Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
Raymond Odent zeigen. Odent, Präsident der section du contentieux des Conseil d’État (für Rechtsprechung zuständige Sektion des Conseil d’État) stellt der „Rigidität des geschriebenen Rechts“ als Ursache von Versteinerung die Flexibilität des Richterrechts als Urheberin von „Fortschritt“ gegenüber. Dieser Ansatz klingt wie ein Echo auf die Arbeiten von Laferrière, der im Verwaltungsrecht aufgrund der „Fülle der Texte, der Vielfalt ihrer Ursprünge und ihrer fehlenden Abstimmung untereinander“ die Rechtsprechung für unentbehrlich hält, da „nur sie allein dauerhaften Prinzipien und kontingenten Bestimmungen Rechnung tragen, eine Hierarchie der Texte etablieren und dort, wo diese Lücken aufweisen, unklar oder unzureichend sind, durch Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien oder Billigkeitserwägungen Abhilfe schaffen kann“.[33] Aus der Feder zweier herausragender Mitglieder des Conseil d’État stammend, sind beide Äußerungen Stützen eines Programms, das die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Schaffung des Verwaltungsrechts herausstellt.[34] Mit anderen Worten: Die Kodifikationsidee erscheint als Bedrohung der historisch gewachsenen und akzeptierten Rolle der Rechtsprechung bei der Ausgestaltung des französischen Verwaltungsrechts.
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Die Gegenüberstellung einer Erzeugung von Verwaltungsrecht durch Normtexte und durch Rechtsprechung, der mutmaßliche Niedergang seines richterrechtlichen Charakters sowie die Vorstellung, dass die Kodifizierung den Richter zu einer Autorität ohne Macht mache, sind jedenfalls angreifbar. Dennoch nähren diese Annahmen (noch) die Vorbehalte gegen eine Kodifizierung des Verwaltungsrechts. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach der Reichweite der Befugnisse des Verwaltungsrichters und mit ihr die Frage nach der Stellung des Conseil d’État aufgeworfen.
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Als ein wesentlicher Erzeuger (sowohl in der beratenden als auch in der rechtsprechenden Funktion) und als wichtigster Interpret des Verwaltungsrechts sieht sich der Conseil d’État tatsächlich in doppelter Hinsicht gestört: einerseits durch das Inkrafttreten von Normen, auf deren Entstehung er kaum Einfluss genommen hat (weil sie supranationalen Ursprungs sind oder auf den Gesetzgeber oder das Verfassungsrecht zurückgehen), andererseits durch die Konkurrenz der europäischen Richter (die Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg) und des Conseil constitutionnel auf nationaler Ebene. Dies führt zu einer Neuausrichtung der Quellen des Verwaltungsrechts. Auch wenn diese Neuausrichtung die traditionelle Rolle der Rechtsprechung keineswegs in Frage stellt, führt sie beim Betrachter doch zu Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Aufbau der Normen und der Methode, die angewendet werden muss, um ein Rechtsgebiet zu erfassen, das, um nur ein Beispiel zu nennen, weiterhin die Wiederbelebung der Kodifikationsidee forciert.[35] Die Entwicklungen in diesem Bereich wirken destabilisierend und deuten auf die Notwendigkeit der Erneuerung bestehender oder der Entwicklung neuer Analysewerkzeuge auf Seiten der Rechtswissenschaft hin. Am wichtigsten aber sind die Harmonisierung der Quellen des Verwaltungsrechts mit denen der anderen Rechtsgebiete und die Schließung der Kluft zwischen den Quellen und Methoden des öffentlichen Rechts und des Privatrechts.
bb) Anpassungen der Verwaltungsrechtsprechung
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Der Dualismus der Gerichtsbarkeiten, der der Verwaltung einen besonderen Richter gibt, der lange Zeit der hauptsächliche Erzeuger von Verwaltungsrecht war, hat sich in der französischen Rechtslandschaft etabliert, vor allem dank seiner Fähigkeit, sich den demokratischen Anforderungen anzupassen. Die gerichtliche Bindung der Verwaltung an das Recht resultiert aus der ständigen Erweiterung der Kontrollinstrumente und der Ausdehnung des Kontrollumfangs. Seit zwanzig Jahren ist die Verwaltungsrechtsprechung nun auf nationaler Ebene demokratischen Anforderungen und auf supranationaler Ebene den Anforderungen des Straßburger Gerichtshofs ausgesetzt, der Druck auf ihre Organisation, ihre Funktionsweise und ihre Rechtsprechung ausübt.
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Die Langsamkeit der Verwaltungsrechtsprechung wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits sanktioniert. Unter Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 1 EMRK hat der Gerichtshof Frankreich mehrfach wegen unangemessener Verzögerung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen verurteilt.[36] Diese Entscheidungen haben verschiedene Reformen angestoßen, die zu einer Reduzierung der durchschnittlichen Verfahrensdauer auf ein Jahr geführt haben. Die damaligen organisatorischen Reformen der Verwaltungsgerichtsbarkeit haben den Conseil d’État an die Spitze der Verwaltungsgerichtsbarkeit gesetzt. Seine doppelte Funktion wurde gewahrt, so dass er als Berater der Exekutive und seit der Verfassungsänderung vom Juli 2008, wenn auch eher beiläufig, als Berater des Parlaments an der Entwicklung des Rechts mitwirkt.[37] Derzeit ist die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit[38] folgendermaßen aufgebaut: Eingangsinstanz sind die 1953 eingerichteten tribunaux administratifs (Verwaltungstribunale).[39] Ihre Urteile können vor den 1987 eingerichteten cours administratives d’appel (Verwaltungsberufungsgerichte) mit der Berufung angefochten worden.[40] Die Berufungsurteile wiederum können Gegenstand eines recours en cassation (Revision) vor dem Conseil d’État sein. Der Conseil d’État hat sich daneben im Zuge der Reformen bestimmte weitere Zuständigkeiten als Eingangs-, Berufungs- und Schlussinstanz bewahrt.[41] Die letzte Umgestaltung der Gerichtsordnung (1987) ist zudem Ausgangspunkt einer Verbesserung der Verwaltungsrechtsprechung gewesen, die sich an der in diesem Rechtsgebiet außergewöhnlichen Beschleunigung der Reformen ablesen lässt: Ermächtigung zu Anweisungen gegenüber der Verwaltung (injonctions) und zur Verhängung von Zwangsgeldern (astreinte), Einführung von Eilverfahren (procédures d’urgence) u.a. Dazu gehören auch rechtliche Fortschritte, die auf Initiativen der Richter zurückgehen. Drei Beispiele sind in dieser Hinsicht bedeutend. Zunächst kann das allgemeine Interesse die vorübergehende Aufrechterhaltung der rechtlichen Wirkungen eines Verwaltungsakts nach seiner Aufhebung erzwingen, ohne dass dadurch das Prinzip außer Kraft gesetzt würde, nach dem ein aufgehobener Verwaltungsakt so zu behandeln ist, als hätte es ihn nie gegeben. Der Verwaltungsrichter kann folglich die zeitlichen Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung unter bestimmten Voraussetzungen ändern.[42] Diese Entwicklung ist Teil einer allgemeinen Veränderung der Rolle des Verwaltungsrichters, der jetzt der tatsächlichen Durchsetzung seiner Entscheidung und den insoweit zur Verfügung stehenden Mitteln größere Aufmerksamkeit schenkt. Auch schenkt der Verwaltungsrichter der Kontrolle der Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit internationalen Vereinbarungen („conventionnalité“) größere Aufmerksamkeit:[43] Zum einen prüft er die Vereinbarkeit französischen Rechts mit Unionsrecht (Verträge und all- gemeine Grundsätze des Unionsrechts entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union) und die Frage, ob es einen dem als verletzt gerügten Verfassungsgrundsatz entsprechenden Grundsatz des Unionsrechts gibt. Ist dem so, hat er zu prüfen, ob die Richtlinie gegen Primärrecht verstößt. Existiert hingegen im Unionsrecht kein dem geltend gemachten Verfassungsgrundsatz entsprechender Grundsatz, hat der Richter zu prüfen, ob die streitige Regelung mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht. Zum anderen hat der Conseil d’État anerkannt, dass der nationale Gesetzgeber für Gesetze verantwortlich ist, die gegen internationale Verpflichtungen Frankreichs verstoßen, insbesondere solche aus der Europäischen Menschenrechtskonvention.[44] Schließlich dehnt der Verwaltungsrichter die Kontrolle der Verwaltung auf zwingende Vorgaben des Europarechts aus. So hat sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit für eine Beschränkung verwaltungsinterner Maßnahmen (mesures d’ordre intérieur) eingesetzt, vor allem im Bereich des Strafvollzugs. In Fortentwicklung der Entscheidungen Hardouin und Marie aus dem Jahre 1995[45] wurde in mehreren Entscheidungen – unter ihnen auch die des Conseil d’État vom 14.12.2007[46] – anerkannt, dass bestimmte Entscheidungen im Strafvollzug, die die Situation der Häftlinge betreffen, belastend sind und daher im Wege des recours pour excès de pouvoir angegriffen werden können. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass für die Frage, ob eine bestimmte Entscheidungskategorie im Bereich des Strafvollzugs dem verwaltungsinternen Bereich zuzuordnen ist oder nicht, ihre Natur und die Bedeutung ihrer Auswirkungen maßgeblich sind.
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