebotener Aufmerksamkeit hätte wahrnehmen können bzw. mit denen zu rechnen er bei verständiger Würdigung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassung hat. Dies z.B. wenn ihm die Gefährlichkeit der Kreuzung bekannt ist.[317] Ebenso, wenn sich der von rechts aus einer Einmündung kommende Wartepflichtige wegen schlechter Einsichtmöglichkeit in die vorfahrtsberechtigte Straße so verhält, dass für einen aufmerksamen Verkehrsteilnehmer erkennbar mit einer Missachtung der Vorfahrt zu rechnen ist.[318] Wenn der Vorfahrtsberechtigte erkennt oder erkennen kann, dass der Wartepflichtige ihm die Vorfahrt nicht einräumt, darf er nicht auf seine Vorfahrt pochen, sondern muss zur Abwendung eines Zusammenstoßes erforderliche Maßnahmen treffen.[319]
c) Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtsberechtigten
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Bei Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit kann den Vorfahrtsberechtigten eine Mithaftung treffen. Sein Vorrecht geht aber grundsätzlich nicht deshalb verloren, weil er mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr.[320] Der Umfang der Mithaftung richtet sich in erster Linie nach den jeweiligen Verkehrsverhältnissen.[321] Hierbei ist nicht auf die durch Bremsung verminderte Auffahrgeschwindigkeit, sondern auf die Ausgangsgeschwindigkeit abzustellen.[322] Bei extrem überhöhter Geschwindigkeit ist der Anschein für ein schuldhaftes Verhalten des Wartepflichtigen erschüttert.[323]
Bei überhöhter Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten ist für dessen Mithaftung darauf abzustellen, ob der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt der kritischen Verkehrssituation für ihn vermeidbar gewesen wäre. Kann der Wartepflichtige dazu keine Angaben machen, weil er das bevorrechtigte Fahrzeug vor der Kollision schlicht nicht gesehen hat, geht dies zu seinen Lasten.[324] Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann. Auf den Vertrauensgrundsatz kann sich grundsätzlich nur der Verkehrsteilnehmer berufen, der sich selbst regelgerecht verhält, dagegen nicht derjenige, der sich selbst über Verkehrsregeln hinwegsetzt, die auch dem Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer dienen.[325]
d) Abknickende Vorfahrt
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Bei abknickender Vorfahrt muss der Vorfahrtsberechtigte, der dem Verlauf folgen will, dies rechtzeitig und deutlich ankündigen und dabei den Fahrtrichtungsanzeiger benutzen (§ 42 Abs. 2 StVO – Zusatzschild zu Zeichen 306 „Vorfahrtsstraße“). Zwar muss der in eine solche Vorfahrtsstraße Einfahrende in gewissem